Grüber, Marthaler, Stein: Drei Regisseure inszenieren Goethes Faust


Mémoire de Maîtrise, 2003

85 Pages, Note: 1,7


Extrait


Inhalt

Einleitung –
Das Faust -Drama als wissenschaftlicher Gegenstand und auf der Bühne

Die Inszenierungen
1. Klaus Michael Grüber inszeniert Faust
Zur Person
Die Aufführung
Form
Reduktion und Langsamkeit
Minettis Faust
a) Die Einsamkeit des Gelehrten
b) Minettis Beitrag
Goethes Tod
Nebenfiguren
a) Mephisto
b) Gretchen
Vorhang
2. Christoph Marthaler inszeniert Goethes Faust Ö 1+2 36
Ratloses Erschrecken
Figuren ?
Die Faust-Anstalt
Traumdeutung
1. Somatische Traumquellen
2. Rezente Traumquellen
3. Infantile Traumquellen
Christoph Marthaler
Musikalischer Ausklang
3. Peter Stein inszeniert Faust I+II
Zur Person Peter Stein
Das Konzept
Das Projekt
Öffentliche Interaktion
Die Aufführung – Steins Faust -Analyse
Schauspiel contra Texttheater
Bühnen – Raumfindung – Bildfindung

Schluß

Literatur- und Quellenverzeichnis

Einleitung

Das Faust -Drama als wissenschaftlicher Gegenstand und auf der Bühne

Johann Wolfgang (von) Goethe wird gemeinhin als Klassiker der deutschen Literaturgeschichte verstanden. Sein Werk wurde und wird noch heute bis ins Unüberschaubare rezipiert, erarbeitet und erforscht, man nennt ihn ehrerbietig den „Dichterfürst“ und betrachtet seine Schriften geradezu als „deutsches Kulturerbe“. Jedes Kind wird spätestens im Deutschunterricht mit dem Vermächtnis des Ausnahmeautors konfrontiert. Selbst den deutschen Sprachgebrauch hat Goethe nachhaltig beeinflußt. Allgemein bekannte Sentenzen, etwa der unzählige Male zitierte Satz des Thoas „Du sprichst ein großes Wort gelassen aus“[1] gehen ebenso auf Goethe zurück, wie bereits sprichwörtlich gewordene Wendungen; „des Pudels Kern“ aus dem Faust (V 1323) sei hier als prominentes Beispiel angeführt. Der Klassiker Goethe ist auch heute noch allgegenwärtige Größe des täglichen Lebens. Nach seinem lateinischen Ursprung (classis – Vorbild) beschreibt die Literaturwissenschaft durch den Terminus „Klassik“ diejenige literarische Epoche, die eine spätere Generation von Autoren und Rezipienten eben als ein Vorbild empfindet. Die Verwendung des Klassik-Begriffs in unserer Zeit impliziert also offenbar eine gewisse literarische Vorbildlichkeit Goethes, die im alltäglichen Umgang mit dem Dichter leider nur all zu oft zur bloßen Phrase verkommt. Denn erst über die Jahrhunderte der Rezeptionsgeschichte ist Goethe heutzutage zum Klassiker avanciert, über Goethes Werk weiß das Etikett „Klassiker“ wenig zu sagen. Zu Goethes Leb- und Wirkzeiten ist der Dichter keineswegs ein Klassiker, vielmehr empfindet er selbst Autoren, die vor seiner Zeit lebten und schrieben als klassisch. Homer, Vergil und deren Zeitgenossen werden als Vorbilder angesehen. Man orientiert sich am literarischen Ideal der Antike. Auch Johann Wolfgang Goethe wird von der Art Literatur beeinflußt, die er als klassisch und damit vorbildlich empfindet. Das Weimarer Projekt des Klassizismus wird geboren. Doch auch diese selbstauferlegte Formel wird von Goethe schließlich kritisch hinterfragt. Indem er, vor allem im Faust II, das Projekt Klassizismus dem Fortschrittsglauben der Moderne gegenüberstellt, gleichzeitig beides künstlerisch verbindet, gerät Goethe die Schöpfung eigenständiger Kultur, die zwar klassische Einwirkungen trägt, mit dem Begriff „klassisch“ wohl auch praktikabel bezeichnet, aber stets nur unzureichend beschrieben wird. Goethes Anliegen, seine Motivation, sein Ausdruck, seine Essenz, was auch immer sein Werk ausmachen mag, beschreibt die Schubladenplakette „Klassik“ in keiner Weise. So ist bereits zu Beginn der Rezeptionsgeschichte seines literarischen Werkes die Bewertung Goethescher Dichtung gefärbt von schwärmerischer Bewunderung des Autorengenies. Mit Goethes Ruhm verbreiten sich Klischees einer einhelligen Goetheverehrung; Schlagworte wie „Genie“,„Meisterwerk“ und später eben „Klassiker“ behindern eine genaue Rezension seiner Werke. Man etikettiert diverse Schubladen: So gilt Iphigenie als Personifizierung der menschenfreundlichen Aufklärung, ihr Gegenüber Thoas letzten Endes als Barbar. Doch sind Sie es in unabänderlicher Konsequenz? Müssen die Goetheschen Figuren nicht wesentlich vielschichtiger und komplexer bewertet werden? Das bürgerlich-traditionelle, klassische Gütesiegel der besagten Vorbildlichkeit, die man Goethes Literatur in schulmeisterlichem Dünkel zuschreibt und gleichzeitig so stillschweigend wie selbstverständlich von ihr erwartet, versperrt lange Zeit den Zugang zu dunkleren Seiten seiner Werke. Goethes Genius soll auch hier nicht im Geringsten bezweifelt werden. Bezweifelt werden muß dagegen eine Lesart, die den Autor gleichsam schönredet, ihn bequem machen will, was er nun einmal nicht ist. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts beginnen beschriebene Lesarten sich erstmals zu ändern. Das allzu saubere und doch reichlich angestaubte Bild vom Vorbild-Autor wird zu Gunsten einer ungleich vielfarbigeren und komplexeren Bilderschau auf Goethe umcollagiert.[2] Karl Jaspers bewertet den Prozeß zusammenfassend wie folgt: „Wir dürfen keinen Menschen vergöttern. Die Zeit des Goethe-Kultus ist vorbei. [...] Unsere freie Freude am Großen [...] darf uns nicht hindern, den Blick auf die Abgründe zu werfen.“[3]

Eben dieser Blick auf die Abgründe, insbesondere aber die Rezeptionsgeschichte eines, in jeder Hinsicht außergewöhnlichen, Goetheschen Dramas vermag zu helfen, das Klassiker-Klischee zu durchbrechen: Gemeint ist das Doppeldrama Faust, das Ausnahmewerk des Ausnahmeautors, das Goethesche Vermächtnis, das kulturstiftende Epos (um nur einige Etiketten aufzuzählen). Faust, das in alle Welt verbreitete, millionenfach gelesene, tausendfach analysierte und rezensierte Mammutwerk, vermag sich, wie der gesamte Goethe-Kosmos, erst ab 1900 vom angesprochenen Meisterwerk-Kultus zu emanzipieren. So bewertete etwa Loewe 1834 den Faust II noch in vollkommener Goethe-Begeisterung:

„Indem [...] Goethe [...] durch erhabene Bilder, starke Metaphern, [...] hinreißende Naturschilderungen, bald an das Buch Hiob, [...] bald an Homer erinnert, bald an den Witz und Geist eines Shakespeare, an die Gluth eines Byron heranstreift, am Schluß sich dem Dante und Klopstock nähert; so ist doch trotz dem das Werk in einem so hohem Grade originell und eigenthümlich, daß es leicht als höchste Zierde des Dichters für alle Zeiten hervorragen dürfte.“[4]

