Wege zum Objekttheater


Magisterarbeit, 2004

122 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Theoretische Wege zum Objekttheater: Drei Ansätze
1.1 Die Loslösung von der traditionellen Form: Die Vorgeschichte des Objekttheaters nach Hans Hoppe
1.1.1 Grundbegriffe
1.1.2 Die traditionelle Form
1.1.3 Widersprüche und ihre Aufhebung
1.1.4 Schicksalsrequisiten und Tücke des Objekts
1.1.5 Verdinglichung als inhaltliche Bedingung
1.1.6 Die Entstehung der neuen Form
1.1.7 Objekte in Aktion
1.2 Objekttheater als Form des Figurenspiels: Werner Knoedgen und das unmögliche Theater
1.2.1 Figurentheater: Darstellung mit materiellen Mitteln
1.2.2 Die Formen des Figurentheaters
1.2.3 Objekttheater und Materialtheater
1.2.4 Die Rollendarstellung
1.2.5 Zwei Beispiele: Tuch und Stock
1.2.6 Zusammenfassung
1.3 Das Objekttheater als Bildzeichentheater: Peter Weitzners ästhetische Standortbestimmung
1.3.1 Visuelles Theater und Objekte als Bildzeichen
1.3.2 Die Rolle der Zeit
1.3.3 Der Mensch als Kunstfigur
1.3.4 Die Objekttypen und ihre theatrale Funktion
1.3.5 Das Theater des Unbekannten
1.4 Zwischenergebnis: Grundelemente des Objekttheaters

2 Praktische Wege zum Objekttheater:Eigene Erfahrungen im Studio Spiel und Bühne
2.1 Erstes Beispiel: Die Inszenierung movens
2.1.1 Wahl des Materials und Experimente
2.1.2 Endgültige Spieltechnik: Magneten
2.1.3 Grundelemente der Inszenierung
2.1.4 Zur Objektwahl nach Knoedgen und Weitzner
2.1.5 Zur Inszenierung
2.1.6 Zusammenfassung
2.2 Zweites Beispiel: Die Inszenierung oo
2.2.1 Objekte und Experimente
2.2.2 Grundelemente
2.2.3 Ergebnis: Drei Varianten
2.2.4 Zusammenfassung
2.3 Drittes Beispiel: 176 x 178
2.3.1 Der Stock als Figur
2.3.2 Stock und Körper
2.3.3 Eigene Experimente
2.3.4 Die Bewegung
2.3.5 Das Ergebnis
2.3.6 Zusammenfassung

3 Fazit

4 Literaturliste

5 Verzeichnis der Inszenierungen, Abbildungen und Filme

Einleitung

Der Begriff Objekttheater wird in verschiedensten Zusammenhängen erwähnt. Die Internet-Suchmaschine Google findet zur Zeit 8050 Seiten, in denen das Wort vorkommt. Eine einheitliche Verwendungsweise dieses Begriffs ist nach der Überprüfung der ersten zehn angezeigten Webseiten jedoch nicht festzustellen. Manchmal wird es mit Musik und Tanz in einem Atemzug erwähnt, ein anderes mal auf das Puppentheater bezogen. Auch Nachschlagewerke helfen nicht weiter. In den verschiedenen Theaterlexika sucht man vergeblich nach einem Eintrag.1 Und im Verzeichnis lieferbarer Bücher von 2004 findet sich nur ein einziger Titel zu diesem Thema: Peter Weitzners Buch Objekttheater.2 Aber auch in diesem Buch heißt es, daß es für den Begriff „keine wissenschaftliche Definition gibt“3. Das Wort scheint also schleierhaft.

Was ist mit dem Begriff Objekttheater gemeint? Lässt sich ein Oberbegriff finden? Was sind die wesentlichen darstellerischen Mittel? Mit welchen Kriterien muß dieses spezielle Theater untersucht werden? Auf welchen Wegen kann ein Theaterstück dieser Gattung erarbeitet werden? Wovon geht ein solches Stück aus? Diese Fragen sollen in dieser Arbeit untersucht werden.

Dabei gehe ich nicht nur von ästhetischen Theorien aus, sondern auch von eigenen Erfahrungen mit dem Objekttheater, die ich im Studio Spiel und Bühne, des Fachbereiches Kunst in Osnabrück gemacht habe. Es werden also theoretische und praktische Aspekte herangezogen, um das Phänomen des Objekttheaters zu umgrenzen. In diesem Sinne könnte die Grundfrage der Arbeit so formuliert werden: Welche theoretischen und welche praktischen Wege führen zum Objekttheater?

Die Arbeit gliedert sich daher in zwei Teile. Der erste Teil beschäftigt sich mit theoretischen Annäherungen an das Objekttheater (Kap.1). Dabei geht es erstens um die geschichtlichen Vorbedingungen dieser speziellen Theaterform, die Hans Hoppe aufgezeigt hat (1.1). Zweitens wird eine nähere Bestimmung der Gattung Objekttheater versucht. Ausgangspunkt sind hier die Überlegungen von Werner Knoedgen, der das Objekttheater als Form des Figurentheaters versteht (1.2). Drittens wird Peter Weitzners Auseinandersetzung mit dem Objekttheater herangezogen, die von praktischen Erfahrungen ausgeht und auch Hinweise und praktische Tipps für Theatermacher enthält (1.3).

Die Erkenntnisse und Begrifflichkeiten, die im ersten Teil herausgearbeitet werden, werde ich im zweiten Teil mit Erfahrungen aus eigenen Inszenierungen konfrontieren (Kap.2). Dabei werde ich auf die Arbeitsweise im Studio Spiel und Bühne des Faches Kunst an der Universität Osnabrück eingehen, die meine eigene geprägt hat, und drei Fallbeispiele heranziehen: die Inszenierung movens, das Stück oo sowie die Arbeit 176x178. Wie bin ich bei meiner Arbeit vorgegangen, und wie lassen sich die Endergebnisse klassifizieren? Lassen sie sich wirklich so scharf voneinander abgrenzen? Ich werde jeweils den Weg von der Inszenierungsidee, über Materialwahl und Experimente bis hin zur fertigen Aufführung aufzeigen. Auf welche Schwierigkeiten bin ich bei der Inszenierungsarbeit gestoßen?

Abschließend sollen die Ergebnisse der beiden Teile kurz miteinander verglichen werden. Inwiefern entsprechen die theoretischen Analysen zum Objekttheater der praktischen Arbeit an Stücken dieser Form? Was läßt sich mit den gewonnenen Begriffen verständlich machen? Dabei ist es insgesamt nicht der Anspruch der Arbeit, eine „Definition“ der Gattung des Objekttheaters zu finden. Es soll vor allem nicht bestimmt werden, was „reines Objekttheater“ sein muß. Das heißt, es wird eher eine Näherung versucht. Die wichtigsten Merkmalen, im Sinne von Symptomen, sollen herausgearbeitet werden. Dabei wird auch sichtbar werden, daß zwischen ästhetischer Theorie und künstlerischer Praxis auch einige Spannung besteht.

1 Theoretische Wege zum Objekttheater: Drei Ansätze

In diesem Teil der Arbeit werden verschiedene theoretische Standpunkte zum Objekttheater aufgezeigt. Bei der Auswahl der Theorien habe ich mich auf drei Autoren beschränkt: Hans Hoppe, Werner Knoedgen und Peter Weitzner.

Die Arbeit von Hoppe zeichnet sich dadurch aus, daß sie ganz gezielt den Übergang der Verwendungsweise der Gegenstände im Theater als Requisiten bis hin zum gleichberechtigten Spielpartner beschreibt. Hoppe tut dies aus der Sicht eines Theaterwissenschaftlers und anhand ausgewählter Theatermacher. Das Aufzeigen der geschichtlichen Entwicklung ist nötig, um die Differenz von Schauspiel und Objekttheater klarer herauszustellen. Gleichzeitig können so einige der erforderlichen Kriterien für die Beschreibung der darstellenden Künste entwickelt werden (1.1).

Mit anderen Kriterien versucht Werner Knoedgen, der zweite Autor den ich ausgewählt habe, die Gattung Objekttheater zu fassen, indem er ihre Besonderheiten im Zusammenhang von Figurentheater und Materialtheater beschreibt. Während Hoppes Analyse sich auf Schriftstücke der jeweiligen Theatermacher beschränkt, kann Knoedgen von praktischen Erfahrungen aus der eigenen Arbeit als Figurenspieler und Dozent ausgehen. Seine praktischen und theoretischen Untersuchungen werden für die Bestimmung des Objekttheaters, das Knoedgen als Untergattung des Figurentheaters versteht, aufschlussreich sein (1.2).

Drittens beschäftige ich mich mit Peter Weitzner, der ebenfalls von Erfahrungen aus der praktischen Inszenierungsarbeit ausgeht. Weitzner erläutert in seinem Buch Objekttheater die für ihn relevanten Elemente des szenischen Spiels mit Objekten. Dabei entwickelt er schließlich auch praktische Tipps für die Erstellung einer Inszenierung, wobei er auf jegliche Vollständigkeit verzichtet. Seine Analyse kann als Versuch einer ästhetischen Standortbestimmung der Objekttheaterkunst aufgefaßt werden (1.3).

Da jeder Autor verschiedene Begrifflichkeiten nutzt, müssen sie für eine weitere Verwendung durch eine Gegenüberstellung geklärt und vereinheitlicht werden. Die wichtigsten Begriffe werden abschließend zusammengefaßt, so daß sich eine Basis für den zweiten Teil der Arbeit ergibt (1.4).

1.1 Die Loslösung von der traditionellen Form: Die Vorgeschichte des Objekttheaters nach Hans Hoppe

Um die Vorbedingungen des Objekttheaters kennenzulernen, ist Hans Hoppes Schrift Das Theater der Gegenstände hilfreich.4 In seinem Buch untersucht Hoppe die Entwicklung der Verwendungsweise von Objekten in der Geschichte des Theaters. Ich werde mich in diesem Abschnitt auf den Unterschied der Funktion von Requisiten im traditionellen Schauspiel und Objekten im neueren Theater konzentrieren. Dabei wird herauszufinden sein, wie Hoppe das „Theater der Gegenstände“ vom „Theater der Menschen“5 unterscheidet und an welchen Darstellungsformen sich diese Unterschiede feststellen lassen. Welche Widersprüche entdeckt Hoppe? Wie kommt es zu diesem Formwandel?

