Sicherheit in der afrikanischen Philosophie und Geistesgeschichte


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2005

12 Seiten


Leseprobe


Sicherheit in der afrikanischen Philosophie und Geistesgeschichte

Von Jacob Emmanuel Mabe (Berlin/Douala)

1. Lebenskraft und Sicherheit in der oralen Tradition

Kaum ein anderes Thema erhält in den Gesellschaften Afrikas einen so großen Raum wie das der Sicherheit. Letztere wird insbesondere in mündlichen Traditionen meist als Gefühl hoher Qualität, d.h. lebensnotwendiges Bedürfnis aufgefasst, das man allerdings weniger mit materiellen Gütern als mit spiritueller Energie befriedigen kann, die negativen Eingriffen in das menschliche Leben entgegenwirkt. Diese Energie, die auch als Lebenskraft bezeichnet wird, verkörpert zudem alle im Menschen ständig wirkenden immateriellen Kräfte, die nicht nur gute Gesundheit, Ausgeglichenheit, Zufriedenheit und damit Sicherheit verschaffen, sondern auch das innere Vertrauen vermitteln, dass man nichts zu fürchten hat. Es gibt tatsächlich Menschen in Afrika, die an die Existenz solcher Kräfte glauben, die vor unnatürlichem Tod und unheilbaren Krankheiten schützen sowie gegen Hexerei und magische Angriffe, welche seelisches und leibliches Leiden verursachen können, immun machen. Doch mit dem Glauben an die positive Wirkung der Lebenskraft geht eine nahezu maßlose Dominanz des Spirituellen über den Besitz von materiellen Gütern (Geld, Vermögen, Nahrung, Wohnen, Kleidung etc.) einher.

Diese primär auf mündliche Traditionen zurückgehende Auffassung von Sicherheit hat großen Einfluss sowohl auf die Ethnophilosophie als auch auf andere wissenschaftliche Disziplinen, die sich mit traditionellen Mythen und Lebensregeln befassen. Was die Lebenskraft angeht, wird ihre Wirkung in der oraltraditionellen Metaphysik als ein transzendentes Moment interpretiert, wobei sich die Seele zwischen sinnlicher und übersinnlicher, jenseitiger und diesseitiger Sphäre bewegt. Diese Art der Assoziation von Lebenskraft und Sicherheit mag mystisch erscheinen, sie ist dennoch keineswegs dem Aberglauben zuzuschreiben. Im Gegenteil, sie hat rationale Grundlagen.

Abgesehen davon liefert diese Konzeption von Sicherheit den Beweis, dass das Empfinden von Bedürfnissen im traditionellen Afrika keine bloße Projektion der Emotionen auf das soziale und kulturelle Leben, sondern vielmehr ein mit dem geistigen Leben verbundener Akt war und immer noch ist. Die daraus erwachsenden Ideen haben die integrative Funktion, das Verlangen nach Sicherheit so in den Lebensprozess einzubinden, dass der Schutz des Individuums denjenigen der Gemeinschaft einschließt.

Zudem erklärt sich der Rationalitätsanspruch des oraltraditionellen Sicherheitsdenkens mit dem Argument, dass Sicherheit nicht als ein Bedürfnis aufgefasst wird, das bloß auf Gefühlen wie Angst, Einsamkeit, Trauer, Macht- und Ratlosigkeit etc. beruht, sondern vielmehr als Notwendigkeit, vernünftig zu denken, um sein Leben zu erhalten. Gerade die Konfrontation mit den Umständen der irdischen Existenz nötigt den vernunftbegabten Menschen nötigt, von seiner Lebenskraft (und nicht Zauberkraft) sowie von seinem übersinnlichen oder transzendenten Vermögen Gebrauch zu machen. Die Vernunft hat dabei die Funktion, die Sensibilität des Menschen so zu steigern, dass er Mensch seine Lebenskraft spürt und dementsprechend betätigt.

Doch es wird auch behauptet, die dem Menschen eigene Sensibilität genüge nicht, um das Maß seiner Lebenskraft zu erkennen, geschweige denn bei zu geringer Lebenskraft kompensatorische Kräften zu finden, um das geistige und körperliche Leistungsvermögen zu stärken. Es mag sein, dass der Mensch seine Sicherheitsautarkie durch Aufhebung oder Kompensation seiner spirituellen Energieinsuffizienz erlangen kann. Es gibt leider keine einzige oraltraditionelle Lehre, die rational erklärt, was Lebenskraft ist und wie man in deren Besitz gelangt.