Goethe, der Über-Autor. Auch in der wunderschönen Besprechung des Faust I von Meyer war 1847 noch programmatisch von „erhaben entworfene[r]“[5] Dichtung und „herrlichem Gesange“[6] die Rede. Goethes Drama zeichne sich ganz allgemein durch den „Vortheil der Belehrung“[7] aus. Nicht der Inhalt dieser beispielhaft herangezogenen älteren Analysen, sondern ihr positivistischer Sprachduktus erscheint heute fragwürdig. Ab Beginn des 20. Jahrhundert trifft man auf zunehmend kritische Lesarten des Dramas. Die jüngeren Analysen vertreten weniger euphorische, dafür nüchternere Blickrichtungen[8], wohl auch, weil die Autoren nun einmal Kinder ihrer Zeit sind. Erst mit den Schrecken der (Post-) Moderne wird deutlich, daß Goethe diese im Faust, einer „hellsichtigen Warnung“[9] gleich, vorauszuahnen scheint. Das Werk erweist sich als epochenübergreifend. Die sich selbst auferlegten, klassizistischen Regeln hat der Autor mit dem Faust bekanntlich bereits durchbrochen. „Der klassische Goethe schreibt einen – auch – unklassischen Faust.“[10] Goethes Lebenswerk Faust zeigt also selbst schon die Grenzen einer Lesart auf, die sich auf Stereotype wie die intentionale Programmatik einer künstlerischen Ärenbezeichnung verlassen will. Niemand kann von sich behaupten, seine neuere, kritische Interpretationsidee sei von nun an die einzig gültige. Ein korrektes oder ideales Verstehen des Faust, wie eines jeden Kunstwerks, existiert nicht. Jede textlich fundierte Analyse hat ihre Berechtigung. Allerdings spiegelt sich in einem Großteil der Faust -Rezensionen vor 1900 eine Werkbetrachtung, die von geradezu idealistischer Verklärung des Werks geprägt wird. Die blumig-begeisterten Kommentare sind per se der Begeisterung für Romantik, dem Geiste des Genie-Gedankens näher und vergessen, daß die, die ihn dachten, ihn später kritisch relativierten. Faust, soweit sind wir heute, enthält mehr. Die modernen Blickweisen transportieren das Goethesche Werk in die Gegenwart, stellen seine Veralterungsresistenz neu unter Beweis. Auch die Postmoderne ist ein Zeitalter Faustens, wenn nicht gar seine eigentliche Heimat. Die Zeit der Ehrfurchtsanalysen ist vorbei und das nicht nur in Sachen Faust. Im Zug des 20 Jahrhunderts erfährt mit Goethe die gesamte „klassische“ Literatur eine Neu- und Umbewertung.

Die Rolle des Regietheaters

In unmittelbarem Zusammenhang mit dem eingangs beschriebenen Phänomen kann ein zweites, zeitgleich auftretendes, betrachtet werden. Die Befreiung von Klischees, das Aufbrechen festgefahrener Interpretationsmuster, letztlich die Aufhebung der alten Hierarchie von Wissenschaft und Kunst[11] überhaupt, ist in maßgeblicher Weise dem Aufstieg eines Mediums zu verdanken, dessen Aufgabe von philologischer Seite lange Zeit in der bloßen Reproduktion bereits festgelegter Interpretationsmuster angesehen wurde. Gemeint ist das Theater. Neue Wege der Kunst eröffnen und erfordern neue Wege in der sie bewertenden Wissenschaft. Auf dem Theater werden Dramen wie Faust wieder lebendig, verbinden sich mit dem Zeitgeist der Gegenwart. Auf dem Theater vermag man, eben gerade auch aus wissenschaftlicher Sicht, neue Informationen über scheinbar Bekanntes wieder zu entdecken. Der Aufbruch der Kunstproduzierenden um die vorletzte Jahrhundertwende stellt damit einen wichtigen Faktor bei der beschriebenen Erschließung neuer Deutungen seitens akademischer Kunstbewertung dar. Mit Etablierung und Verbreitung des Projekts „Modernes Regietheater“ gewinnen vorher bis zur schieren Langeweile wiederholte Klassiker ein neues Bühnen-Gesicht. Mit den Reformen Wagners, Craigs oder Reinhardts werden Theaterformen (wieder-) geboren, die neue, von Werktreue-Stereotypen unabhängige Zugänge zu ihrem Gegenstand suchen. So wird auch der Faust-Stoff neu belebt und mit ihm die gesamte klassische Literatur. Die sich im Zuge des Aufstiegs des Regietheaters von der Germanistik ableitende Theaterwissenschaft erkennt die neuen Möglichkeiten, die sich der Forschung im Angesicht des Neuen Theaters eröffnen. Die junge, sich zunächst noch ordnende, akademische Disziplin focussiert bald auf die Betrachtung künstlerischer Drameninterpretationen an den (Regie-) Theatern. Man erkennt die Aufführungsanalyse als wichtigstes hermeneutisches Werkzeug. Primäres Ziel der neuen Wissenschaft ist es, das Theater als autonome Kunstform zu untersuchen und damit auch dazu beizutragen, es als solche zu etablieren; man leistet aber gleichzeitig, quasi nebenbei, unersetzliche Dramenforschung an den Originaltexten . Indem man „die Sprache der Aufführung in Teilen (re-)konstruier[t], um das szenisch Gesagte verstehen zu können“[12], praktiziert man darüber hinaus konkret gegenwartsbezogene, historisch unmittelbare Neuerschließung (klassischer) Literatur. Diese zusätzliche und erhebliche Leistung des Fachs wird selten gewürdigt. Ohne Zweifel stößt die Theaterwissenschaft im Lauf ihres Werdegangs zunehmend auf Inszenierungen, die ihre Dramenvorlage allenfalls noch als grobe Inspiration für eine weitgehend selbstentwickelte Neubearbeitung des Stoffes verwenden. Im postdramatischen Theater wird jenseits des Dramas inszeniert.[13] Aber insbesondere durch Analysen dieser scheinbar nicht am Originaltext interessierten Bearbeitungen, lassen sich Informationen über den gegenwärtigen Stand des Primärwerkes ablesen.

„Das Theater hat unendlich viel mehr Möglichkeiten als die philologische Interpretation, die Dimension eines Stückes sichtbar zu machen.“[14]

Das Drama Faust ist ein Kunstwerk, das sich seit seiner Niederschrift stetig weiterentwickelt hat. Vollendet worden ist und wird es niemals sein. Schon der Autor, der am Projekt Faust sein gesamtes Leben laborierte, nach langen Pausen immer wieder zur Dichtung zurückkehrte, vermochte es nicht, mit dem Stoff endgültig abzuschließen. Im höchstem Alter beendete Goethe der Tragödie zweiten Teil, versiegelte das Manuskript, nur um es kurz darauf wieder hervorzuholen und nachzubessern. Das Werk ließ ihm keine Ruhe. Goethe schien instinktiv zu fühlen, daß sein Faust mehr in sich trägt, als selbst er, sein eigener Schöpfer, je ermessen könnte. Das Werk weiß mehr als sein Autor. Schon zu Goethes Lebzeiten erfährt es zahlreiche Wandlungen.

„Die vielfach gebrochene Entstehungsgeschichte bestimmt den Charakter und die Struktur des Werks.“[15]

„Der Faust aber ist weder nach Inhalt noch nach Form das Erzeugnis eines einzelnen bestimmten Lebensalters und einer in diesem Lebensalter für endgültig erkanten Kunstanschauung. Deshalb gibt es für diese Dichtung keinen verbindlichen Maßstab, sie ist ´inkommensurabel´“[16]

Und so wie bereits Goethe seine Schöpfung in ihrer überwältigenden Vielfalt als „inkommensurabel“ erfuhr und bezeichnete, so nimmt das Theater heute noch die Weiterverarbeitung der Dichtung auf. Der von Goethe genial verdichtete Faust-Stoff wird im Theater Inszenierung für Inszenierung weiterentwickelt, weitergespielt, weitergeträumt. Gleich einer nie versiegenden Quelle liefern die Bühnen neue Ideen zu Stücken wie Faust die ansonsten, als Klassiker etikettiert, verstaubten. Die Theaterwissenschaft vermag indes, in der Analyse dieser neuen Ideen, bisher unbekannte Blickrichtungen auf scheinbar längst Bekanntes zu werfen. Die Aufführungsanalyse behandelt also mehr als ihren eigentlichen Gegenstand, die Aufführung. Sie trägt dazu bei, neue Deutungsansätze des Theaters wissenschaftlich nutzbar zu machen, und das wohlgemerkt, auch für die klassische Dramenforschung. Es ist mir wichtig, auf diesen Sachverhalt hinzuweisen, da für gewöhnlich der umgekehrte Weg gegangen wird, d.h. vom Drama zur Aufführung: Man analysiert eine Aufführung unter Berücksichtigung ihrer dramatischen Vorlage. Auch das war nicht immer selbstverständlich. Guido Hiß plädierte 1993 für dieses Verfahren und nannte es Transformationsanalyse.

„Das heißt gerade nicht, das Theater auf Drama reduziert wird. Transformationsanalyse respektiert allerdings dramatisch-sprachliche Elemente als überaus wichtigen Bestandteil der Aufführung und nimmt sie als Fokus für die Korrespondenzuntersuchung.[17]

Jeder Aufführung des Faust, um im Beispiel zu bleiben, liegt ein Drama zu Grunde, das seit Jahrhunderten in einem komplexen sozial-historischen Prozeß der Kunstentwicklung und Betrachtung steht. Eine völlige Nichtbeachtung des dramatischen Elements, erscheint einer entsprechenden Aufführungsanalyse durchaus abträglich. Auch wenn im Einzelfall die schiere Masse der Faust -Bezüge unmöglich erschöpfend nachgewiesen werden kann, so bezieht sich doch jede Faust-Inszenierung in irgendeiner Form auf die Goethe-Dichtung. Zumindest die Eigenarten dieses Bezugs, die Deutung des Originalwerks durch die Aufführung, sollte Aufführungsanalyse, insbesondere im Falle der Inszenierung klassischer Texte, beleuchten. Darum will sich auch die vorliegende Arbeit bemühen. Die Beziehung Drama-Aufführung wirkt dabei durchaus in zweierlei Richtung. Wie der dramatische Text einer Aufführung als sprachliche Vorlage dient, macht eine Aufführung ebenso eine Aussage über den gegenwärtigen Stand ihres Primärtextes. Eine Analyse sollte auch das reflektieren. Theater und Drama beeinflussen sich wechselwirkend gegenseitig. Wissenschaftliche Aufführungsanalyse kann vermittelnd zwischen beiden stehen und ihrerseits zur Hinterfragung, bzw. Vermeidung klassischer Klischees und stereotyper Interpretationen beitragen.[18]

Theateruntauglichkeit ?