1.1.1 Grundbegriffe

Um die Entwicklung des Theaters in seiner konkreten Form darzustellen und theoretisch zu erfassen, ist es nach Hoppes Meinung nötig, zunächst eine allgemeine Bestimmung der Kunstform Theater zu versuchen, um später spezielle Ausprägungen zu beschreiben. Dabei will Hoppe vor allem die Differenz der „szenischen Aktion“6 zum literarisch verstandenen Schauspiel im Sinne Aristoteles’ festhalten. Unter diesen Kriterien wurde „das Theater als‚ eine visuelle Form der Literatur‘ lediglich vom Drama her begriffen und an dessen Formprinzipien gemessen.“7 Dieses Theater war daher „durch Normen einseitig auf den sprachlichen Ausdruck festgelegt“8. Durch die Abgrenzung von dieser Tradition soll „Raum geschaffen werden für einen wissenschaftlichen Begriff, der das Theater nur in seinen konkreten Formen und diese wiederum nur in ihrem historischen Wesen und Ursprung begreift.“9

In diesem Sinne geht Hoppe davon aus, daß der wesentliche Betrachtungsgegenstand des Rezipienten, also des Zuschauers im Theater „die bedeutungstragende, körperlich gegenwärtige Aktion im szenischen Raum, d.h. die optisch-akustische Raumbewegung der wie auch immer gearteten Aktionsträger“10 ist. Das Theater läßt sich daher „nicht als Raumkunst, wie die Plastik, nicht als Zeitkunst, wie die Dichtung, sondern als optisch-akustische Raum-Zeitkunst“11 fassen. Dieser theaterwissenschaftliche Begriff des Theaters versucht damit als Einheit zusammenzufassen, was ansonsten nach formalen Gesichtspunkten zu unterscheiden versucht wurde.

Für die theatertheoretische Betrachtung versucht Hoppe die dialektische Konzeption des Form-Inhalt-Verhältnisses, die Hegel in die Ästhetik einführte, fruchtbar zu machen.12 Hegels Kunstbegriff beinhaltet ein ausgewogenes Verhältnis von Form und Inhalt und sieht darin das Ideal eines Kunstwerkes.13 Dieses Modell überträgt Hoppe auf die Raum-Zeitkunst des Theaters bzw. die „konkrete Form der szenischen Aktion“.14 Diese ist Hoppe zufolge ihrer Form nach durch zwei Hauptpunkte bestimmt: zum einen durch die Beschaffenheit der Aktionsträger und zum anderen durch die Beschaffenheit der Aktion.15 Die Beschaffenheit des Aktionsträgers, also des Spielers, versteht Hoppe als die Form der szenischen Aktion. Mit Inhalt ist die Beschaffenheit seiner Aktion gemeint. Zwischen diesen beiden Elementen ergibt sich die Möglichkeit eines Widerspruchs. Aber um das Kriterium des wahrhaften Kunstwerks zu erfüllen, entsteht die Notwendigkeit, diesen Widerspruch aufzuheben. Damit wird die szenische Aktion nicht an literaturwissenschaftlichen Kriterien gemessen wie es in der Tradition des Aristoteles der Fall ist: „Zum Kriterium des wahrhaften Kunstwerks wird die vollkommene Identität von Inhalt und Form. Das was der Inhalt an Form und die Form an Inhalt in sich tragen, muß einander entsprechen und eine Einheit bilden.“16

Eine dialektische Bewegung findet nach Hoppe „nicht nur im Prozeß der Entstehung des einzelnen Werks, sondern auch im der historischen Prozeß des Entstehens bestimmter Formen in den verschiedenen Kunstbereichen“17 statt. Hegels Dialektik setzt sich grob aus einer These, einer Antithese und der sich daraus ergebenden Synthese zusammen. Die These ist eine Behauptung. Die Antithese die Negation dieser Behauptung. In der Synthese wird der Widerspruch zwischen These und Antithese „aufgehoben“ in einem dreifachen Sinn: einmal wird er bewahrt, dann ist er nicht mehr gültig und schließlich wird er in eine höhere Ebene erhoben.18 Dieses Modell ist nach Hoppe auch für die Entwicklung des Theaters gültig. Aber um Widersprüche zu entdecken, muß es vorab eine Grundform (eine These) geben von der abgewichen werden kann. Für Hoppe ist die „traditionelle Form szenischer Aktion“ eine solche Grundform, die es erst zu bestimmen gilt.

1.1.2 Die traditionelle Form

Mit dem Begriff „traditionelle Form szenischer Aktion“ bezeichnet Hoppe das traditionelle Schauspiel bzw. das „Sprechtheater“, das sich während „der geistigen Emanzipationsbewegung des Menschen, die den Übergang vom Mittelalter zur Renaissance kennzeichnet“, entwickelte.19 Die Inhalte dieser geschichtlichen Phase fanden hier „ihre angemessene szenische Ausdrucksmöglichkeit“.20 Die traditionelle Form gab den Theateraufführungen bis ins 20. Jahrhundert hinein eine „grundsätzliche Gemeinsamkeit“21.

Ein wichtiges Merkmal der traditionellen Form ist nach Hoppe, daß das subjektive, menschliche Moment in diesem Theater dominiert. Man könne es daher auch als ein Theater der Menschen bezeichnen.22 Seit der Renaissance entwickelte sich ein anderes Selbstbewußtsein des Menschen, ein Bewußtsein „innerweltliche[r] Autonomie“23, das dazu führte, daß der Mensch sich nicht mehr als gottesuntergeben verstand, sondern als Wesen in einem eigenen, weltlichen Lebenszusammenhang. Das hat nach Hoppe Folgen für das Theater. „An die Stelle der szenischen Vergegenwärtigung einer göttlichen Überwirklichkeit tritt die szenische Gegenwart der empirischen Wirklichkeit; an die Stelle der kultischen Maske und des religiösen Symbols tritt die menschliche Gestalt mit ihren natürlichen Ausdrucksmöglichkeiten.“24 Sowohl Form als auch Inhalt werden durch die Erfahrung der Besonderheit des eigenen Lebens bestimmt, das gleichzeitig in Beziehung zu anderen Menschen steht. Die szenische Aktion findet hier daher vor allem zwischen Menschen statt, die miteinander kommunizieren und körpersprachlich aufeinander eingehen. Hoppe zieht damit folgendes Fazit: „Die traditionelle Form definiert sich damit als die szenische Aktion von und zwischen menschlichen Gestalten des autonomen beziehungsweise des nach Autonomie strebenden Subjekts. [...] Einzig das, was sich ihm als menschliches Gegenüber und im menschlichen Gegenüber manifestiert, erscheint dem Menschen noch bedeutungsvoll.“25

Welche Stellung haben nun Gegenstände im herkömmlichen Sprechtheater eingenommen? Nach Hoppe seien die vorhandenen Objekte vor allem als Teil der gegenständlichen Umwelt zu verstehen. Die These lautet: „Die traditionelle Form kennt den Gegenstand nur als passives Aktionselement, als Requisit, das dem Willen und der Handhabung des Menschen unterworfen ist.“26 Gegenstände dienen hier den Zwecken des Menschen oder sinnbildlich als Bedeutungsträger, so Hoppe. Sie nehmen „nur eine „Mittel- und Mittlerstellung zwischen Mensch und Mensch ein“.27 Vor allem fungiert der Gegenstand noch nicht „als szenisch autonomer Aktionsträger oder Gegenspieler des Menschen“28. Als Requisit ist der Gegenstand also sozusagen noch kein eigenständiges Objekt.

Ähnliches läßt sich für die Funktion des Raums sagen. Hoppe weist darauf hin, daß dieser ebenfalls eine zweitrangige Bedeutung für die traditionelle Form hat, er ist einfach eine „räumlich-gegenständliche Umgebung“.29 Das heißt, der Raum ist für sich genommen neutral. Was für ein Raum es ist, wird ganz allein durch das jeweilige Schauspiel oder die Art der menschlichen Aktion bestimmt: „Der neutrale Bühnenraum kann generell alle vom Stück geforderten Orte der Welt bedeuten. Erst die jeweilige menschliche Szene gibt ihm die Bedeutung eines bestimmten Ortes.“30 Und so gibt es auch keine Wechselwirkung zwischen Raum und Schauspieler: „Der menschliche Aktionsträger kann zu dieser Umwelt in keine direkte szenische Beziehung treten; auch eine Einwirkung beider aufeinander ist somit ausgeschlossen.“31

1.1.3 Widersprüche und ihre Aufhebung

Im folgendem zeigt Hoppe verschiedene Widersprüche in der traditionellen Form szenischer Aktion und wie sie aufgehoben werden. Es sind vorübergehende, vereinzelte Momente, oft auch komische Szenen, durch die sich die traditionelle Form jedoch noch nicht auflöst. Die „Formwidersprüche, die innerhalb der traditionellen Form auftreten, enthalten stets ihre eigene Aufhebung und damit die Bestätigung der traditionellen Form in sich.“32 Erst später führen die inhaltlichen und theoretischen Widersprüche zur Entstehung neuer Formen. Nachfolgend werden einige von Hoppes Beispielen aufgezeigt:

Ein Beispiel für die Selbstbestätigung der traditionellen Form sei Schillers Schauspiel Wilhelm Tell. Hier wird das Volk dazu aufgefordert, einem Hut auf einer Stange „Achtung und Ehre“ zu erweisen, wie dem Landvogt. Doch die Reaktion ist nur Lachen, das heißt, die darstellenden Charaktere akzeptieren sie nicht. Es erscheint nach Hoppe als „lächerliche Zumutung, ein Kleidungsstück des Menschen für diesen selbst, ein beliebiges Requisit als ein dem Menschen gleichwertiges, machtvolles Gegenüber anerkennen zu sollen“33. Damit wird die traditionelle Form der szenischen Aktion bestätigt. In der Verweigerung des Volkes wird sichtbar, daß in dieser Phase der Entwicklung ein Gegenstand noch nicht zum „gegenständlichen Gegenspieler“34 aufgewertet werden kann, denn dies wäre gleichzeitig eine Abwertung des freien und autonomen Menschen. Die traditionelle Form, in der eine „Transzendierung des konkreten Gegenstandes [...] nur als religiöse Kulthandlung denkbar“35 ist, wird somit nicht überschritten.

Ein weiteres Beispiel dafür ist Kleists Amphytrion, wo eine Laterne in einer Szene für Alkmene steht. Doch auch hier handelt es sich nur um eine „spielerische Fiktion eines menschlichen Gegenspielers“36. Und ganz ähnlich werden in Shakespeares Stück Die beiden Veroneser Gegenstände verwendet, als eine Familienabschiedszene erzählt wird:

„Ich will euch zeigen, wie es herging: dieser Schuh ist mein Vater; nein, dieser linke Schuh ist mein Vater [...]; dieser Schuh mit dem Loch ist meine Mutter, und dieser mein Vater [...]! So ist’s; nun dieser Stock ist meine Schwester, denn seht Ihr, sie ist so weiß wie eine Lilie, und so schlank wie eine Gerte; dieser Hut ist Hanne, unsre Magd [...].“37

In beiden Fällen muß der Schauspieler für die Personen, die durch die Gegenstände vertreten werden, sprechen. Es bestätigt sich also das Prinzip, „grundsätzlich nur den Menschen als Gegenspieler des Menschen zu akzeptieren“.38 Die Objekte bleiben damit Requisiten.