Richtig wäre, dass man durch genaue Kenntnisse der Naturgesetze, die man durch die Methode der Initiation, Inspiration und Mediation erwirbt, die Verbindung mit dem Jenseits herstellen könne. In der Oraltradition spricht man in diesem Fall vom Kontakt mit immateriellen Wesenheiten, nämlich den Ahnen, die angeblich die Wechselbeziehung zwischen dem Jenseits und dem Diesseits bestimmen. Dabei werden die Ahnen als Mittler zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt, Lebenden und Toten angesehen. So sind vermutlich Ahnen-Gedenkfeste entstanden, bei denen die Menschen durch besondere spirituelle Zeremonien versuchen, den Beistand der Verstorbenen herbeizurufen.

Andere Völker in Afrika praktizieren keinen Ahnenkult, betrachten dennoch ihre verstorbenen Verwandten als Schicksalsgefährten, die trotz ihrer Unsichtbarkeit nicht nur bei ihnen stets präsent sind, sondern sie vor jeglichem Unsegen schützen. Suchen manche Menschen oft Wahrsager, Orakel, Hellseher und Visionäre auf, so wollen sie durch ihre Vermittlung die abgerissene Verbindung mit den Ahnen wiederherstellen. Das Tragen von Talismanen, Amuletten, Baumrinden und sonstigen Schmuckstücken aus Gold, Silber oder Diamanten wird hingegen mit der Absicht verknüpft, den Zugang des Bösen zu verhindern und damit ein leidloses Leben ohne unmittelbare Wirkung einer Lebenskraft zu erreichen.

Bei den in weiten Teilen Afrikas noch praktizierten Ahnen-Gedenkfesten, die die Begegnung zwischen Verstorbenen und Lebenden symbolisieren, werden die Toten aufgerufen, um bei ihren lebenden Nachkommen ständig präsent zu sein sowie für ihre Sicherheit zu sorgen. Doch der Ahnenglaube verdankt seine bleibende Bedeutung in Afrika den vielfältigen mit der Moderne verbundenen Malaisen auf allen kulturellen und gesellschaftlichen Gebieten. Dort haben Individualismus, Egoismus, Geld- Macht- und Ruhmgier, Luxus, persönliches Prestige etc. den Zerfall von traditioneller Sitte und Moral verursacht. Daraus sind zwei nahezu unversöhnliche antagonistische Entwicklungen hervorgegangen: Einerseits eine Art explosionsartige Rückkehr des Aberglaubens als Folge der moralischen Erosion und eine rapide Wiederkehr des Spirituellen bei den einen sowie ein leidenschaftliches Streben nach ihm bei den anderen. Gerade die Dominanz des Spirituellen weist nach, dass nicht alle Afrikaner der moralischen Perversion zum Opfer gefallen, sondern vielmehr ihren ethischen und metaphysischen Traditionen treu geblieben sind. Nicht zuletzt verweist die Spiritualität auf das nostalgische Streben sowohl nach der Nähe der Ahnen als auch nach Harmonie. Denn Sicherheit ist für die meisten Afrikaner nur dann erreicht, wenn ein Mensch in Harmonie mit sich selbst sowie mit seiner Um- und Mitwelt lebt.

Zu den spirituellen Hinterlassenschaften der oralen Tradition zählen u.a. die Rituale, die Bräuche sowie die in den verschiedenen Sprachen dokumentierten Lebensregeln, die seit Generationen dem metaphysischen, ethischen, kosmologischen, logischen und ästhetischen Denken und Verhalten der afrikanischen Völker zugrunde liegen. Es sind die wichtigsten Indizien der afrikanischen Geisteswelt, die zeigen, dass Leben für die vergangenen Generationen nicht bloß als Zufallsprozess, sondern vielmehr als ein mit freier Willensentscheidung verbundener Bewusstseinsakt aufgefasst wurde. Das oraltraditionelle Erbe mag auf ungeschriebenen Lehrmeinungen beruhen, sie stellt jedoch eine wesentliche Quelle dar, ohne die eine vollständige oder adäquate Erschließung des Sicherheitsdenkens in Afrika nicht möglich sein kann.

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Details

Titel
Sicherheit in der afrikanischen Philosophie und Geistesgeschichte
Autor
Jahr
2005
Seiten
12
Katalognummer
V64377
ISBN (eBook)
9783638572132
ISBN (Buch)
9783638793223
Dateigröße
525 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sicherheit, Philosophie, Geistesgeschichte
Arbeit zitieren
PD Dr. Dr. Jacob Emmanuel Mabe (Autor:in), 2005, Sicherheit in der afrikanischen Philosophie und Geistesgeschichte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64377

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