Interessanterweise galt gerade Goethes „Dramenungetüm“Faust, das heute längst als (Bühnen-)Klassiker gehandelt wird, lange Zeit als theateruntauglich. So erfolgt die Erstaufführung des Faust I, geleitet von Goethes Sekretär Johann Peter Eckermann, erst im Jahre 1829 in Braunschweig, mehr als zwei Jahrzehnte nachdem Goethe das Manuskript im Jahre 1806 abgeschlossen hat. Noch schwerer tut man sich, den als schwierig geltenden zweiten Teil auf die Bühne zu bringen; beide Teile zusammen sind erst 1875/76, 44 Jahre nach Goethes Tod, in Weimar zu sehen. Doch hat der Autor wohl selbst „von Haus aus gar nicht an eine Aufführung auf der Bühne gedacht“.[19] Zum Lesen oder Vorlesen taugt ihm das Drama wohl, jedoch für die Bühne „steht es gar zu weit von theatralischer Vorstellung ab“.[20] Goethes Einwände gegen Faust auf der Bühne sind nicht etwa dramaturgischer, sondern eigentlich rein praktischer Natur. Eine wortgenaue Darstellung des Stückes erfordert auch heute noch allerlei bühnentechnische Raffinessen.[21]

„Drum Schonet mir an diesem Tag

Prospekte nicht und nicht Maschinen.“ (V 233f.)

Das Wort des Direktors aus dem Vorspiel auf dem Theater kann die bühnentechnischen Erforderungen des Werkes in selbstreflexiver Vorausschau beschildern. Zahlreiche szenische Wechsel erfordern komplizierte Umbauten; das Erscheinen des Erdgeistes, die Hexenküche, die Walpurgisnacht, vor allem aber die Massenszenen im zweiten Teil, die Mummenschanz im Weitläufige[n] Saal, die Klassische Walpurgisnacht (insbesondere die Felsbuchten -Szene), schließlich die abschließende Bergschluchten -Szene verlangen einen erheblichen technischen Aufwand. „Es würde ein sehr großes Theater erfordern“[22], stellt der erfahrene Theatermann Johann Wolfgang Goethe fest. Und trotzdem – der Faust ist ein lupenreines Bühnenstück. Sind die technischen Schwierigkeiten einmal in Angriff genommen, erweist sich das Drama durchaus als theatertauglich, sogar als äußerst publikumswirksam. Nach seiner begeistert aufgenommenen Uraufführung tritt das Stück einen Siegeszug an, der seinesgleichen sucht. Sein Ruhm verbreitet sich, wie der seines Verfassers, um die ganze Welt. Wird es nach seinem Erscheinen zunächst nur sporadisch aufgeführt, gehört es 100 Jahre später bereits zum Spielplan eines jeden großen Hauses im deutschsprachigen Raum. Heute ist es eines der meistgespielten Stücke der Dramengeschichte des Sprechtheaters, ein Klassiker, wie Goethe selbst. Faust ist ein großer Theaterstoff, das Stück führt, hochgradig selbstreflexiv, eine Vielzahl von Theatermitteln vor, zeigt Theater im Theater und das in mannigfaltigster Ausprägung:

„Seine [Goethes] Faustdichtung erinnert an das Puppentheater wie an die Wanderbühne, zitiert mit dem Prolog im Himmel die großen christlichen Mysterienspiele und holt in die Nacht -Szene das mittelalterliche Osterspiel hinein, stellt in den Margareten-Szenen des ersten Teils ein neuzeitlich Bürgerliches Trauerspiel vor und bildet im Helena-Akt des zweiten Teils die antike Tragödie nach, nimmt das dionysische Satyrspiel in sich auf, die Zauberposse, das Rüpel- und Stegreifspiel oder die Moralität, ebenso die Textsorten der Revue, der Maskerade, des Umzugspiels oder des höfischen und des kultischen Festes.“[23]

Vom eindringlichen Monolog bis zur turbulenten Massenszene, „der Faust ist ein mit `vollkommener Bretterkenntnis´ verfasste[s] Bühnenspiel.“[24] Darüber hinaus bleibt das durchaus effektvolle Theaterstück Faust bleibt ein komplexes dichterisches Meisterwerk, es transportiert seine Inhalte gleichsam mit und durch die Prospekte und Maschinen:

„Wenn es nur so ist, daß die Menge der Zuschauer Freude an der Erscheinung hat; dem

Eingeweihten wird zugleich der höhere Sinn nicht entgehen[...].“[25]

Die „Eingeweihten“ rätseln heute noch. Im Verlauf seiner Wirkungsgeschichte bleibt der Faust stets beides zugleich: Publikumsmagnet auf dem Theater und aktueller wissenschaftlicher Gegenstand an den Universitäten.

Zur Aufführungsgeschichte

Bernd Mahl hat die Aufführungsgeschichte des Faust chronologisch archiviert.[26] Werfen wir mit ihm einen kurzen Blick auf die Historie der Darstellungen des Dramas auf dem Theater. Als erster bemüht sich Goethes Freund Eckermann um eine (Ur-) Aufführung des Werkes (S.o.). Die erste Aufführung beider Teile zusammen initiiert Otto Devrient 1876 am Weimarer Hoftheater als Bühnenfestspiel; „wesentliche[r] Makel: ein starre[r], dreigliedrige[r] Bühnenbau“[27], nachempfunden einer mittelalterlichen Mysterienbühne, auf welcher die Vielschichtigkeit der Goetheschen Vorlage nur unzureichend umgesetzt werden kann.[28] Auch Richard Wagner fordert, Faust müsse aus dem alltäglichen Theaterbetrieb gelöst, als Festspiel, gegeben werden. Er weist gleichzeitig aber darauf hin, daß das Stück „eine Dramaturgie aufweist, die dem alten Kulissentheater elementar widerspricht.“[29] Erst im 20. Jahrhundert, mit Etablierung des neuen Regietheaters, nähert man sich einer Lösung der Bühnenanforderungen des Werks. Max Reinhardt bearbeitet das Raumproblem ebenso elegant wie technisch anspruchsvoll: In seiner denkwürdigen Inszenierung von 1909 am Deutschen Theater Berlin nutzt Reinhardt die Möglichkeiten der wiederentdeckten Drehbühne[30] ; 1933 läßt er gar eine ganze, simultan bespielbare Faust-Stadt in die Salzburger Felsenreiterschule hineinbauen.[31] Die Inszenierung, „ein Höhepunkt in Reinhardts Schaffen“[32], kann allerdings nur einen Sommer gegeben werden, da Reinhardt im selben Jahr ins Exil nach den USA fliehen muß. Die nationalsozialistische Gleichschaltung Deutschlands erfaßt das Theater und so muß Mahls Chronik in den folgenden Jahren der NS-Diktatur vorwiegend ideologisierte Bearbeitungen des Faust-Stoff verzeichnen. Karl Wüstenhagen zeigt beispielsweise im Kriegsjahr 1940 am Staatsschauspielhaus Hamburg, ganz im Sinne der Goebbelschen Kriegspropaganda, einen Faust als siegreichen Eroberer.[33] Nach dem Weltkrieg bearbeitet auch Bertolt Brecht den Faust politisch, allerdings läßt er 1953 in (Ost-) Berlin einen kapitalistisch-egoistischen (Ur -) Faust als episches Lehrstück vorführen.[34] Gustaf Gründgens liefert 1957/58 in Hamburg eine abstrahierte, zeitkritische Variante des Dramas, „moderne Regie“, die in Gastspielen auf der ganzen Welt umjubelt wird.[35] Man wagt sich zunehmend an neue Bühnenformen: Klaus Michael Grüber verlegt 1975 den Faust- Stoff in Faust Salpêtrière in 6 Räume einer Pariser Krankenhauskapelle, welche die Zuschauer nacheinander durchwandern.[36] Claus Peymann veranstaltet 1977 in Stuttgart ein fulminantes Faust-„Weltspiel“ auf der „variationsreichsten ´Bühne´, die je für ein Faust-Spiel konzipiert worden ist“.[37] Aber nicht nur die Raumfindung zur Goetheschen Vorlage inspiriert zu immer neuen Ideen, auch die dramaturgische Interpretation der Figurenkonstellation des Dramas erweist sich als kraftvolles, theatralisches Gestaltungselement. So kann der Zuschauer bei Engel 1990 in Dresden erleben, wie Faust und Mephisto gleich mehrmals die Rollen tauschen; eine politische Inszenierung, die gleichzeitig das Staatstheater der DDR verabschiedet und den Weg freimacht für weitere Experimentierungen mit Faust.[38] Bei Schleef wird Faust im gleichen Jahr in Frankfurt gleich von 11, Gretchen von 12 Schauspielern/innen dargestellt[39], Marthaler läßt in seiner „triumphale[n] Wurzelzieherei“ 1993 am Hamburger Schauspielhaus 13 Mephistopheli und noch immerhin 4 Gretchen auftreten.[40] Zur Bühnenrealisierung des zweiten Teils des Faust, oder gar beider Teile zusammen, bleibt das größte Problem aber ein rein praktisches: der schiere Umfang des Textes. Bereits Eckermann versuchte, dafür eine Lösung zu finden; sein Vorschlag: den Faust II als Trilogie zu behandeln und an drei aufeinanderfolgenden Tagen zu geben.[41] Gründgens ließ 1957/58 in Hamburg etwa 50 % des ersten und 70 % des zweiten Teils streichen, um sie dann an zwei Abenden auf die Bühne bringen zu können, ebenso verfuhr Peymann in Stuttgart (1975). Reinhardts Version des Faust II dauerte 1911 in Berlin nach etlichen Kürzungen immer noch volle 8 Stunden. Engel ließ 1990 in Dresden das verkürzte Gesamtwerk an drei aufeinanderfolgenden Abenden geben. Auf der EXPO 2000 in Hannover wagte Peter Stein schließlich als erster, beide Teile des Stücks vollkommen ungekürzt aufzuführen, heraus kam ein 21 Stunden langer „Faust-Marathon“.[42]