Einen Schritt weiter geht Hoppe zufolge Ludwig Tieck in seinem Stück Der Abschied. Hier kommt das Portrait einer Person vor, welches für die Person selbst gehalten wird. Das szenische Subjekt zersticht das Bild, als würde es eine Person töten.39 In diesem Fall wird das Bild, das zuerst nur eine Requisite ist, für einen Moment zum echten Gegenspieler. Der Gegenstand wird dadurch, wie Hoppe schreibt, aufgehoben: Er wird „als Requisit negiert, als gegenständliche Gegebenheit aufbewahrt und zum Gegenspieler des szenischen Subjekts erhoben“.40 Hoppe spricht auch von einem „pars pro toto“, das heißt, der Gegenstand, der einen Teil des abwesenden Menschen darstellt, steht für sein Ganzes.41 Aber trotzdem löst sich auch hier die traditionelle Form des Theaters nicht auf. Denn die Vertauschung von Bild und Person ist mit Wahnsinn und Selbstentfremdung verbunden. „Die Erhebung des Gegenstandes zum Gegenspieler durch Waller ist affektbedingt, hervorgerufen durch blinde Eifersuchts- und Rachegefühle, die ihn der Möglichkeit freier und vernünftiger Bestimmung seines Verhaltens berauben.“42 Auch hier ist der Formwiderspruch also nur für einen kurzen Moment sichtbar und wird gleich wieder aufgehoben. „Die traditionelle Form wird somit als einzig vernünftige Möglichkeit szenischer Aktion bestätigt.“43

1.1.4 Schicksalsrequisiten und Tücke des Objekts

Es gibt auch Beispiel dafür, daß Gegenstände innerhalb der traditionellen Form eigene Macht und Autonomie gewinnen können. In der sogenannten Schicksalsdramatik bestimmen Objekte die Aktionen der menschlichen Subjekte und geben Impulse für den weiteren Spielverlauf.

Hoppe nennt Zacharias Werners Stück Der 24. Februar als Beispiel. Hier wird die Geschichte einer Familie erzählt, die durch bestimmte „Unheilsdinge“ (einen Lehnstuhl, eine Wanduhr, eine Sense und ein Messer) beeinflußt wird.44 Das heimliche Wirken dieser Gegenstände führt letztlich dazu, daß die Mutter der Familie ihren Sohn tötet. Sie können daher Schicksalsrequisiten genannt werden: „Wie auf ’Satans Antrieb’ sind sie in fataler Zufälligkeit dem anfälligen Menschen stets im Weg und zur Hand. Sie bedrängen ihn und fordern ihn heraus, das zu vollenden, was zu verhindern dem durch das Schicksal Determinierten unmöglich ist.“45 Nach Hoppe zeigt sich in diesen Beispielen deutlich, daß die Gegenstände an Autonomie gewinnen, die Menschen dagegen an Autonomie verlieren. Die Requisiten des Stücks „beeinflussen und bedingen [...] Entschlüsse und Handeln der Personen und werden somit zu Gegenspielern derjenigen, die ihrerseits auch nur Objekte eines höheren Willens, unmündige Vollstrecker des ihnen auferlegten Schicksals sind.“46

Trotzdem will Hoppe nicht davon sprechen, daß die Gegenstände hier zu eigenständigen Akteuren werden. Zwar scheinen sie die Menschen zu bedrohen47 und zu beherrschen, doch sie bleiben Requisiten. „Denn wie die Personen selbst sind sie lediglich Instrumente und Objekte des über dem Menschen waltenden Schicksals.“48 Das heißt, es ist letztlich der Mensch selbst, der die Gegenstände zu autonomen Gegenspielern macht, indem er sie als eigenmächtig ansieht und ihren scheinbaren Aufforderungen folgt.49 In diesem Sinne ist es dann „das Schicksal“, das hier zur eigentlichen Handlungsmacht wird. Man könnte sagen: Der Mensch überläßt sich der Macht der Gegenstände, weil er seine eigene Autonomie nicht erkennt.

Auch in komischer Form werden solche Entwicklungen nach Hoppe deutlich. In Friedrich Theodor Vischers Stück Auch einer zum Beispiel vollstreckt die Hauptperson „das Todesurteil an einer Brille, die sich nicht finden ließ, indem er sie nach dem Wiederfinden unter seinen Füßen zerstampft, als gälte es einen Eigenwillen der Brille zu bestrafen“.50 (Hoppe bemerkt, daß in diesem Zusammenhang der Ausdruck „Tücke des Objekts“ entsteht.) Und in den Stücken von Karl Valentin, etwa in Der verhexte Notenständer oder in Der Umzug entsteht die komische Wirkung daraus, daß es dem szenischen Subjekt nicht gelingt, die Gegenstände des Alltags zu beherrschen: Der Mensch ist unwissend und ungeschickt und der „Tücke des Objekts“ damit hilflos ausgeliefert.

Diese Szenen sind ein weiteres Beispiel dafür, daß das scheinbare Eigenleben der Gegenstände mit der Unwissenheit des Menschen zusammenhängt. Dem Menschen steht eine fremde Objektwelt gegenüber, weil es ihm an „vernünftiger Einsicht“51 fehlt. „Das Requisit, dessen sich der Mensch als Mittel zur Verwirklichung seiner Zwecke souverän bedient, wird hier vom Subjekt aufgrund zufälliger Mängel, die seine Verfügbarkeit einschränken, als ein mit Eigenwillen und Eigenmacht begabter gegenständlicher Gegenspieler betrachtet.“52 Daher produziert die Aufhebung der traditionellen Form hier auch einen komischen Effekt: Das Subjekt läßt den Gegenstand zu einem autonomen Gegenüber werden, und dies muß in der traditionellen Vorstellungsweise absurd erscheinen. Denn die Dinge sind hier eigentlich noch Requisiten. „Demnach wird die traditionelle Form zwar teilweise negiert, aber nicht überhaupt aufgegeben; vielmehr dadurch, daß sie objektiv zugleich weiterhin gilt, entsteht ja erst die Komik ihrer subjektiven Aufhebung.“53

Diese Beispiele genügen, um die episodischen Aufhebungen der traditionellen Form innerhalb dieser Form zu verdeutlichen. Da diese Form auf der „für das autonome menschliche Subjekt bestehenden Einheit von Subjekt und Objekt“54 beruht, besteht der Widerspruch immer darin, daß diese Einheit gestört wird. In der traditionellen Form kann nur das menschliche Subjekt Autonomie beanspruchen. Dessen Weltverhältnis „ist dadurch gekennzeichnet, daß er sich die Welt in der Vorstellung, im Denken und im Handeln zu eigen macht“55. Wenn er seine Autonomie und Freiheit jedoch nicht nutzt, sei es aus Wahnsinn, aus Schicksalsglauben oder aus Unwissenheit, dann kann er seine Macht über die Dinge verlieren. Die Gegenstände können dann scheinbar zu autonomen Gegenspielern werden.

Hoppe faßt die Sache daher so zusammen: „Die formalen Abweichungen von der traditionellen Form kommen allesamt zustande aufgrund der subjektiv begründeten Objektbestimmtheit des Ichs, d.h. aufgrund des momentanen Autonomieverlustes des menschlichen Subjekts. Als Objektbestimmtes nimmt es selbst Objektcharakter an. Als sich selbst Entfremdeten zerfällt ihm jene subjektbestimmte Einheit des als Subjekt und Objekt Unterschiedenen.“56 Damit ist eine wichtige Bedingung dafür, daß der Gegenstand seine bloße Requisitenfunktion verliert, bereits deutlich: Das szenische Subjekt darf sich nicht mehr als freies und über die Dinge herrschendes Subjekt verstehen. Die „Aufwertung der räumlich-gegenständlichen Umwelt zum szenisch-autonomen Gegenspieler des Menschen [...] entspringt immer einem inhaltlich-thematisch zugrundeliegenden realen Autonomieverlust des Menschen, was zugleich einen Autonomiezuwachs der ihm fremd gegenüberstehenden Objektivität bedeutet.“57 Dieser Aspekt soll nun verfolgt werden.

1.1.5 Verdinglichung als inhaltliche Bedingung

Hoppe stellt die folgende inhaltliche Bedingung dafür auf, daß sich die Formen szenischer Aktion entwickeln können, in denen „menschliche Aktionsträger durch außermenschliche, räumlich-gegenständliche Gegebenheiten ersetzt werden“58 können: Der Autonomieverlust des Menschen darf nicht mehr nur zufällig und episodisch sein. In der traditionellen Form können Gegenstände immer nur dann Einfluß auf den Spielverlauf haben, wenn das szenische Subjekt momentan von sich entfremdet, wahnsinnig, abergläubisch59 oder unwissend und ungeschickt ist, wie in den komischen Aufhebungen. Damit die neuen Formen szenischer Aktion „zu formaler Eigenständigkeit und ästhetischer Gültigkeit gelangen“60 können, muß der Autonomieverlust des Menschen aber dauerhaft werden. Die Bedingungen für das Hervortreten der Gegenstände müssen sich „aus der allgemeinen Verfassung und als wesentliche Bestimmung der menschlichen Wirklichkeit“61 ergeben. Erst dann kann das Theater der Menschen durch ein Theater der Gegenstände ersetzt werden, wie Hoppe die neue Form szenischer Aktion in Anlehnung an Marinetti nennt.62

Der Autonomieverlust des Menschen kann so gefaßt werden, daß der Mensch sich der Welt der Gegenstände angleicht. Die inhaltliche Bedingung für die neue Theaterform ist also eine echte, dauerhafte Verdinglichung des Subjekts. Im folgenden geht Hoppe bestimmten Symptomen dieser Verdinglichung in der Theaterentwicklung nach, die zu einer Auflösung der traditionellen Form führen, und zeigt das erste Hervortreten neuer Formen szenischer Aktion an den Beispielen Tschechow, Sternheim und Kaiser auf.63

Dabei hat er vor allem die Situation des Menschen in der kapitalistischen Industriegesellschaft im Auge. Unter diesen Verhältnissen hat man es nicht mehr mit einem autonomen Subjekt zu tun, sondern mit einer Gesellschaft, „in der jeder gegen jeden austauschbar ist“64 und in der der Mensch auf seinen Marktwert reduziert wird.65 In der Gesellschaft kommt es zu einer „Gleichsetzung und Austauschbarkeit von Personen und Sachen“, die „in der ökonomischen Uniformierung des Wertmaßstabes begründet“ ist.66 Das heißt, der Mensch wird auf seine gesellschaftliche Funktion reduziert, auf seine Rolle, und erscheint als „Automat, der durch den Produktionsmechnismus und seine ideologische Verblendung angetrieben wird“.67 Diese Entfremdung bzw. Verdinglichung ist also nicht mehr nur eine vorübergehende Erscheinung bei einzelnen Individuen, sondern ein objektiv-gesellschaftliches Phänomen. Und so wird das alte Verhältnis von Subjekt und Objekt „durch eine objektbestimmte Einheit von Objekt und Subjekt“68 ersetzt. Das Verhältnis wird also umgekehrt, und der Mensch verliert seine Herrschaft über die Dinge.

Deutlich wird dies in Carl Sternheims Schauspiel Die Kassette. Hier ist es eine Geldkassette, die mit ihren Verheißungen und Verlockungen Macht über die Personen gewinnt. Sie wird zum Götzen, zum Lustobjekt und zum Fetisch.69 Die Hauptperson Krull kann die Kassette zwar nicht in Besitz nehmen, doch er nimmt sie nachts mit ins Bett. Die Befriedigung, die ihm seine Frau Fanny nicht verschaffen kann, zieht er nun aus der Kassette. „Gerade die unbefriedigte Begierde läßt die Verehrung des Objekts ins Grenzenlose und den konkreten Gegenstand zu einem magisch-mächtigen Gegenüber anwachsen.“70 Das eine Lustobjekt, die Frau, wird durch das andere Lustobjekt, die Geldkassette, ausgetauscht. Und gleichzeitig steht Krull unter der Macht dieser Kassette.

