"Mitteleuropa im ganzen ist zerschlagen, als sei es eine vergrößerte Balkanhalbinsel,“ schrieb Friedrich Naumann 1918 in der letzten Ausgabe der Zeitschrift „Mitteleuropa“. „Unser ganzes Volk ist frei und unabhängig und tritt, geachtet und gestützt durch die allgemeine Sympathie, in die Geschichte der europäischen Nationen. Leben wir im Märchen?“ fragte Thomáš G. Masaryk im selben Jahr in seiner ersten Rede als Präsident der neu entstandenen Tschechoslowakischen Republik. Diese beiden Aussagen kennzeichnen nicht nur das Ende des Ersten Weltkriegs, sondern auch das vorläufige Ende einer Debatte um die Zukunft des europäischen Kontinents. 1915 war Naumanns Buch „Mitteleuropa“ erschienen und fand in der durch die deutschen Kriegserfolge ausgelösten Euphorie reißenden Absatz. Der national-liberale Politiker forderte einen wirtschaftlichen und militärischen Bund zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn, um so England und Frankreich auf der einen und Russland auf der anderen Seite einen starken mitteleuropäischen Block unter deutscher Führung entgegenzusetzen. Drei Jahre später schrieb Masaryk „Das Neue Europa“, eine essayistisch formulierte Kampfschrift gegen die „pangermanistischen“ Mittelmächte und ein Plädoyer für das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationen, welches allerdings erst 1920 in der Tschechoslowakei, bzw. 1922 auf deutsch erscheinen konnte.
Trotz der stark divergierenden Ansichten innerhalb desselben inhaltlichen Bezugsrahmens und des Antwortcharakters von Masaryks Buch wurde noch keine umfassende vergleichende Studie beider Schriften, geschweige denn beider Persönlichkeiten und ihres Werkes angestellt. Der Verfasser will versuchen, den Vergleich zwischen Naumanns „Mitteleuropa“ und Masaryks „Das neue Europa“ weder nur oberflächlich, noch auf wenige Aspekte beschränkt durchzuführen. Der Vergleich soll vorgenommen werden, indem die Inhalte aus ihren direkten Kontexten gelöst und neu in Beziehung zueinander gesetzt werden. Begriffe und Ereignisse wie der Krieg, Europa, der Westen, Demokratie u.a. sollen als Kriterien mit inhaltlichen Bildern des jeweiligen Autors gefüllt werden und die Argumentationsstrukturen offen gelegt werden.
Letztendlich soll der Vergleich Aspekte des Europa-Diskurses der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorstellen, ergänzt um die Darstellung der Idee von Mitteleuropa vor 1914 und einen kurzen Ausblick auf die diskursive Langlebigkeit dieses mehr fiktionalen als empirischen Gebildes.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Mitteleuropa im 18. und 19. Jahrhundert
- Biographische Überblicke
- Tomáš Garrigue Masaryk
- Friedrich Naumann
- Mitteleuropa zu Beginn des 20. Jahrhunderts
- ,,Mitteleuropa“ gegen „Das neue Europa“
- Bedeutung des Krieges
- Begründung der Europakonzepte
- Charakterisierung der Nachbarvölker
- Charakterisierung der Donaumonarchie
- Charakterisierung des Westens
- Europaverständnis
- Demokratieverständnis
- Ausblick: Mitteleuropa - Tot oder lebendig?
- Schlussbetrachtung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit vergleicht die Schriften „Mitteleuropa“ von Friedrich Naumann und „Das neue Europa“ von Tomáš Garrigue Masaryk und untersucht, wie die beiden Autoren die Zukunft Europas nach dem Ersten Weltkrieg sahen. Der Fokus liegt auf der Analyse der unterschiedlichen Konzepte, die die Autoren für eine Neuordnung des Kontinents vorschlagen.
- Die unterschiedlichen Konzepte von Mitteleuropa und dem neuen Europa
- Der Einfluss des Ersten Weltkriegs auf die Europavisionen der Autoren
- Die Rolle von Nationalismus und Selbstbestimmungsrecht in den Schriften
- Die Charakterisierung der Nachbarvölker und des Westens
- Das Demokratieverständnis der beiden Autoren
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in das Thema ein und stellt die beiden Autoren sowie ihre Schriften vor. Sie beleuchtet die unterschiedlichen Ansichten der beiden Autoren über die Zukunft Europas und die Notwendigkeit eines Vergleichs ihrer Schriften. Das zweite Kapitel analysiert die historische Entwicklung des Begriffs "Mitteleuropa" im 18. und 19. Jahrhundert und beleuchtet die verschiedenen Auffassungen von Mitteleuropa in dieser Zeit. Im dritten Kapitel werden die Biografien der beiden Autoren kurz dargestellt, um ihre politischen Standpunkte im Kontext ihrer Lebensläufe zu verstehen.
Das vierte Kapitel konzentriert sich auf die Situation Mitteleuropas zu Beginn des 20. Jahrhunderts und analysiert die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die die Schriften von Naumann und Masaryk beeinflussten. Das fünfte Kapitel stellt den Kern des Vergleichs dar und vergleicht die beiden Schriften "Mitteleuropa" und "Das neue Europa" in Bezug auf ihre Hauptthemen und Argumentationslinien. Es werden die unterschiedlichen Europavisionen der beiden Autoren analysiert, ihre Auffassungen von Krieg und Demokratie sowie ihre Sicht auf die Nachbarvölker und den Westen. Die Arbeit endet mit einem Ausblick auf die Relevanz des Begriffs "Mitteleuropa" in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Schlüsselwörter
Die zentralen Themen dieser Arbeit sind Mitteleuropa, Europa, Nationalismus, Selbstbestimmungsrecht, Demokratie, der Erste Weltkrieg, Friedrich Naumann, Tomáš Garrigue Masaryk, „Mitteleuropa“, „Das neue Europa“, Pangermanismus, Slavismus.
- Citar trabajo
- Frank Henschel (Autor), 2006, Mitteleuropa gegen das neue Europa - Ein Vergleich der Schriften Friedrich Naumanns und Tomas Garrigue Masaryks, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64439