Nach zahlreichen Bearbeitungen ist die „extrem starke dramatische Kraft“[43] des Textes bis heute ungebrochen, sie wird im Grunde erst „seit den 70er Jahren unseres [des 20.] Jahrhunderts in ihrer ganzen Vielfalt erschlossen“.[44] Das ewig unvollendete Meisterwerk ist auch weiterhin auf Entwicklung ausgelegt und angewiesen. Bereits der Autor scheint „bezüglich der theatralen Deutung des Faust auf Generationen in der fernen Zukunft“[45] zu vertrauen. Auf den deutschen Bühnen hat diese Zukunft längst begonnen.

Neue Ansätze

Auch in junger Vergangenheit sind höchst interessante Regie-Arbeiten zum Faust entstanden, die durch ihre einzigartigen Lesarten wieder zu neuen Überlegungen über das Primärwerk anregen. Es sind frische Impulse, die streckenweise jegliche Ehrfurcht vor ihrer Vorlage verloren zu haben scheinen, eben weil sie sich, heute völlig selbstverständlich, als eigenständige Werke begreifen. Gerade in den letzten zwei Jahrzehnten, die stark vom politischen Wandel Europas geprägt wurden, hat sich auch die deutschsprachige Theaterlandschaft verändert und weiterentwickelt. Drei Inszenierungen der letzten 20 Jahre hat die vorliegende Arbeit zur Analyse ausgewählt, auch, um dazu beizutragen, ihr einzigartiges Goethe-Verständnis für die Nachwelt zu dokumentieren: Klaus Michael Grübers Faust (I), Inszenierung an der Freien Volksbühne Berlin, 1982; Christoph Marthalers Goethes Faust Ö 1+2 am Hamburger Schauspielhaus, 1993, und Peter Steins Faust (I+II) auf der EXPO 2000, Hannover. Die drei prominenten Inszenierungen nähern sich dem Faust-Stoff auf Wegen, wie sie unterschiedlicher wohl kaum sein können. Sind die Regieansätze auch extrem verschieden, teilweise geradezu widersprüchlich, so lassen sich die Inszenierungen aber auf der Ebene ihrer gesellschaftlichen Interaktion durchaus als verwandt betrachten: Alle drei Regisseure sehen sich vor Beginn ihrer Arbeit einem gewissen gesellschaftlichen Erwartungsdruck ausgesetzt. Grüber inszeniert seinen Faust im Goethejahr 1982 anläßlich der Feierlichkeiten zum 150. Todestag des Dichters; man plant, die Premiere aus Berlin live im Zweiten Deutschen Fernsehen zu übertragen[46] und erwartet vom Regisseur offenbar etwas „Festliches“. Marthaler inszeniert 1993 am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, daß seit Gründgens umjubelter Fassung von 1957 keinen Faust mehr gesehen hat. Ganz Theaterdeutschland ist gespannt, ob der verschrobene Schweizer sein schweres Erbe denn auch in würdiger Nachfolge antreten kann. Stein sieht sich schließlich angesichts seines EXPO FAUST, den er in exorbitanten 21 h vollkommen ungekürzt geben läßt, einem gigantischen Medieninteresse gegenüber, welches er allerdings selbst mit entfesselt hat, entfesseln mußte, um das nötige Geld für sein Megaprojekt aufzutreiben. Bei Stein freuen sich die EXPO-Touristen auf etwas Spektakulär-Monumentales. Ein gewisser äußerer Druck lastet bei allen öffentlichen Theateraufführungen in irgendeiner Form auf den Verantwortlichen, insbesondere, wenn es dabei um Faust, das „Drama der Deutschen“, gehen soll; in den drei hier vorliegenden Fällen tritt dieser äußere Druck allerdings besonders ausgeprägt zu Tage. Nur konsequent, wenn zumindest zwei der Regisseure, nämlich Grüber und Marthaler, die korsettartigen, bürgerlichen Erwartungshaltungen sprengen und ihrem Publikum gerade nicht das liefern, was es vielleicht gerne sehen würde. Auch Steins Spektakel fällt vielleicht weniger spektakulär aus, als sich mancher erhofft hätte. Alle drei Inszenierungen gelten folglich bei Kritik und Publikum gleichermaßen als umstritten, Verrisse und Lobreden wechseln sich ab.

Eine weitere Gemeinsamkeit der Aufführungen: Die einzelnen Regisseure bewegen sich mit ihren Arbeiten auf einer konsequenten, künstlerischen Entwicklungslinie. Die Inszenierungen zeigen nicht unbedingt einen „neuen“ Grüber, Marthaler oder Stein, sondern sie bestätigen eher die inszenierungsästhetische Programmatik, welche die Öffentlichkeit mit den prominenten Regisseuren seit Jahren verbindet. Stein und Grüber galten 1982 bzw. 2000 bereits als bedeutende Vertreter gegenwärtiger Theaterkunst. Marthaler vermochte Anfang der 90er Jahre mit seinen vielbeachteten Theaterabenden „Prohelvetia“ (1993) „MURX!“ (1993) und dem fulminanten Wurzelfaust (1993) seinen internationalen Durchbruch zu festigen und zu etablieren.[47] Keiner der drei beschreitet aber mit dieser Faust Inszenierung einen persönlichen, neuen Weg, alle haben so, oder ähnlich, bereits vorher gearbeitet, wenn auch nicht an diesem Stück. Man kann die drei Inszenierungen also auch als Ergebnis der Entwicklung künstlerischer Methode begreifen, welche der entsprechende Produzent vorher an „kleineren“ Texten ausgebildet hatte.