An solchen Stücken zeigt sich nach Hoppe die Entstehung von neuen Inhalten. Die historische Entwicklung entspricht nicht mehr den traditionellen Theaterformen, weil sich die Aussagen, die gemacht werden sollen, verändert haben. Es ergibt sich ein „Widerspruch zwischen der inhaltlichen Aussage und der traditionellen Form szenischer Aktion“.71 Denn es gehört zur Aussage der genannten Stücke, daß sich das alte Subjekt-Objekt-Verhältnis umgekehrt hat. Verdinglichung, Entfremdung und Autonomieverlust sind damit nicht mehr „durch die zufällige Beschaffenheit oder augenblickliche Verfassung des einzelnen Subjekts bedingt noch auf dieses beschränkt“, sondern sie sind ein „objektiv bedingtes Phänomen der menschlichen Wirklichkeit“.72

So wird der Widerspruch zwischen Aussage und Ausdruck immer stärker, die Einheit von Inhalt und Form wird in Frage gestellt. Denn die traditionelle Form ist auf das autonome Subjekt hin angelegt, in ihr kann die Austauschbarkeit und Verdinglichung des Menschen nicht mehr ohne weiteres dargestellt werden. Dies wird Hoppe zufolge zum Beispiel in Kaisers Stück Die Koralle sichtbar. Auch hier wird der kapitalistische Gesellschaftszustand beschrieben, aber die traditionelle Form wird beibehalten. In dieser Form aber hat der besitzlose Mensch keinen Platz: Er tritt hier „selbst nicht mehr oder nur noch episodisch als gesellschaftlicher Rollenträger in Erscheinung. Seine subjektive Machtlosigkeit und individuelle Bedeutungslosigkeit wie auch seine Austauschbarkeit versperren ihm die szenische Realität einer dramatischen Person.“73 Daher müssen die Klassengegegensätze als Konflikte innerhalb der herrschenden Klasse dargestellt werden: in dem Stück als Konflikt zwischen den Mitgliedern einer Milliardärsfamilie.74 Nur diese können innerhalb der traditionellen Form als Akteure erscheinen.

Daraus ergibt sich nach Hoppe „die Forderung nach einer szenischen Darstellungsform, die den inhaltlichen Bestimmungen des Dargestellten nicht mehr nur teilweise gerecht wird, wie es in den Stücken der genannten Autoren der Fall ist.“75 Damit die neuen Inhalte ausgedrückt werden können, muß die traditionelle Form also endgültig aufgehoben werden. In allen genannten Stücken wurde sie nur vorübergehend und episodisch durchbrochen. Damit deuteten sich die „Möglichkeiten zukünftiger Formwerdung des thematischen Inhalts an“76, die in der weiteren Entwicklung ihre angemessene Ausdrucksform finden müssen.

1.1.6 Die Entstehung der neuen Form

Die neuen Formen szenischer Aktion entwickeln sich nicht direkt aus dem Schauspiel heraus. Eine Erneuerung findet nach Hoppe zuerst auf theoretischer Ebene statt. Konkret werden die neuen Formen dann erstmals unter dem Einfluß anderer Kunstformen, vor allem der bildenden Künste. Hoppe nennt Craig, Appia, Schlemmer, Léger und Artaud als Beispiel.77 Diese Theaterreformer werde ich jetzt einzeln näher erläutern.

a) Theoretische Erneuerung: Appia und Craig

Der Bruch mit der Tradition wird zuerst in der Theatertheorie sichtbar. In den Schriften von Appia und Craig wird das Theater erstmals als Kunstform verstanden, die eigenständig neben anderen Formen steht. Vor allem ist das Theater hier nicht mehr auf den sprachlichen Ausdruck und menschliche Figuren beschränkt. Weder Appia noch Craig finden zu ihrer Zeit Resonanz.78 Ihre Ideen finden kaum den Weg in die Theaterpraxis. Es wird also der formale Formwiderspruch formuliert, ohne daß es schon zu konkreten Veränderungen kommt.

Für Adolphe Appia (1862-1928) ist das Theater eine Raum-Zeit-Kunst.79 Dies entspricht der Definition von Theater als szenischer Aktion, von der Hoppe ausgeht. Entsprechend kommt es Appia „auf die formale Aufwertung der räumlich-gegenständlichen Umgebung des menschlichen Aktionsträgers an“.80 In seinen theoretischen Schriften, vor allem Das lebende Kunstwerk, hat Appia dies am Beispiel eines Pfeilers beschrieben, der dem Schauspieler in der Szene gegenübersteht: „Der Kontrast zwischen seiner Bewegung und der ruhigen Unbeweglichkeit des Pfeilers schafft ein spezisches Ausdrucksmoment, das der Körper ohne die Säule nicht hätte und die Säule nicht ohne den bewegten Körper.“81 Es ist vor allem das Bühnenbild und der Raum, der hier wichtig wird. Hoppe schreibt: „Basis aller theatralischen Aktion ist nach Appia der durch die körperlich-räumliche Erscheinung des menschlichen Darstellers bestimmte und durch dessen Bewegung belebte szenische Raum.“82 So wird die räumlich-gegenständliche Umgebung auf der Bühne zum selbständigen Ausdrucksmittel. Zwar steht der Mensch hier immer noch an der ersten Stelle, die Objekte werden noch nicht zu eigenständigen Spielern. Aber Raum und menschliche Bewegung stehen in Wechselwirkung, beide bestimmen sich gegenseitig. Daher stellt der Schauspieler auch keine autonome Person mehr dar. Er ist vielmehr Teil des körperlichen Bühnengeschehens und muß seine Schauspielkunst darauf einstellen.83

Edward Gordon Craig (1881-1955) geht einen Schritt weiter in seinen Forderungen an das szenische Geschehen. Nach ihm muß das Theater radikal „von der Beschränkung auf die literarisch-dialogischen Ausdrucksmöglichkeiten befreit werden“.84 Nach Pörtner will Craig den Schauspieler daher „nach dem Vorbild der Marionette“ bilden.85 Er soll zum „Bestandteil des gesamten szenischen Ausdrucksmaterials“ werden.86 Craigs Theaterbegriff ist deshalb mit wegweisenden Öffnungen verbunden: Aktion, Worte, Linie, Farbe, Rhythmus, Szene und Stimme sollen „gleichwertige Elemente“ und die „materiale Grundlage des Theaterkunstwerks“87 werden. Das autonome Subjekt hat hier keinen Platz mehr. Der Akteur soll eine „entpersönlichte Kunstfigur“ oder eine „Über-Marionette“ werden, „die nichts ist außer ihrer Funktion im Ganzen des Inszenierungskunstwerks“88 hat. In seinem Stückentwurf Die Treppe macht Craig einen ersten Versuch, diese Forderungen konkret umzusetzen. Dabei wird ein Eigenleben der gegenständlichen Gegebenheiten auf dem Theater am Beispiel einer Treppe zum Thema. Diese wird aber nicht wirklich aktiv, sie wird nicht zur eigenständigen Figur. Vielmehr ist von einem „geheimen Leben“ der Treppe die Rede.89 So bleibt, wie Hoppe bemängelt, das Wechselspiel von Mensch und Gegenstand rein formal. Die von Craig gemachte „theoretische Forderung, räumlich-gegenständliche szenische Gegebenheiten als aktive Ausdrucksträger in die szenische Aktion einzubeziehen, bleibt als unerfüllte Aufgabe für die Zukunft bestehen.“90 Im nächsten Abschnitt sollen daher weitere konkrete Veränderungen der Theaterform betrachtet werden.

b) Konkrete Erneuerung: Schlemmer und Léger

Die beschriebenen theoretischen Überlegungen werden, wie gesagt, zunächst nicht direkt vom Theater aufgegriffen. Die Theorie führt also nicht gleich zu konkreten Veränderungen. Die ersten praktischen Versuche mit neuen Formen werden vor allem durch bildende Künstler gemacht, etwa von dem Bauhauskünstler Oskar Schlemmer und dem Bühnenbildner Fernand Léger.

Schlemmer greift die theoretischen Überlegungen Appias und Craigs auf und radikalisiert sie zur Idee einer „abstrakten Bühne“.91 Seine Arbeit ist dabei beeinflusst durch Malerei, Bildhauerei und Architektur. Und so geht er auch für das Theater nicht von spielenden Figuren oder Subjekten aus, sondern von abstrakten Formelementen. Seine Definition des Theaters heißt: „Bühnenkunst ist Raumkunst“.92 Nicht die Handlungen und Bewegungen des Menschen auf der Bühne stehen im Mittelpunkt, sondern der Raum und die „reinen Bühnenelemente“93.

Erste praktische Umsetzungen der neuen Form szenischer Aktion kann Schlemmer als Bühnenbildner und in seiner leitenden Funktion im Bauhaus94 versuchen. So findet in dem Stück Das triadische Ballett ein „Spielen mit dem Material“95 und ein Experimentieren mit mathematischen Bewegungsgesetzen96 statt. Diesen Bereich des „körperlich-mimischen Geschehens“97 sieht er als wichtigen Ansatzpunkt einer Erneuerung des Theaters an. In diesem durch Tanz und Pantomime bestimmten Bereich wird der Mensch wiederum zur Kunstfigur: Er wird, wie Schlemmer es ausdrückt, zur „Kunstfigur“, zur „wandelnden Architektur‘, zur „Gliederpuppe“ und zum „technischen Organismus“.98 Zudem wird hier auch das Kostüm, das Schlemmer „raumplastisch“99 nennt, zu einem wichtigen theatralischen Ausdrucksmittel. Es bildet den menschlichen Körper, der zum szenischen Material gehört, um und trägt so zur Gestaltung des Menschen als Kunstfigur bei.