Ansonsten sind auf den ersten Blick nicht viele Gemeinsamkeiten zu entdecken. Die einzelnen, inszenatorischen Techniken differieren aufs Stärkste. Salopp zusammengefaßt: Grüber „reduziert“, Marthaler „collagiert“ und Stein „megalomanisiert“ den Faust, alle drei bedienen sich zum Erreichen ihres Ziels der verschiedensten, theatralischen Mittel. Es erscheint demnach sinnvoll, die Inszenierungen einzeln und damit jede für sich sprechen zu lassen. Auf Grund ihrer Verschiedenheit sollen die Aufführungen auch mit verschiedenen Methoden untersucht werden. Eine genaue Szenen- oder Handlungsanalyse ist bei Grüber möglich, bei Marthaler kaum noch, bei Stein sprengt sie entweder den zur Verfügung stehenden Rahmen oder muß stark selektiv erfolgen. Historische Brennpunkte der Faust-Analyse wie Teufelspakt und Gretchentragödie werden von allen drei Aufführungen vollkommen unterschiedlich, wenn nicht theatralisch konträr bewertet; so wird der Pakt bei Stein noch zelebriert, bei Grüber schon komplett entwertet. Ähnlich verhält es sich mit einer Figurenbesprechung, welche zumindest bei Marthaler an ihre methodischen Grenzen gelangt. Die Bühne lässt sich indessen bei Grüber und Marthaler relativ klar, bei Stein nur selektiv pointiert analysieren, eben weil Stein derer Bühnen so viele verwendet, wie die Interpretation des Stücks hergeben kann. Musik wird bei Marthaler zum maßgeblichen Bestandteil des Gesamtkunstwerks, bei Grüber fehlt sie völlig. Der dramatische Text (von Faust I und II) findet bei Stein ohne eine einzige Streichung, (der von Faust I) bei Grüber in starker Kürzung, bei Marthaler (I + II + Fremdtexte) allenfalls noch als Inspiration für das Wurzelwerk Verwendung. Kurzum, die stark differierenden, inszenatorischen Techniken der einzelnen Gegenstände erfordern von den entsprechenden Analysen eine gewisse Anpassung an die jeweiligen Umstände, gerade wenn hinterher eine vergleichende Zusammenschau auf alle drei möglich werden soll. Die folgenden Aufführungsanalysen werden also jeweils andere Schwerpunkte setzen, welche die jeweilige Analyse benennt und begründet. Die Bewertung öffentlicher Interaktion erscheint bei allen dreien als wichtig und soll demnach einen Platz einnehmen. Auch das Verhältnis zur dramatischen Vorlage findet, im Hinblick auf die angedeutete Vorgeschichte eines Stückes wie Faust, Einklang in die Analyse. Verschiedene historisch/wissenschaftliche Facetten des Faust -Werkes, die an späterer Stelle nicht mehr aufgegriffen werden können, hat die Einleitung angedeutet. Die Darstellung konnte die nahezu unüberschaubare Faust -Problematik aber naturgemäß nur kursorisch berühren, trotzdem aber einen Bedeutungshintergrund der nun zu analysierenden Gegenstände herstellen. Da alle drei Inszenierungen bereits abgespielt sind, bleibt statt einer echten Aufführungs- nur eine Videoanalyse. Der Ereignischarakter der entsprechenden Theateraufführung geht dem Analysierenden dabei selbstverständlich verloren, sein Gegenstand ist flüchtig, das Los der Wissenschaft vom Theater. Das ist selbst dann nicht zu ändern, wenn der Analysierende die Aufführung selbst besucht hätte, was im Übrigen bei keiner der hier behandelten Theaterabende der Fall ist. Von allen Abbildungstechniken erscheint die Videoaufzeichnung indes noch als die beste Möglichkeit, den Geist einer Aufführung einzufangen, sie kann sozusagen als kleinstes Übel gelten.[48] Ergo will sich auch die vorliegende Arbeit in ihr analytisches Schicksal fügen. Ergänzt werden kann das Videomaterial immerhin durch Zeitungskritiken und Fernsehdokumentationen, Monographien über und Interviews mit den Regisseuren. Es kann und soll an dieser Stelle nicht versucht werden, die aufführungsanalytische Methode zu entwickeln, das ist an anderer Stelle hinreichend geschehen.[49] Die Analysen wollen sich keinesfalls all zu tief in theatertheoretischen Modellen verlieren. Der Schwerpunkt muß hier auf Erkenntnisgewinnung am Gegenstand gelegt werden. Die Leistungen der theatertheoretischen Literatur sind unbestritten, können an dieser Stelle aber nur soweit reflektiert werden, wie die Arbeit einen praktischen Nutzen daraus ziehen kann. Die Arbeit nimmt sich also die Freiheit heraus, dasjenige methodische Analysemodell zu verwenden, welches ihrem jeweiligen Gegenstand angemessen erscheint.[50] Insgesamt soll eine Verbindung zwischen Drama und Aufführung grundsätzlich hergestellt werden. Eine komplette dramatische Analyse des Faust kann und will die vorliegende Arbeit nicht leisten. Das Drama soll statt dessen dann ausschnittartig zu Rate gezogen, wenn es im Kontext der Analyse sinnvoll erscheint. Gleichzeitig werden die Aufführungen ihrerseits unterschiedlichen Aufschluß auf ihre dramatische Vorlage geben, wie eingangs angedeutet.

I. Klaus Michael Grüber inszeniert Faust (I)

„Wir brauchen eine bewegende Einfachheit.“[51]

Klaus Michael Grüber

Zur Person

„Klaus Michael Grüber, geboren am 4. Juni 1941 in Neckarelz, Vater Pfarrer. Studium an der

Schauspielschule in Stuttgart, u.a. bei Siegfried Melchinger.“[52]

„Nach zweijährigem Schauspielunterricht in Stuttgart erlernte Klaus Michael Grüber sein Metier als Regieassistent und Mitarbeiter von Giorgio Strehler am Piccolo Teatro di Milano. Sein Regiedebüt gab er dort 1967 mit Brechts „Der Prozess der Jeanne d`Arc zu Rouen“. Anschliessend inszenierte er u.a. am Schauspielhaus Zürich, in Freiburg, Bremen, Stuttgart, Düsseldorf und Frankfurt sowie in Berlin an der Freien Volksbühne und der Schaubühne (Werke von Horváth, Euripides, Hölderlin, Shakespeare, Kleist und Goethe). In Bremen inszenierte er [...] seine ersten Opern. Es folgte [...] Frankfurt, „Die Walküre“ in Paris, „Tannhäuser“ in Florenz, „Parsifal“ in Amsterdam, [...] Florenz, Paris, Brüssel, Madrid und zuletzt in London [...]. In Paris inszenierte er „Faust-Salpêtrière“, an der Comédie Française Racines „Bérénice“, am Théâtre Bouffes du Nord „Zerline“ nach Hermann Broch und in Nanterre „Dantons Tod“. 1986 brachte er am Münchner Residenztheater Eduardo Arroyos „Bantam“ zur Uraufführung. Im gleichen Jahr inszenierte er für die Salzburger Festspiele Peter Handkes Aischylos-Bearbeitung „Prometheus, gefesselt“. Weitere Operninszenierungen [...] für die Salzburger Festspiele, [...] in Paris, [...] in Brüssel, [...] in Amsterdam, [...] und [...] am Zürcher Opernhaus. Klaus Michael Grüber drehte den Film «Fermata Aetna», und er wirkte als Schauspieler in Léos Carax´ Film „Les Amants du Pont Neuf“ mit.“[53]

„Sein Name ist aber besonders mit der Schaubühne am Halleschen Ufer verbunden. Neben Peter Stein prägte Grüber den Stil dieses Ensembles und forderte alle künstlerischen Kräfte durch seine hochartifiziellen Inszenierungen heraus.“[54] “Hier beginnt, zusammen mit den Malern Gilles Aillaud, Eduardo Arroyo und – wenig später – Antonio Recalcati das Erschließen von Räumen außerhalb der Theater.“[55]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Grüber gilt als bedeutender deutscher und internationaler Regisseur, sein Werk wurde preisgekrönt (zuletzt durch den Konrad-Wolf-Preis 2000), war und ist aber stets auch Stein des Anstoßes für Kritik und Publikum gleichermaßen. In seinen oft umstrittenen Arbeiten bricht Grüber mit den Regeln theatral-situativer Konzeption. Indem er gewohnte Vorstellungen zerstört, gelingt ihm der Zugang zu alternativen, gleichzeitig so faszinierenden wie verstörenden Theatererlebnissen. Die Frage „Was ist Theater?“ findet bei Grüber neue, bisher unbekannte Antworten.

Uwe B. Carstensen porträtiert den außergewöhnlichen Regisseur, der wie kein anderer Kritik und Publikum in zwei Lager spaltet, als „Ruinenbaumeister“ des Theaters.[56] Um zu erschaffen, muß er erst zerstören. Grübers Theaterruinen verlangen ihren Betrachtern nicht selten ein gewisses Maß an Kraft und Geduld ab. Das ist nur in seinem Sinne. Er inszeniert für ein Konsum gewöhntes Publikum, dem man, wie er selbst sagt, im Theater „kaum noch beikommen kann.“[57] Um es doch zu einer Reaktion zu bewegen, sucht der Meister der Schlichtheit nach neuen Aufführmethoden. Kritiker kommentieren hingegen: „Je weniger man sieht und hört, um so besser.“[58] Tatsächlich ist es auf den Bühnen, die in langjähriger Zusammenarbeit vor allem mit Gilles Aillaud entstehen, nur zu oft reichlich dunkel. Grüber will derartige Reduktionen allerdings als Focussierung verstanden wissen. Mit seinem Prinzip einer „bewegenden Einfachheit“ versucht er den Blick wieder auf das (ihm) Wesentliche zu lenken. Indem Grüber in seiner Eigenschaft als Regisseur einen Schritt zurückgeht, rückt er das dramatische Werk in den Vordergrund. So spielt er seinen Schauspielern ihre Rollen nicht vor, sondern läßt sie diese selbst entwickeln. Nicht alle kommen mit dieser Arbeitsmethode zurecht.[59] Andere danken ihm den Freiraum.[60] Im Verlauf seines Werdegangs stellt Grüber die eigene Person immer mehr in den Hintergrund seiner Bühnenarbeit. Seit mehr als zehn Jahren äußert er sich gar nicht mehr öffentlich zu seinen Inszenierungen. „Ich weigere mich grundsätzlich über meine Arbeit zu sprechen.“[61] Peter von Becker, ehemaliger Herausgeber der Zeitschrift Theater heute, nennt ihn 1996

„eine[n] der letzten großen Theatererfinder. Seine Bilder und Inbilder entspringen nicht der Technik, nicht der elektronischen Welt, sondern ganz altehrwürdig der Inspiration. Manchmal gar: einem visionären Traum vom Theater. Vom Leben.“[62]

Grübers jüngste Inszenierung ist Mozarts Don Giovanni im Rahmen der Ruhrtriennale im Oktober 2002 in Recklinghausen.

Die Aufführung

Klaus Michael Grübers zweite Faust Inszenierung[63] gelangt am 23. März 1982 an der Freien Volksbühne Berlin unter dem schlichten Titel „Faust“ zur Erstaufführung. In der Titelrolle ist der damals bereits 77 jährige „Gipfelschauspieler“[64] Bernhard Minetti zu sehen. Das Premierendatum markiert gleichzeitig den 150. Todestag des Autors der dramatischen Vorlage, Johann Wolfgang von Goethes. Der festliche Anlaß des Goethejahres 1982 gereicht Regisseur Grüber für seine Faust Neuinszenierung gleichermaßen zu Ehren und Bürden. Das Ausnahmewerk Faust macht sich bereits im Vorfeld der Premiere in seiner Eigenschaft als identitätsstiftende Säule des deutschsprachigen Bildungsbürgertums bemerkbar: Beim Zweiten Deutschen Fernsehen wird eine Live-Übertragung der Premiere im Eurovisionsformat geplant. Man entschließt sich kurz zuvor aber, auf Grund von Befürchtungen „negative[r] Reaktionen des Publikums“[65], wohlweislich für eine zeitgleich zur Premiere ausgestrahlte, aber vorher produzierte Aufzeichnung des Stücks. Die Angst der ZDF-Redakteure erweist sich als durchaus begründet, denn die Aufführung wird am Premierenabend vom Berliner Publikum mehr als kritisch aufgenommen. Zahlreiche Zwischenrufe, „Lauter!“, „Mehr Licht!“ oder gar „Es ist noch Publikum da!“ stören die Aufführung. Am Ende gibt es gellende „Buhs“ aber auch einige „Bravos“. Das Berliner Publikum erwartete womöglich ein Goethe-Festspiel, vielleicht hätte man auch eine „modern-kritische Neuinszenierung“ akzeptiert, wohl kaum aber konnten die Zuschauer den scheinbar völligen inszenatorischen Ausschluß von der Bühnendarstellung „ihres“Faust akzeptieren. Genau das hatte Grüber getan. Der Regisseur sah im festlichen Rahmen der Inszenierung nicht den geringsten Anlaß zu Ehrfurcht vor bürgerlichem Erwartungsdruck und auch seine Aufführung zeigte sich am elementaren Bedürfnis eines Theaterpublikums, nämlich ein Stück mitzuerleben, nicht unbedingt interessiert. Das hatte einige Volksbühnen-Abonnenten offenbar verärgert. Auch die Presse beurteilte die Aufführung zwiespältig, tendierte insgesamt aber doch zu anerkennender Akzeptanz der Premiere. So wurde in der WELT zwar von einem „qualvollen Abend“[66] berichtet, in der ZEIT wird daraus immerhin „ein quälender, [aber] ein befreiender Abend“[67]. Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG attestierte Grüber sogar eine „überwältigend sensible [...] Hellhörigkeit“[68] im Umgang mit dem Faust. Aber auch da, wo die Inszenierung respektierende Worte findet, man möchte fast sagen, da, wo sie verstanden wird, stellen die Autoren stets den extrem publikumsfeindlichen Charakter der Berliner Aufführung fest. „Requiem auf ein Stück“ hieß es in der FRANKFURTER RUNDSCHAU[69] und Joachim Kaiser nannte die gar zu unfestliche Goethe-Feier an der Volksbühne in der SÜDDEUTSCHEN eine „Anti-Festaufführung“.[70] Trotz negativer Presse wird die Aufführung aber zum Berliner Theatertreffen eingeladen und von den Autoren der Zeitschrift Theater heute als eine der außergewöhnlichen und besten Inszenierungen des Jahres 1982 vorgeschlagen. Klaus Michael Grüber wird als „überragende[r] ´Regisseur´ des deutschsprachigen Theaters“[71] gelobt und Bernhard Minettis darstellerische Leistung wird als „einzig“ anerkannt.[72] Am Premierenabend ließ sich der Regisseur allerdings nicht auf der Bühne blicken, aber das ist in Grübers Fall wohl nicht unbedingt außergewöhnlich. Beim Publikum durchgefallen, in der Fachpresse gefeiert. Wie kam es zu den extrem unterschiedlichen Bewertungen dieser Aufführung?