Auch Fernand Léger (1881/1955) fordert vom neuen Theater, wie Hoppe schreibt, die Fakten der Erfahrungswelt als „Rohstoff“ für die „szenische Ausdrucksgestaltung“ aufzunehmen.100 Léger geht dabei ebenfalls von praktischen Arbeiten als Maler, Bühnen- und Kostümbildner aus.101 Und während Schlemmer vor allem den Raum, die Bühne, die Kostüme und den Menschen als Kunstfigur im Auge hatte, bezieht sich Léger direkt auf Objekte. So heißt es in einem Vortrag über die Schaubühne von 1925 über das neue Theater:

„Das Individuum tritt zurück, wird zum gewöhnlichen Dekor oder verschwindet hinter den Kulissen, von wo aus es das neue Theater schöner Gegenständlichkeit dirigiert. [...] man hat für den Bühnenmenschen einen Gegenpart gefunden, eine Erneuerung auf mechanischen Wege. Man läßt die Gegenstände sich selbst bewegen, agieren.“

Léger verdeutlicht dies auch an einem eigenen konkreten Szenenentwurf:

„Die Dekoration im Hintergrund ist beweglich. Die Handlung beginnt. Sechs Schauspieler überqueren als beweglicher Dekor die Bühne, indem sie das Rad schlagen (die Bühne ist beleuchtet), dann kehren sie phosphoreszierend wieder (die Bühne ist verdunkelt) ... Auftauchen des schönen metallenen, leuchtenden Gegenstandes, der sich bewegt und verschwindet.“102

Dies ist das erste von Hoppe genannte Beispiel, in dem die neue Form szenischer Aktion, das „Theater der Gegenstände“ konkrete Form annimmt. Hier sind die Objekte vollwertige Ausdrucksmittel des Theaters und treten gleichberechtigt neben den menschlichen Spieler, der selbst zur „Kunstfigur“ wird. Allgemein sind die „szenischen Erscheinungsformen des Objekts: Ding, außersprachlich-akustische, optische und räumlich-gegenständliche Gegebenheit, vergegenständlichte menschliche Kunstfigur ohne Eigenleben“103, also nicht mehr nur das Wort, sondern Requisiten, Geräusche, Stimmen, Licht, Raum, Kostüme und Körper. Diese machen allgemein das Theater der Gegenstände aus, wenn der Begriff Objekt abstrakt gefaßt wird.104 Und vor diesen Voraussetzungen muß die besondere Form des Theaters gesehen werden, in der die Gegenstände ein Eigenleben und szenische Autonomie gewinnen können, wie es bei Léger der Fall ist. Da dieser Fall für das Objekttheater am interessantesten zu sein scheint, soll er nun weiter untersucht werden, und zwar an den Beispielen Artaud und Ionesco.

1.1.7 Objekte in Aktion

Hoppe faßt die bisher beschriebene Entwicklung so zusammen: Durch Appia und Craig wird der traditionelle Theaterbegriff aufgehoben, durch Schlemmer und Léger wird der traditionelle Formbegriff überwunden.105 Antonin Artaud (1896-1948) nun bestätigt die theatertheoretischen Aussagen der ersten beiden und führt die praktischen Reformen der letzteren weiter. Die theoretische und praktische Entwicklung kommt hier einem theoretischen Begriff des Objekttheaters sehr nahe.

Im Zentrum von Artauds Theorie steht die Idee einer neuen Theatersprache, in der jede physisch-materielle Gegebenheit zum Ausdrucksmittel werden kann:

„Ich sage, daß die Bühne ein körperlicher konkreter Ort ist, der danach verlangt, daß man ihn ausfüllt und daß man ihn seine konkrete Sprache sprechen läßt. Ich sage, daß diese konkrete Sprache, die für die Sinne bestimmt und unabhängig vom Wort ist, zuerst einmal die Sinne befriedigen soll, daß es eine Poesie für die Sinne gibt wie eine für die Sprache [...].“106

In dieser „Poesie der Sinne“ spielen die physischen Objekte eine zentrale Rolle. Sie sind nicht mehr nur Requisiten, die zu bestimmten Zwecken benutzt werden. Artaud schreibt, daß die „Gegenstände, die Requisiten und selbst die Dekorationen, die auf der Bühne erscheinen, [...] in einem unmittelbaren und nicht im übertragenen Sinne zu verstehen [sind].“ Und er fügt hinzu: „Sie dürfen nicht für das gehalten werden, was sie darstellen, sondern für das, was sie wirklich sind“.107 Hoppe beschreibt dies so, daß Artaud die Poesie der Sprache „Poesie der physisch-konkreten Bewegung im szenischen Raum“108 ersetzen will und als Forderung nach „einer physisch-konkreten Sprache des Raumes“.109 Mit diesen Ideen kommt Artaud der Sprache eines „Theaters der Gegenstände“ sehr nahe. Im Unterschied zu den vorher genannten Theoretikern gibt Artaud zudem auch eine metaphysische Begründung für sein Theaterkonzept. Dabei geht es um eine Bewußtseinsveränderung des Zuschauers und um darum, ihm die Erkenntnis seiner Unfreiheit beizubringen.110 Die sinnliche Sprache der Objekte hat also therapeutischen Wert. Sie muß gefunden werden, „damit man mit Gegenständen und direkten Zeichen eine wirklichere Wirklichkeit wiederfindet als es die Wirklichkeit ist.“111

Wie sieht nun die erste konkrete Umsetzung dieses Theaters aus? Artauds Theorien finden, wie Hoppe anmerkt, in der Mitte des 20. Jahrhunderts ihre praktische Umsetzung. Dabei geht es um Theaterstücke, in denen die Gegenstände eine aktive Rolle übernehmen, also die ersten Stücke, die sich dem Theater der Gegenstände zuorden lassen.112 Hoppe nennt hier vor allem Ionesco und Beckett als Beispiele, aber auch Hildesheimer, Vian, van Itallie, Handke und Weiss.

Ich beschränke mich im folgenden auf Ionesco, bei dem sich die Idee des Theaters der Gegenstände besonders deutlich verwirklicht. Der inhaltliche Hintergrund seiner Stücke ist nach Hoppe das Dasein des Menschen in einer verdinglichten, sinnleeren Welt. Die Personen erscheinen als identitätslose, schattenhafte Figuren, die durch die gegenständliche Wirklichkeit beherrscht werden. Diesen Inhalten entsprechen Ionescos Stücke formal dadurch, daß die Gegenstände konsequent als eigenständige, teilweise übermächtige Elemente agieren. In Argumente und Argumente schreibt Ionesco, daß ein Stück nicht nur von den spielenden Personen lebt. Stattdessen bedürfe es auch:

„vieler Lichteffekte, vieler Geräusche, vieler beweglicher Gegestände, Türen, die sich selbstätig öffnen, um die Leere herzustellen, sie anwachsen und alles verschlingen zu lassen ... Das alles würde dem Fluß des Stückes nicht schaden; denn alle dynamischen Gegenstände sind selbst die eigentliche Bewegung des Stücks.“113

So stehen in Die Stühle leere Stühle für abwesende Gäste. Sie werden von einem Ehepaar als Personen behandelt, werden den Menschen also zunächst gleichgestellt. „Menschliche und außermenschliche Aktionsträger sind lediglich verschiedene künstliche Ausdrucksgestalten desselben Gedankens: der Abwesenheit autonomen und sinvollen menschlichen Lebens.“114

Im Laufe des Stücks kehrt sich das Verhältnis zwischen Personen und Gegenständen sogar soweit um, daß die Gegenstände, also die leeren Stühle dominant werden. Die Zahl der Stühle nimmt immer mehr zu, ihre gegenständliche Anwesenheit wird immer stärker, und so werden die Bewegungen der Personen auf der Bühne mehr und mehr durch die Masse der Gegenstände bestimmt.115 So endet das Stück konsequenterweise „mit der letztmöglichen Steigerung der Abwesenheit. Diese wird erreicht durch das konkrete Nicht-Mehr-Dasein menschlicher Gestalten und die konsequente Reduktion des Bühnengeschehens auf die szenisch autonome Gegenwart und Aktion außermenschlicher, sowohl räumlich-gegenständlicher als auch optischer und akustischer Aktionsträger“.116 Die Objekte haben die Personen am Ende also vollständig verdrängt.

Diese Übermacht der Gegenstände ist in Ionescos Stück Der neue Mieter sogar noch deutlicher sichtbar. Hier wird eine Wohnung so mit Möbeln vollgestopft, daß sie am Ende keinen Platz mehr für den Bewohner bietet. Der Umzug geht sehr sorgfältig und planmäßig von statten, aber doch werden die Gegenstände letztlich ohne Sinn und Zweck aufgehäuft und nehmen den Wohnraum des Menschen am Ende völlig ein. Und damit kommt auch ein weiterer Aspekt ins Spiel: Da die Gegenstände nicht mehr Requisiten sind, die dem Menschen je nach Zweck dienen, erscheinen sie als funktionslose, undienliche Objekte. „Der Identitätsverlust, der die Figuren des Stückes kennzeichnet, findet seine Entsprechung im Identitätsverlust der Dinge. Diese sind nicht mehr, was sie im Rahmen der traditionellen Form waren und in der empirischen Realität leicht zu sein scheinen. [...] Die Dinge verlieren die Bedeutung und Funktion, die ihnen vom autonomen Subjekt zugeschrieben werden, das hießt: sie verlieren ihren Requisitencharakter und werden so zu Objekten an sich, zu einem von menschlicher Bestimmung freien, dinglichen Gegenüber der Figuren.“117 In Der neue Mieter geht dies sogar so weit, daß die Gegenstände letztlich aktiv werden und sich auf der Bühne von selbst bewegen: „Ohne die vermittelnde Aktion der menschlichen Figuren gleiten und schieben sich die Gegenstände, von einer unsichtbaren Kraft bewegt, ganz allein auf der Bühne.“118

In diesen Stücken also kommt es zu einer Angleichung von Personen und Gegenständen. Am Ende steht eine bloße Dingwelt, in der die Menschen entpersönlicht und die Gegenstände ohne Funktion sind. In beiden genannten Stücken Ionescos wird „die natürliche körperliche Bewegungsfreiheit des Menschen, die in der traditionellen Form zugleich Ausdruck für die innere Freiheit des Subjekts ist, auf die mechanische Wiederholung gleichförmiger oder gar einander symmetrisch entsprechender Gesten und Bewegungen beschränkt; diese Wiederholung wird den Figuren durch das wachsende Vorhandensein der Dinge aufgezwungen“.119

Formal entspricht dies der von Artaud geforderten Gleichstellung von Mensch und Gegenstand im Theater. Sowohl die autonomen, teilweise von selbst bewegten Gegenstände, als auch die Personen auf der Bühne, die nur „vom Künstler in Aktion gesetzte und manipulierte Kunstfiguren“120 sind, tragen zur Sprache des Theaters bei. Die menschlichen und gegenständlichen Aktionsfiguren, wie Hoppe die szenischen Elemente nennt121, sind gleichberechtigte Ausdrucksmittel. Ionesco sagt in diesem Zusammenhang: „Die Gegenstände werden also gleichsam zu Wörtern, sie ergeben eine Sprache.“122 Indem die bschriebenen Stücke die Gegenstände zu autonomen Gegenspielern der Menschen machen, verwirklichen sie also in gewisser Weise die „Poesie der Sinne“, von der Artaud gesprochen hat.

Wie eine solche Theaterform genauer analysiert werden kann, soll in den nächsten Abschnitten untersucht werden. Als erster Autor wird dabei Werner Knoedgen behandelt, der sich in seinem Buch Das Unmögliche Theater mit den Wechselbeziehungen zwischen menschlichen und gegenständlichen Aktionsfiguren im Kontext des Figurenspiels beschäftigen.

1.2 Objekttheater als Form des Figurenspiels: Werner Knoedgen und das unmögliche Theater

Nachdem über die geschichtliche Veränderung des Gebrauchs der Gegenstände auf der Bühne gesprochen wurde, wird es in diesem Abschnitt die Aufgabe sein, einige gattungstypische Kriterien des Objekttheaters herauszustellen. Textgrundlage wird Werner Knoedgens Buch Das Unmögliche Theater sein, das eine ’Phänomenologie’ des Figurenspiels liefern will.123 Das Objekttheater ist für Knoedgen ein spezieller Teilbereich des Figurenspiels, in dem mit gestalteten Materialien, also Alltagsgegenständen aller Art, gespielt wird. Indem Ausdrucksformen des Figurenspiels herausgearbeitet werden, lassen sich also möglicherweise Beschreibungen finden, die auch für die Unterkategorie des Objekttheaters gelten.

1.2.1 Figurentheater: Darstellung mit materiellen Mitteln

Knoedgen schreibt aus der Sicht eines praktisch erfahrenen Figurenspielers. So geht er nicht von Texten aus, sondern von der künstlerischen Arbeit. Theater ist für ihn allgemein Darstellende Kunst.124 Damit kommen automatisch Aspekte ins Blickfeld, die auch für Hoppe wichtig waren: vor allem Zeit und Raum und die Materialien auf der Bühne.125 Grob läßt sich das Theater nach seinen Ausdrucksmitteln unterteilen: Es können entweder lebendige Ausdrucksmittel (Mensch) oder nicht-lebendige Ausdrucksmittel (Materie) sein.126

Das Besondere des Figurentheaters ist, daß es mit letzteren arbeitet. Es handelt sich nach Knoedgen daher allgemein um ein Darstellen mit leblosen, materiellen Ausdrucksmitteln. (Man könnte also sagen, daß auch hier ein „Theater der Gegenstände“ vom „Theater der Menschen“ unterschieden wird.) Das Figurentheater bedient sich dieser materiellen Mittel immer zum Zwecke der Darstellung. Es wäre nach Knoedgen zum Beispiel nicht die Aufgabe des Figurentheaterkünstlers, besonders gute Plastiken herzustellen, und sie zu inszenieren. Das Herstellen ist Sache der Bildenden Künste.127 Die Produkte der darstellenden Kunst lassen sich aber nicht in diesem Sinne verstehen, man kann sie z.B. nicht ins Museum stellen. Hier kommt es allein darauf an, wie die materiellen Ausdrucksmittel in der jeweils aktuellen Aufführung verwendet werden. Als Theaterkunst muß das Figurentheater an seiner Darstellungskunst gemessen werden.

Dazu kommt nun ein weiterer wichtiger Aspekt: Ein allgemeines Merkmal der darstellenden Kunst ist nach Knoedgen das Rollenverhalten.128 Im Theaterspiel kommen handelnde Figuren vor, die bestimmte Absichten und eigene Antriebe haben und insofern Subjekte sind. Nach Knoedgen ist das Theater sogar „zur Inszenierung von Rollen verpflichtet“.129 Er legt hier also wieder den aristotelischen Theaterbegriff zugrunde.130 Da der Spieler im Figurentheater immer mit leblosen Materialien arbeitet, müssen diese im Spiel Rollen übernehmen. „Darstellung mit nicht-lebendigen Materialien“ heißt also Knoedgen zufolge, daß materielle Ausdrucksmittel die Rolle von lebendigen Wesen spielen. „Die Rollen des Figurentheaters sind materielle Objekte, die einzig durch die Inszenierung zu theatralischer Gestalt und Aussage finden.“131 Das Besondere des Figurentheaters wird deshalb für Knoedgen dann sichtbar, wenn man die folgenden Fragen stellt:

„Warum soll ich nicht räumliche Veränderung dramaturgisch gestalten? Warum Materie nur ausstellen und nicht auch darstellen? Warum kann ich nicht wiederholbare Veränderungen anhalten oder unwiederholbare trotzdem wiederholen? Warum soll ich nicht passiver Materie aktive Qualitäten zuschreiben und inszenieren, als seien sie Subjekte?“132

Damit unterscheidet sich das Figurentheater nach Knoedgen sehr stark vom traditionellen Schauspiel. Dieses sei homogen, es hat nur eine Ebene der Darstellung: den Darsteller in der Rolle. „Gestaltung der Rolle und Darstellung der Rolle sind im Schauspiel ein und dieselbe, sie sind die gleiche szenische Arbeit.“133 Hier ist die Rolle durch den Text festgelegt, der Schauspieler stellt eine bestimmte Bühnengestalt dar. Knoedgen schreibt darüber: „Indem er darstellt, nimmt er die Rolle in sich hinein.“134 Es besteht also eine Einheit und körperliche Identität von Spieler und Rolle.

Das Figurenspiel trennt diese Einheit in ein darstellendes Subjekt und dargestelltes Objekt. Das Figurenspiel ist daher heterogen. Darsteller und Rolle, Spieler und Spielmaterial befinden sich auf zwei verschiedenen Ebenen.135 Es findet also eine Art gespaltener Darstellung statt. Da die verwendeten Ausdrucksmittel leblos sind, müssen sie vom Spieler „zum Leben erweckt“ werden. Das Spiel „wird von zwei komplementären ‚Handlungsträgern‘ beschritten, die aufeinander angewiesen sind: von Rolle und Rollenträger, von Spielmaterial und Spieler gemeinsam.“136 Der Figurenspieler also, als einzig reales Subjekt der Darstellung, ist der Rollenträger. Er ist nicht mit der Rolle „verschmolzen“, wie im Schauspiel, aber er ist nach Knoedgen dennoch der eigentlich Handelnde:

„Er delegiert seine Rolle in ein materielles Objekt und distanziert sich damit von ihr, als könne er sie sich selbst überlassen, obwohl er doch weiß, daß dieses Rollen-Objekt niemals ihn, das einzig vorhandene Spieler-Subjekt, ersetzen kann: Es bleibt immer ein gegenständliches Ausdrucksmittel, ein bloßes ’Instrument‘ seiner Darstellung.“137

Unter einer Rolle versteht Knoedgen also letztlich das Objekt, das der Spieler bzw. der Rollenträger zur Darstellung verwendet. Seine Rolle ist „eine materielle Gestalt, die er in die Hand nimmt“.138 Wegen dieser Spaltung spricht Knoedgen von einem unmöglichen Theater: „Im inszenierten Subjekt-Verhalten von Objekten liegt der wesentliche Widerspruch, die prinzipielle ’Unmöglichkeit’, mit der sich das Figurentheater auseinanderzusetzen hat.“139

Eine Besonderheit, die Knoedgen hier beschreibt, ist der sogenannte Subjektsprung oder der „Sprung des szenischen Subjekts“. Damit meint er das „plötzliche Umsteigen des sich von seiner Rollenfigur trennenden Darstellers“.140 Der Ausgangspunkt ist wieder die Wechselwirkung von menschlichem Darsteller und materieller Spielfigur, die beide voneinander abhängig sind. Das Objekt zeigt ein Rollenverhalten, aber der Spieler ist das eigentlich handelnde Subjekt. Ein Subjektsprung findet statt, wenn die Spielfigur sich scheinbar vom Spieler trennt und „autonom“ wird. Ein einfaches Beispiel dafür wäre eine Marionette, die an ihren eigenen Fäden hochklettert, um das Spielkreuz zu übernehmen.141 Umgekehrt kann auch der Spieler in die Handlung einsteigen. Zum Beispiel gibt er der Figur den Befehl, etwas zu tun. In seiner „auktorialen Distanz“ wird der Spieler selbst zum Teil des Stücks. „Wenn er sich zum gesondert wahrnehmbaren Sprecher seiner eigenen Rolle macht, ist er offensichtlich ’doppelt anwesend’. Er leistet eine ’doppelte’ darstellerische Arbeit und seine ’Rollenlosigkeit‘ wird zu einer zweiten, ebenfalls inszenierten Rolle.“142 Oder das Phänomen des Subjektsprungs wird in komplexe Handlungen eingebettet, etwa wenn eine Auseinandersetzung zwischen Rollen-Objekten und Rollen-Subjekten stattfindet.143 Natürlich ist dieses Ereignis selbst vom Rollen-Subjekt inszeniert. Das heißt, hier wird die Rollenspaltung des „unmöglichen Theaters“ selbst inszeniert: „Hier theatralisiert sich das Theater selber, ohne irgendeinen andern Schwerpunkt zu setzen als das dialektische Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt, Autor und Funktion, zwischen Spielfigur und Figurenspieler.“144

Knoedgen legt großen Wert darauf, daß diese Spaltung in den Inszenierungen des Figurentheaters sichtbar bleibt. Demnach sei der Figurenspieler „verpflichtet, eine wirkungsästhetische Auskunft über die verwendeten Darstellungsmittel im Augenblick der Szene zu geben.“145 Geschieht dies nicht, so handele es sich meistens um „das Zeichen eines grundlegenden ästhetischen Irrtums“.146 Knoedgen bezeichnet Arbeiten, wo die Illusion von lebendigen Wesen bestehen bleibt, als naiv-animistisch147 und spricht von illusionistischen Tricks.148 Da der Zuschauer ohnehin weiß, daß jede Darstellung die Präsenz eines Spielersubjekts erfordert, sei dieser gezwungen, in bestimmter Weise zu agieren.149 Er steht dabei nach Knoedgen zwischen zwei Möglichkeiten: Er könnte entweder selbst spielen wie ein Schaupieler. Dann wäre die materialisierte Rolle, also die Spielfigur, wieder nur ein Requisit, das zur Verstärkung oder Ausschmückung der Charakterdarstellung des Subjekts dient. Die Darstellung würde sich auf der Ebene des Schauspiels bewegen. Oder der Spieler läßt ganz allein die Rolle agieren, „als sei sie autonom handlungsfähig und allein der Darsteller.“150 In diesem Fall aber würde der Zuschauer nach Knoedgen hintergangen. Ihm wird vorgetäuscht, die Dinge würden sich selbstätig bewegen, und dies widerspricht der genannten ästhetischen Norm. 151

Es muß nach Knoedgen also offengelegt werden, daß die Spielfigur nicht auf magische Weise, sondern durch Inszenieren ein Rollenverhalten hat. Knoedgen nennt das auch den sichtbar vorgeführten Weg.152 Andernfalls begeht er nach Knoedgen einen künstlerischen Fehler: „Nur, wenn der Figurenspieler das Bewußtsein seines Publikums berücksichtigt und das Phänomen der aufgespaltetenen Darstellung mitinszeniert, bekommt der Zuschauer eine zufriedenstellende Auskunft, warum er ein solch artifizielles Theater mit leblosen Materialien, Gegenständen oder Figuren überhaupt akzeptieren soll.“153

1.2.2 Die Formen des Figurentheaters

Figurentheater ist nach Knoedgen ein Darstellen mit leblosen Ausdrucksmitteln, wobei der Spieler und die Rolle voneinander getrennt sind. Was ist nun das Besondere am Objekttheater?