Form

Wenn zu Beginn der Aufführung Kurt Hübner, Intendant des Hauses, mit gemessenen, hallenden Schritten die Bühne betritt und „betont undeklamatorisch“[73] aus dem Reclam-Heft die Zueignung vorliest, stößt das beim Volksbühnenpublikum noch auf allgemeine Akzeptanz. Das der Aufführung entgegengebrachte Wohlwollen soll nach Hübners Abgang aber bald verschwinden. Dabei kann man Teile der Zueignung bereits als Vorausdeutung auf noch Kommendes bewerten: „manche liebe Schatten steigen auf“ (V 10) – der Vers, der eigentlich die Reanimierung dramatischer Figuren im Geiste eines imaginären Faust-Dichters beschreibt, kann nach Hübners Auftritt, der die Zueignung mit einer gewissen schauspielerischen Befremdung angeht, als programmatischer Titel des nun folgenden Theaterabends gelten: Schattentheater, Todestheater wird heute gegeben. Hinter Hübner, an diesem Abend Grübers Chef, hängt ein schwerer, blutroter Samtvorhang, altmodisch, barock und staubig. Man möchte meinen, das anachronistische Textil müsse eigentlich längst abgespielt im Fundus verrotten. Wie für eine Ausstellung ist es hier wieder hervorgeholt und zur Schau gestellt worden, ein teils finsterer, teils grotesker Vorgeschmack auf die hinter ihm wartenden „schwankende[n] Gestalten“ [V1]. Goethes 1797 verfasstes Gedicht Zueignung, seine schriftstellerische Wiederannährung an die Faust-Dichtung nach jahrzehntelanger Schreibpause, erklingt in Hübners emotionslosem Vortrag wie ein nüchterner Nachruf auf etwas längst Vergangenes. Die Präsenz eines Todesmotivs wird spürbar und das im Verlauf der Aufführung nicht zum letzten Mal. Hübner geht ab. Peter Fitz, den wir später als Mephisto erkennen werden, zieht den schweren Vorhang quälend langsam auf – ein Seilzug, der das erleichtern könnte, existiert offenbar längst nicht mehr. Überhaupt gelangt in dieser Aufführung nur die elementarste Bühnentechnik zur Anwendung. Der Blick auf die Guckkastenbühne wird frei, d.h., er würde, wenn man da etwas sehen könnte. Das von Gilles Aillaud gestaltete Bühnenbild präsentiert sich indes dunkel und karg. Schemenhaft vermag man schließlich eine spartanische Kulisse auszumachen: Hinten zentral ein Schreibtisch mit Federkiel, Büchern und Totenschädel; ein Kaminfeuer links daneben; rechts vorn eine ca. 70 cm durchmessende Glaskugel, dahinter der jetzt geraffte, rote Vorhang; spärliches, diffuses Licht in der Mitte der Szene; der Rest der Bühne ist pechschwarz und dunkel – „das heißt eine Welt!“(V 409), die Gelehrtenkammer. Die Bühne für die Studierzimmerszenen gestaltete Aillaud, mit dem Grüber seit Jahren eng zusammenarbeitete, sogar noch vergleichsweise aufwendig. Für Gretchens Zimmer reicht ihm hingegen ein einzelner Stuhl, für den Dom ein kleiner Altar, für den Kerker gar ein bloßer Lichtkegel. Bernhard Minetti als Faust ist jetzt zu sehen, er sitzt grübelnd am Schreibtisch, trägt einen etwas abgetragenen Frack im Biedermeier-Stil. Faust steht auf, geht auf der Bühne auf und ab, schreitet die Stationen seiner Welt ab. Kugel, Vorhang, Schreibtisch, Kamin. Vorn links erscheint plötzlich ein kreisrunder Verfolgerspot aus der Zwischendecke. Nach einigem Zögern tritt Faust hinein und erhebt erstmals seine Stimme. Der jetzt mit „Habe nun, ach!“ beginnende Monolog konfrontiert das Publikum endlich mit dem unbestreitbar kontroversesten Element der Grüberschen Inszenierung. Ich neologisiere es „ungeschminkten Minettismus“. Ungeschminkt, weil der Maskenbildner an diesem Faust nicht viel zu verschönern hat. Minetti ist und Faust bleibt ein Greis. „Minettismus“ weil Grüber durch und mit Bernhard Minetti dem Faust-Part und damit der gesamten Aufführung einen unverkennbaren Stempel aufgedrückt hat. Minettis Faust unter Grübers Regie ist wahrscheinlich der erste der nicht hinter dem eigentlichen Publikumsliebling und Sympathieträger des Stückes, Mephistopheles, verblassend zurückbleibt, sondern die gesamte Aufführung dominierend prägt. Diese Dominanz hat in ihrer handwerklich eher ambivalenten Ausprägung nicht jedem gefallen. Wenn Hübner in der Zueignung das „lischpelnd [sic!] Lied“ des Dichters beschreibt, so fragt man sich spätestens beim ersten Monolog Faustens, ob das wohl ein zufälliger Versprecher oder ein Vorgeschmack auf Bernhard Minettis Sprechschwächen sein sollte. Dem greisen Darsteller unterlaufen nur all zu oft artikulatorische Patzer. Die eindringlichsten Verse der faustischen Weltverzweiflung werden in Berlin verlacht. „Ein Mund wird zur Dampflok“[74] höhnte Schmidt-Mühlisch später in der WELT. Minetti spricht leise, mit gebrochener Stimme, er nuschelt, wirkt bei Zeiten tattrig, fast senil. Obendrein findet die erlösende Verjüngung des greisen Faust bei Grüber nicht statt. Faust bleibt uralt und dementsprechend unverändert bleibt auch Minettis Sprechweise. Obwohl stellenweise unverständlich, erreicht die Figur trotz alledem insbesondere in den Studierzimmerszenen eine Intensität und Bühnenpräsenz, die in Minetti den großen Mimen wiedererkennen läßt. Der Altmeister der Theaterkunst spielt seinen Uralt-Faust mit grimmiger Entschlossenheit. Eindringlich, kraftvoll beschwörend ertönen die Goetheschen Verse, wenn auch nicht durchgehend klar artikuliert. Ein besessener, ein verzweifelter Alter ist da zu sehen. Vielleicht war diese schiere Energie, die sich hinter der Altersmaske des Grüber-Faust verbarg, schwer zu ertragen. Vielleicht mußte sich das Berliner Publikum seine Beklemmung vom Halse lachen. Insgesamt bekam man offensichtlich nicht den Faust geboten, den man erwartet hatte. Bald folgen die Zwischenrufe „Lauter!“, „Heller“, etc. Minetti spielt weiter, einmal kommentiert er sogar das „Lauter!“, „mit Hochmut und Bescheidenheit zugleich: ´Ich will es versuchen, aber ich weiß nicht, ob es dann besser wird´“[75], entschuldigt er sich bei seinen Zuschauern. Volle 50 Minuten braucht die Aufführung bis sie Peter Fitz als Mephisto zum zweiten Mal erscheinen läßt. Der ist sogar noch undeutlicher als Faust, aber nicht im rhetorischen, sondern im optischen Sinne. Stets im Dunkeln wird sein Gesicht von einem ständigen Schatten bedeckt. Tritt er doch einmal ins Licht, verdeckt er es mit der Hand, als ob er geblendet werde. Wie ein Schatten Fausts huscht er über die Bühne. Auch seine Reden sind schattenhaft leise: stotternd und stockend, monoton und kalt klingt Fitz´ Stimme aus der Dunkelheit, so als wolle sie nicht mehr verführen, sondern liefere lediglich einen nüchternen Bericht über allgemein Bekanntes ab. In Grübers Version bleibt der bei Gründgens ehemals feurig-eitle Mephistopheles ein anzugtragender, blutloser Beamtenteufel. Fitz beweist mit seiner Darstellung Mut und Bescheidenheit zugleich, sein Mephisto-Schatten überläßt Minettis Faust das ohnehin spärliche Bühnenlicht und degradiert sich damit selbst zur Nebenrolle.

[...]


[1] Goethe, Johann Wolfgang: Iphigenie auf Tauris. Ein Schauspiel. In: Hesse, Bettina (Hrsg.): Johann Wolfgang von Goethe. Werkausgabe in zehn Bänden. Köln 1997. Bd. II, S. 340

[2] Ein repräsentativer Überblick über die mehr als umfangreiche Forschungsliteratur zum Faust kann und soll hier nicht gegeben werden. Eine Einführung findet sich bei:

Jeßing, Benedikt: Johann Wolfgang Goethe. Stuttgart 1993, S. 81ff.

[3] Jasper, Karl im Klappentext bei

Jeßing: Goethe. a.a.O.

[4] Loewe, C.: Commentar zum zweiten Theile des Goethe´schen Faust. Berlin 1834, S. 3f.

[5] Meyer, Carl : Studien zu Goethes Faust. Altona 1847, S. 160

[6] Ebd., S. 161

[7] Loewe: Commentar zum zweiten Theile Faust. a.a.O., S. 3

[8] Vgl. Jochen Schmidts Figurenanalyse zu Faust/Mephisto in: Schmidt, Jochen: Goethes Faust. Erster und zweiter Teil. Grundlagen – Werk – Wirkung. München 1999, S. 159f.

[9] Schlaffer, Heinz: „Fausts Ende.“ In: Das Argument 18/99 (1976), 772-779, S. 776

[10] Jeßing: Goethe. a.a.O., S. 94

[11] „Es ist nicht gut, zu lange im Theater zu verweilen. Wir wollen nun weitergehen zum Palast des Geistes, den wir mit größerer Ehrfurcht und Aufmerksamkeit betrachten müssen.“ – Francis Bacon zitiert nach: Mainusch, Herbert: Regie und Interpretation. Gespräche mit Regisseuren. München 1989, S. 9

[12] Hiß, Guido: Der theatralische Blick. Einführung in die Aufführungsanalyse. Berlin 1993, S. 106

[13] vgl.: Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt a.M. 1999.

[14] Mainusch: Gespräche mit Regisseuren. a.a.O., S. 15

[15] Schmidt: Goethes Faust. a.a.O., S. 34

[16] Friedrich, Theodor; Scheithauer, Lothar J.: Kommentar zu Goethes Faust. Stuttgart 1959, S. 131

Vgl. dazu: „Je inkommensurabler und für den Verstand unfasslicher eine poetische Produktion, desto besser.“ Goethe über den Faust im Gespräch mit Eckermann, 06.05.1827, Zitiert nach: Schieb, Roswitha (Hrsg.): Peter Stein inszeniert Faust von Johann Wolfgag Goethe. Das Programmbuch Faust I und II. Köln 2000, S. 84

[17] Hiß: Aufführungsanalyse. a.a.O., S. 158

[18] Im Zuge seiner Selbstdefinition war das Fach stets bemüht das Drama vom Aufführungsgeschehen deutlich zu trennen. Theater sollte endlich als eigenständiges Medium behandelt werden. Die Tyrannei des Dramas, das Autorentheater des 19. Jh. wollte man besiegen. Mittlerweile ist das hinreichend geschehen. Es ist, so glaube ich, Zeit wieder auf das Drama zuzugehen, und zwar mit allem theaterwissenschaftlichen Selbstbewusstsein. Das Fach verfügt über exklusive und einzigartige Möglichkeiten zum Dramenverständnis und dies eben gerade über den Weg der Aufführungsanalyse eines mittlerweile hinreichend autonomen Regietheaters.

[19] Gesprächsbericht Friedrich Försters, In:

Herwig, Wolfgang (Hrsg.): Goethes Gespräche. Auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Freiherrn von Biedermann ergänzt und herausgegeben. 5 Bände. Stuttgart / Zürich 1965-1987. Band 3/2, S. 799

[20] Goethe, Johann Wolfgang: Brief an den Grafen v. Brühl, 01.05.1815

[21] An eine rein abstrakte Darstellung ist zu Goethes Zeiten noch nicht zu denken.

[22] Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe (20.12.1829), In: Goethe, Johann Wolfgang: S ämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Frankfurter Ausgabe, Bd. 12, S.368f.

[23] Schöne, Albrecht: „Der Theatermann als Stückeschreiber.“ In: Schieb (Hrsg.): Stein inszeniert Faust. a.a.O., S. 263

[24] Ebd., S. 261

[25] Eckermann, Gespräche (29.01.1827), a.a.O., S. 219

[26] Mahl, Bernd: Goethes Faust auf der Bühne. Fragment – Ideologiestück – Spieltext. Stuttgart / Weimar

1999.