Die verschiedenen Formen des Figurentheaters können nach Knoedgen formal nach der Art der verwendeten Materialien bestimmt werden. Wie sich das Figurentheater also vom Schauspiel dadurch unterscheidet, daß es mit leblosen Materialien arbeitet, so unterscheiden sich seine verschiedenen Formen noch einmal dadurch, welche Materialien sie genau zur Darstellung verwenden. Dabei gibt es nach Knoedgen drei Formen: und zwar außer dem Objekttheater noch das Puppentheater und das Materialtheater.154

Relativ klar ist die Abgrenzung des Objekttheaters zum Puppentheater. Auch dieses betrachtet Koedgen aus der Perspektive eines materiellen Theaters, also nicht als Schauspieltheater. Es ist also, mit den Worten Hoppes, ebenfalls ein Theater der Gegenstände. Das Besondere liegt nach Knoedgen deshalb nur in der Beschaffenheit der Spielfiguren: Diese sind hier als Lebewesen gestaltete Figuren, also „bildnerisch konkrete“ Figuren bzw. Abbilder.155 „Nachdem die technische und bildnerische Gestaltung abgeschlossen ist, sind Bewegung und Bedeutung der Rollenobjekte unveränderlich festgelegt. Die Theaterpuppe ist ein einmaliger ’Verhaltensspezialist‘ […].“156 Die Puppe ist also eine Figur, die darstellerisch bereits als Lebewesen mit bestimmten Charakter festgelegt ist. Sie ist aber unabhängig von der theatralischen Darstellung natürlich dennoch leblos. Deswegen ist sie keine Skulptur, sondern immer noch ein bloßes „Darstellungsinstrument“.157 Nach Knoedgen muß man die Figur sogar genauer als Theatermaske verstehen. „Da die bildnerische Tätigkeit des Figurentheaters also einem darstellerischen Willen entspringt, sollte man die aus der Tradition übernommenen Ausdrucksmittel nicht als ’Puppen’, sondern unter wirkungsästhetischen Gesichtspunkten als von ihrem Darsteller getrennte ’Theatermasken’ gesehen werden.“158 Zwar ist das Gesicht des Figurenspielers sichtbar, er trägt die Maske nicht vor dem Gesicht. Aber dennoch bleibt es dabei, daß der Spieler das rollentragende Subjekt und die Figur nur die Rolle ist, die er spielt. Die Rolle ist Knoedgen zufolge daher die Maske des Spielers.

Diese Frage muß in dieser Arbeit allerdings nicht geklärt werden. Wichtig ist nur, daß die Gegenstände, die im Objekttheater verwendet werden, keine Puppen, also keine auf bestimmte Rollen festgelegte Artefakte sein können. Die Objekte oder Materialien dürfen nicht von vornherein die Physiognomie von Menschen oder anderen Lebewesen haben. In diesem Fall hätte man es mit Puppentheater zu tun.

Wie sind nun aber das Objekt- und das Materialtheater genauer zu beschreiben? Auch hier greift Knoedgen auf die besonderen Ausdrucksmittel zurück, die verwendet werden. Die Materialien des Figurentheaters lassen sich, wenn man die Puppen beiseite läßt, immer noch in gestaltete und ungestaltete Materialien unterscheiden. Im ersten Fall hat man es mit Objekttheater, im zweiten Fall mit Materialtheater zu tun.

Objekttheater ist ein Spiel mit gestaltetem Material. Hier erfährt das Material „bevor es in Szene gesetzt wird, eine endgültige bildnerische Gestaltung“.159 Da hier Puppen ausgeschlossen sind, betrifft dies alle Gebrauchsgegenstände. Materialtheater greift dagegen in seinen Inszenierungen zu gestaltlosen Stoffen, z.B. Tücher, Sand, Folien oder Knetmassen.160 Knoedgen spricht auch davon, daß die Materialien des Objekttheaters physisch konkret, aber bildnerisch relativ abstrakt seien, die Materialien des Materialtheaters dagegen physisch und bildnerisch abstrakt.161 Diese verschiedenen materiellen Mittel untersucht Knoedgen sehr genau nach ihren unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten, wobei er von allgemeinen Materialbeschaffenheiten ausgeht und dann zu den „Besonderheiten spezieller Materialbereiche und festgelegter Ausdrucksformen“ übergeht.162

1.2.3 Objekttheater und Materialtheater

Die Frage wird nun also sein, ob es möglich ist eine Beschreibung des Objekttheaters innerhalb des Figurentheaters vorzunehmen. Dabei wird zu klären sein, inwieweit die Kriterien die Knoedgen für das Materialtheater aufstellt, auch für das Objekttheater zutreffen bzw. für dessen Bestimmung von Nutzen sein können. Eine exakte Definition werde ich dabei nicht anstreben. Auch Knoedgen nennt zwar, wie gesehen, feste Kriterien für Objekt- und Materialtheater, er will damit aber keine reinen Theaterformen definieren. Es geht vielmehr um eine „Annäherung an die Vielfalt der materiellen Mittel“163, die in der Theaterpraxis immer auch gemeinsam in Mischformen auftreten. Dies wertet Knoedgen als „Symptom für die neu gewonnene, wichtige ästhetische Erkenntnis, daß die hochspezialisierten Ausdrucksmittel der Gattung letztlich gleichwertig und bei aller technischen Verschiedenheit simultan verfügbar sind.“164 Diese Einstellung entspricht offenbar dem allgemeinen Verständnis, wo auch keine scharfen Abgrenzungen gemacht werden. So wird der Ausdruck Objekttheater in der 2004 gegründeten Zeitschrift double dem Puppen- und Figurentheater zugeordnet, für das eine „Erweiterung des Spielmaterials von plastisch gestalteten Puppen auf Gegenstände, Räume, Licht“165 festzustellen sei. In den folgenden Abschnitten sollen aber nur Objekte und Materialien näher betrachtet werden.

Das Rollenobjekt kann nach Knoedgen unter zwei Aspekten gesehen werden: Man kann fragen, was es ist, und man kann fragen, wie es sich verhält. Das Was ist also die Beschaffenheit des Materials oder Objekts, das Wie beschreibt die Funktion des Ausdrucksmittels in der Darstellung.166 Hier soll zuerst nur nach dem Was gefragt werden.

Insgesamt läßt sich die Art der Figur nach Knoedgen am Abstraktionsgrad der jeweiligen Figuren festmachen. „Sie beginnen im Bereich bildnerisch undefinierter, bedeutungsloser Materialien und führen in einer geraden Linie über wiedererkennbare Alltagsgegenstände bis hin zur anthropomorphen Theaterfigur.“167 Dabei kann das Objekt erstens auf seine bildnerische Beschaffenheit untersucht werden, zweitens auf seine funktionale Beschaffenheit. Die bildnerische Beschaffenheit betrifft die Gestalt des Ausdrucksmittels: „Sie legt die äußere Form des Objektes fest, entscheidet unabhängig von der darstellerischen Funktion, ausschließlich über Identität und Kontinuität der gleichbleibenden Rolle.“168 Die bildnerische Beschaffenheit läßt sich also direkt erkennen, das Objekt muß nicht gespielt werden. Die funktionale Beschaffenheit aber läßt sich nicht direkt erkennen. „Sie betrifft die innere Beweglichkeit des Objektes und entscheidet in erster Linie über die Möglichkeiten der Lebensbehauptung (Animation), in zweiter Linie dann über das Verhalten (Rolle).“169

Nach diese Kriterien lassen sich die Gestaltungsmöglichkeiten nach Knoedgen an einer Achse des Abstraktionsgrades versinnbildlichen.170 Der Verlauf der Abstraktion reicht vom Abbild eines Menschen bis hin zum ungestalteten Material. Der erste Fall wäre z.B. eine Puppe: Diese ist physisch-funktional als auch bildnerisch konkret.171 Was für eine Rolle die Puppe darstellt, kann also bereits festgestellt werden, wenn man auf die äußere Form der Puppe schaut. Dagegen sind die Darstellungsmittel des Material- und Objekttheaters immer bildnerisch abstrakt: „Das Objekttheater abstrahiert [...] bildnerisch von der menschlichen Gestalt“.172 Noch mehr gilt dies für Materialien. Sie sind zusätzlich auch noch funktional abstrakt, also nicht auf bestimmte Bewegungen festgelegt.

Da die bildnerisch konkreten Puppen hier nicht berücksichtigt werden sollen, ist die funktionale Beschaffenheit hier am wichtigsten. Auch hier können nach Knoedgen Abstraktionsgrade unterschieden werden. Es gibt also eine zweite Achse der funktionalen Abstraktion. Diese betrifft das „Repertoire von inneren Bewegungsgesetzen des Materials oder Objekten“173 Nach diesem Kriterium müssen Materialtheater und Objekttheater also unterschieden werden. Das heißt, Objekte sind nach Knoedgen stabile, relativ unbewegliche Gegenstände. Hier kann man z.B. an Steine, Holzklötze, Plastikobjekte, Metallstücke oder Alltagsgegenstände wie Tassen, Kannen oder Bälle denken. Materialien aber sind flexible, verformbare oder amorphe Stoffe. Hier ist also an Tücher, Knetgummi, Sand, Plastikplanen, weiche Bleche oder auch Flüssigkeit zu denken. Es ist klar, daß diese verschiedenen Stoffe verschiedene Bewegungsgesetze haben. So ist eine Plane innerlich beweglicher als ein Metallstück. Außerdem lassen sich immer verschiedene Stufen der Beweglichkeit unterscheiden. Die Achse der funktionalen Abstraktion reicht also von einer stark beweglichen Materialbeschaffenheit (z.B. Sand) bis zu einer starren Form (z.B. einem Holzklotz).

1.2.4 Die Rollendarstellung

Materialien und Objekte lassen sich also nach ihrer Beschaffenheit (dem Was) unterscheiden. Aber die Ausdrucksmittel sollen, wie gesagt, im Figurentheater immer zum Zwecke der Darstellung verwendet werden. Damit kommt das Wie ins Spiel. Wie verhalten sich also nun die verschiedenen Stoffe? Welche Funktion haben Objekte und Materialien in der Darstellung?

Dabei ist wichtig, daß diese Funktion sich nicht direkt erkennen läßt. Die Rolle ist ein „Subjekt-Verhalten von Objekten“, sie muß über ein Eigenverhalten verfügen wenn sie jemals ihre Wirkung beim Zuschauer erzielen soll.“174 Objekte verhalten sich aber normalerweise nicht wie Subjekte. Es muß also erst herausgefunden werden, wie die Figur als handlungsfähige Rolle dargestellt werden kann. Da die Materie erst in der Darstellung zum Rollenträger wird, muß sie „zuerst einmal auf die Möglichkeit der ’Belebung‘ untersucht werden, bevor man im zweiten Schritt erörtern kann, wie sie sich nun eventuell inszenieren lässt“.175 Knoedgen spricht hier von einer Art „’Verhaltensforschung’ im Bereich des Materiellen“.176 Die funktionale Beschaffenheit kommt von innen. Die Beweglichkeit, die die Tätigkeit bestimmt, muß erst durch Experimente herausgefunden werden. „Mit dem Abstraktionsgrad der funktionalen Beschaffenheit [...], mit dem Repertoire von inneren Bewegungsgesetzen des Materials oder Objektes, steht und fällt die Möglichkeit einer Gebärde, einer Aktion, eines darstellbaren Figurentheaters überhaupt“177 Wie also wirkt sich die Beweglichkeit des verwendeten Materials auf das Rollenverhalten aus?

a) Objekte

Wie gesagt, ist ein Objekt ein festes und starres, unveränderliches Material. Sie setzt daher „ein abgegrenztes, scharf umrissenes bildliches Zeichen, das sich von anderen individuell unterscheidet: Dies verleiht ihm räumlichen Anspruch und körperliche Identität.“178 Aufgrund seiner relativen Unbeweglichkeit sind Objekte auch schon sehr festgelegt in ihrem Rollenverhalten. Bei festen Körpern kann eine „Darstellung“, also die gespielte Rolle, „nur von außen appliziert werden: durch erklärende Zutaten wie Geräusche, Töne oder Texte, die die gespielte Rolle behaupten helfen“.179 Das Spiel- und Rollenrepertoire von Objekte ist daher nach Knoedgen stark eingegrenzt, denn das Handlungsmuster ist durch die bildnerische Beschaffenheit solcher Objekte schon festgelegt. „Die Verformung fester Materie ist immer endgültig und damit eine bildnerische Tat. Dennoch können auch starre Gebilde zu ’lebendigen Subjekten’ mit theatralischem Verhalten werden: Wenn man sie durch manipulatorische Kombination oder technische Verbindung zu ’gelenkigen’ Gesamtgestalten zusammenfügt und zu Mit-Gliedern einer darstellerischen Gestalung macht. Dann sind sie in ihrer Summe, in der inneren Beweglichkeit des gegliederten Materials und des darin enthaltenen ’Lebenpotentials’ den verformbaren Materialien vergleichbar.“180

[...]


1 Vgl. Sucher, C. Bernd (Hg.): Theaterlexikon, Bd.2: Epochen, Ensembles, Figuren, Spielformen, Begriffe, Theorie, München 1996; Trilse, Christoph / Hammer, Klaus / Kabel, Rolf (Hg.): Theaterlexikon, Berlin 1978; und Brauneck, Manfred / Schneilin, Gérard (Hg.): Theaterlexikon. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles, Dritte vollständig überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, Hamburg 1992. – Keines dieser Werke enthält einen Eintrag zum Begriff Objekttheater.

2 Verzeichnis lieferbarer Bücher (German Books in Print) 2004/2005, Marketing- und Verlagsservice des Buchhandels GmbH, Frankfurt am Main 2004.

3 Peter Weitzner, Objekttheater. Zur Dramaturgie der Bilder und Figuren, Frankfurt am Main 1993, S.30.

4 Vgl. Hans Hoppe, Das Theater der Gegenstände, Bensberg 1972 (im folgenden zitiert als Hoppe).

5 Vgl. Hoppe, S.7.

6 Hoppe, S.13.

7 Hoppe, S.11.

8 Hoppe, S.26.

9 Hoppe, S. 12f.

10 Hoppe, S.13.

11 Hoppe, S.13.

12 Vgl. Hoppe, S.12 und 13.

13 Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III in: Werke, Frankfurt am Main 1970, Bd. 15.

14 Hoppe, S.14.

15 Vgl. Hoppe, S.13.

16 Hoppe, S. 14.

17 Hoppe, S.14.

18 Vgl. auch Knoedgen, S.100-102.

19 Hoppe, S 15.

20 Hoppe, S.15.

21 Hoppe, S.15.

22 Hoppe, S.7.

23 Hoppe, S.16.

24 Vgl. Hoppe, S.16.

25 Hoppe, S.16.

26 Hoppe, S. 18.

27 Hoppe, S.18.

28 Hoppe, S.18.

29 Vgl. Hoppe, S.17.

30 Hoppe, S.18.

31 Hoppe, S.17.

32 Hoppe, S.21.

33 Hoppe, S.21.

34 Hoppe, S.21f.

35 Hoppe, S.22.

36 Hoppe, S.23.

37 Shakespeare, Die beiden Veroneser, zitiert nach Hoppe, S.23.

38 Hoppe, S.23.

39 Vgl. Hoppe, S.24-25.

40 Hoppe, S.24.

41 Vgl. Hoppe, S.25.

42 Hoppe, S.25.

43 Ebd.

44 Vgl. Hoppe, S.26.

45 Hoppe, S.26f.

46 Hoppe, S.27.

47 Vgl. S.28.

48 Hoppe, S.27.

49 Vgl. Hoppe, S.28.

50 Hoppe, S.29.

51 Hoppe, S.30.

52 Hoppe, S.29. – Später heißt es über die szenische Person: „Durch seine Ungeschicklichkeit und Ohnmacht werden ihm die Alltagsdinge zu eigenmächtigen Gegenspielern. Seinen eigenen Mangel interpretiert er als Vermögen der Gegenstände.“ (Hoppe, S.30)

53 Hoppe, S.30.

54 Hoppe, S.37.

55 Hoppe, S.30.

56 Hoppe, S.37.

57 Hoppe, S.28.

58 Hoppe, S.34.

59 Vgl. Hoppe, S.29.

60 Hoppe, S.37.

61 Hoppe, S.38.

62 Vgl. Hoppe, S.7 und S.38.

63 Vgl. Hoppe, S.39-93.

64 Hoppe, S.50.

65 Vgl. Hoppe, S.50-51.

66 Hoppe, S.46

67 Hoppe, S.90.

68 Hoppe, S.90.

69 Vgl. Hoppe, S.46-47.

70 Hoppe, S.47.

71 Hoppe, S.89.

72 Hoppe, S.90.

73 Hoppe, S.50.

74 Vgl. Hoppe, S.49.

75 Hoppe, S.91.

76 Hoppe, S.91.

77 Vgl. Hoppe, S.56-72.

78 Vgl. Hoppe, S.60-61 (Appia) und S.57-58 (Craig).

79 Hoppe, S.59.

80 Hoppe, S.60.

81 Appia, Das lebende Kunstwerk, zitiert nach: Hoppe, S.60.

82 Hoppe, S.59.

83 Vgl. Hoppe, S.61.

84 Vgl. Hoppe, S.62.

85 Pörtner, Experiment Theater. Chronik und Dokumente, Zürich 1960, S.15, zitiert nach Hoppe, S.61.

86 Hoppe, S.61.

87 Hoppe, S.62.

88 Hoppe, S.62.

89 Vgl. Hoppe, S.63.

90 Hoppe, S.64.

91 Zum folgenden vgl. Hoppe, S.64-67.

92 Hoppe, S.65.

93 Hoppe, S.65.

94 Vgl. Hoppe, S.58.

95 Schlemmer, Bühnen-Elemente. Vortrag (1931), zitiert nach Hoppe, S.65.

96 Vgl. Hoppe, S.66.

97 Schlemmer, Mensch und Kunstfigur, zitiert nach Hoppe, S.65.

98 Schlemmer, Mensch und Kunstfigur, zitiert nach Hoppe, S.66.

99 Schlemmer, Bühnen-Elemente, zitiert nach Hoppe, S.66.

100 Vgl. Hoppe, S.68.

101 Vgl. Hoppe, S.58.

102 Léger, Vortrag über die Schaubühne (1925), zitiert nach: Hoppe, S.69.

103 Hoppe, S.7.

104 Vgl. ebd.

105 Vgl. Hoppe, S.72.

106 Artaud, Die Inszenierung und die Metaphysik, zitiert nach Hoppe, S.70.

107 Artaud, Manifeste pour un théatre avorté, zitiert nach Hoppe, S.71 (Übersetzung Hoppe).

108 Hoppe, S.70.

109 Hoppe, S.71.

110 Vgl. Hoppe, S.69.

111 Artaud, Manifeste pour un théatre avorté, zitiert nach Hoppe, S.71 (Übersetzung Hoppe).

112 Vgl. Hoppe, S.70.

113 Ionesco, Argumente und Argumente, zitiert nach Hoppe, S.108.

114 Hoppe, S.108f.

115 Vgl. Hoppe, 108.

116 Hoppe, S.109f.

117 Hoppe, S.115.

118 Hoppe, S.115.

119 Vgl. Hoppe, S.114.

120 Hoppe, S.115.

121 Vgl. Hoppe, S.116.

122 Ionesco, Interview mit R..Lamont, zitiert nach Hoppe, S.116.

123 Werner Knoedgen: Das Unmögliche Theater. Zur Phänomenologie des Figurentheaters, Stuttgart: Urachhaus 1990 (im folgenden zitiert als Knoedgen).

124 Knoedgen, S.12.

125 Vgl. Knoedgen, S.15-17.

126 Vgl. Knoedgen, Materialtheater, in: Internationale Enzyklopädie des Figurentheaters, hg. v. Henryk Jurkowski, S.1.

127 Vgl. Knoedgen, S.44.

128 Knoedgen, S.46.

129 Knoedgen, S.12.

130 Vgl. Knoedgen, S.44.

131 Knoedgen, S.99.

132 Knoedgen, S.16f.

133 Knoedgen, S.47.

134 Knoedgen, S.47.

135 Vgl. Knoedgen, S.99.

136 Knoedgen, S.68.

137 Knoedgen, S.19.

138 Knoedgen, S.47.

139 Knoedgen, S.20.

140 Knoedgen, S.80.

141 Vgl. Knoedgen, S.82-84.

142 Knodegen, S.104f.

143 Vgl. Knoedgen, S.86-89.

144 Knoedgen, S.117.

145 Knoedgen, S.98.

146 Ebd.

147 Knoedgen, S.80.

148 Knoedgen, S.28.

149 Vgl. Knoedgen, S.77-80.

150 Knoedgen, S.79f.

151 Bei meiner Inszenierung movens ist das der Fall (vgl. Kap.2.1).

152 Knoedgen, S.39

153 Knoedgen, S.77.

154 Vgl. Knoedgen, Materialtheater, in: Internationale Enzyklopädie des Figurentheaters, hg. v. Henryk Jurkowski, S.1.

155 Vgl. ebd., S.2.

156 Knoedgen, S.58.

157 Vgl. Knoedgen, S.53.

158 Knoedgen, S.56.

159 Knoedgen, S.53.

160 Vgl. Knoedgen, S.50.

161 Vgl. Knoedgen, Materialtheater, in: Internationale Enzyklopädie des Figurentheaters, hg. v. Henryk Jurkowski, S.2.

162 Vgl. Knoedgen, S.47.

163 Knoedgen, S.47.

164 Knoedgen, S.61f.

165 double. Magazin für Puppen-, Figuren- und Objekttheater, Nr.1 (2004), S.3.

166 Knoedgen, S.68.

167 Knoedgen, S.64.

168 Knoedgen, S.66.

169 Knoedgen, S.66.

170 Vgl. Knoedgen, S.65-67.

171 Vgl. Knoedgen, Materialtheater, in: Internationale Enzyklopädie des Figurentheaters, hg. v. Henryk Jurkowski, S.2.

172 Ebd.

173 Knoedgen, S.67.

174 Knoedgen, S.20.

175 Knoedgen, S.26.

176 Ebd.

177 Knoedgen, S.67.

178 Knoedgen, S.48.

179 Knoedgen, S.49.

180 Knoedgen, S.49f.

Ende der Leseprobe aus 122 Seiten

Details

Titel
Wege zum Objekttheater
Hochschule
Universität Osnabrück
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
122
Katalognummer
V64421
ISBN (eBook)
9783638572446
ISBN (Buch)
9783638710534
Dateigröße
1933 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Arbeit mit breitem Rand (Anm. der Red.)
Schlagworte
Wege, Objekttheater
Arbeit zitieren
Jakob Bartnik (Autor:in), 2004, Wege zum Objekttheater, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64421

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