[27] Mahl, Bernd: „Goethe-Feste. Aspekte markanter Faust-Inszenierungen der Bühnengeschichte.“ In:

Schieb (Hrsg.): Stein inszeniert Faust. a.a.O., S. 308

[28] Vgl.: Mahl: Faust auf der Bühne. a.a.O., S.52-60

[29] Mahl, Bernd: „Goethe-Feste.“ In: Schieb (Hrsg.): Stein inszeniert Faust. a.a.O., S. 309

[30] Vgl.: Mahl: Faust auf der Bühne. a.a.O., S. 97-102

[31] Vgl.: Mahl: Faust auf der Bühne. a.a.O., S. 118-122

[32] Adler, Gusti: ..aber vergessen Sie nicht die chinesischen Nachtigallen. Erinnerungen an Max Reinhardt. München-Wien 1980., S. 306

[33] Vgl.: Mahl: Faust auf der Bühne. a.a.O., S. 127

[34] Vgl.: Mahl: Faust auf der Bühne. a.a.O., S. 192-197

[35] Vgl.: Mahl: Faust auf der Bühne. a.a.O., S. 141-146

[36] Vgl.: Mahl: Faust auf der Bühne. a.a.O., S. 157-159

[37] Vgl.: Mahl: Faust auf der Bühne. a.a.O., S. 159-166

[38] Vgl.: Mahl: Faust auf der Bühne. a.a.O., S. 228-234

[39] Vgl.: Mahl: Faust auf der Bühne. a.a.O., S. 237-234

[40] Vgl.: Mahl: Faust auf der Bühne. a.a.O., S. 241-244

[41] Vgl.: Mahl: Faust auf der Bühne. a.a.O., S. 4

[42] Stein hat diese Bezeichnung selbst gewählt.

[43] Mahl, Bernd: „Goethe-Feste.“ In: Schieb (Hrsg.): Stein inszeniert Faust. a.a.O., S. 312

[44] Mahl: Faust auf der Bühne. a.a.O., S.312

[45] Ebd.

[46] Ein Vorhaben von dem man aus Angst vor eventuell live übertragener, negativer Publikumsreaktion wieder Abstand nimmt. Es wird statt dessen eine zeitgleiche Aufzeichnung gezeigt.

[47] Vgl.: Dermutz, Klaus (Hrsg.): Christoph Marthaler. Die einsamen Menschen sind die besonderen Menschen. Salzburg / Wien 2000, S. 216

[48] Guido Hiß hat den Lukrezianischen Begriff des Simulacrums auf das Theater angewendet. Indem ein Bild imaginiert wird, muß es zwangsläufig modifiziert werden und erschafft damit gleichzeitig eine neue Realität. Für die Aufführungsanalyse bedeutet das: Jegliches theatrale Geschehen muß übersetzt werden. Immer wird die Wissenschaft in ihrem Bemühen, eine abbildende Betrachtung, ein Simulacrum, des Theaters zu erstellen lediglich ein Abbild ihres Gegenstands, ebenfalls schon ein Simulacrum, bewerten können. Stets gewinnt der Analysierende seine Erkenntnisse an Hand einer bereits ein- oder zweimal in ein anderes Medium übersetzten Aufführung, sei es schriftliche Notation, Fotografie, Interview, Programmheft oder Videoaufzeichnung (S. 125ff.). Die jeweilige Abbildung einer Aufführung wird ihrerseits bereits durch die Eigenarten der entsprechenden Abbildungsmethode beeinflusst und definiert, ist damit selbst schon Simulacrum des Theaters (S. 14). Die Analyse bildet das Simulacrum der nächsten Instanz, deren Leser das übernächste und so fort.

In: Hiß: Aufführungsanalyse. a.a.O. ,S. 7ff.

[49] Erika Fischer-Lichte machte den bisher wohl anspruchsvollsten, damit aber nicht unbedingt effektivsten Versuch eine allgemeingültige Methode zur Aufführungsanalyse zu entwickeln.

Vgl.: Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Bd. 3. Die Aufführung als Text. Tübingen 1983.

[50] Dabei wird versucht, die maßgeblichen, theatertheoretischen Forderungen, in möglichst idealer Synthese zu erfüllen: Theatersemiotische Techniken bewerten den Bedeutungsgehalt der Polyphonie der Ausdrucksmittel. An Hand paradigmatischer und syntagmatischer Achsen in den jeweiligen Aufführungen werden vage oder bestimmte Korrespondenzbedeutungen und Tiefenäquivalenzen entsprechender symbolischer oder ikonischer Zeichen sichtbar gemacht. Interaktions- und Dramenanalyse relativieren das Bild, historisch/soziale Bezüge werden angedeutet.

Anmerkung:

Die zitierten theoretischen Termini gehen zurück auf Guido Hiß’ Aufführungsanalyse, eine Zusammenschau des gegenwärtigen theatertheoretischen Forschungsstandes, als deren Konsequenz der Autor das Analyse-Modell einer „semantischen Spektralanalyse“ vorschlägt. Das von Hiß vorgeschlagene Modell will die Arbeit als Orientierung verwenden.

Vgl.: Hiß: Aufführungsanalyse. a.a.O.

[51] Carstensen, Uwe B.: Klaus Michael Grüber. Frankfurt a.M. 1988. Klappentext

[52] Ebd., S. 125

[53] www.ruhrtriennale.de

[54] Carstensen: Grüber. a.a.O., S. 4

[55] Ebd., S. 125; vgl. etwa Grübers Winterreise oder seinen Faust Salpêtrière

[56] Carstensen: Grüber. a.a.O., S. 10

[57] ebd., S. 52

[58] Schmidt-Mühlisch, Lothar: „Ein Mund wird zur Dampflok. Minettis Schiffbruch – Der Fernseh-Faust der Freien Volksbühne Berlin.“ In: DIE WELT 24.03.1982

[59] Peter Hofmann berichtet von Schwierigkeiten mit Grüber als Opernregisseur bei Proben zu Wagners Walküre. Vgl.: Hofmann, Peter: „Wir kamen nicht zusammen.“ In: Carstensen: Grüber. a.a.O., S. 115ff.

[60] Mit den Schauspielern Bruno Ganz und Bernhard Minetti pflegte Grüber ein gutes Arbeitsverhältnis. Vgl.: „Ein genialer Beobachter.“ (Gespräch mit Bruno Ganz) und „Bernhard Minetti. An Grüber denkend.“ In: Carstensen: Grüber. a.a.O., S. 92ff. (Ganz) und 104f. (Minetti)

[61] Ebd., S. 59

[62] Becker, Peter von in: Theater heute. 1/1996, S. 19

[63] 1972 beeindruckte der Regisseur mit seinem experimentellen Faust Sâlpetriére in Paris. Eine Inszenierung, die das Raumproblem des Stücks revolutionär neu angeht, indem sie die Handlung in verschiedene Räume einer Kirche verlegt. Siehe auch Einleitung.

[64] Wirsing, Sybille: „Die verzweifelte Wanderschaft. Klaus Michael Grüber inszenierte und Bernhard Minetti spielte den Faust an der Berliner Volksbühne.“ In: FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG 24.03.1982

[65] Mahl: Faust auf der Bühne. a.a.O., S. 174

[66] Schmidt-Mühlisch,: „Dampflok“ In: DIE WELT 24.03.82, a.a.O.

[67] Michaelis, Rolf: „Großes Theater der Verweigerung. Theater für das dritte Auge. Klaus Michael Grüber und Bernhard Minetti steigen an der Freien Volksbühne Berlin in Goethes „Faust“-Labyrinth.“ In: DIE ZEIT 02.04.1982

[68] Kaiser, Joachim: „Grübers Poesie, Goethe und das Publikum. Zu einer Anti-Festaufführung des

„Faust I“ in Berlin.“ In: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG 24.03.1982

[69] Wiegenstein, Roland H.: „Requiem auf ein Stück. Klaus Michael Grübers „Faust“-Inszenierung.“ In: FRANKFURTER RUNDSCHAU 24.03.1982

[70] Kaiser: „Anti-Festaufführung“ In: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG 24.03.1982, a.a.O.

[71] Becker, Peter von; Rischbieter, Henning (Hrsg.): Theater 1982. Jahrbuch der Zeitschrift Theater heute. Berlin Sondernummer 13/1982, S. 31

[72] Ebd., S. 21

[73] Wirsing: „Wanderschaft.“ In: FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG 24.03.1982, a.a.O.

[74] Schmidt-Mühlisch,: „Dampflok“ In: DIE WELT 24.03.82, a.a.O.

[75] Theater 1982 a.a.O., S. 21

Fin de l'extrait de 85 pages

Résumé des informations

Titre
Grüber, Marthaler, Stein: Drei Regisseure inszenieren Goethes Faust
Université
Ruhr-University of Bochum  (Institut für Theaterwissenschaft)
Note
1,7
Auteur
Année
2003
Pages
85
N° de catalogue
V64812
ISBN (ebook)
9783638575324
ISBN (Livre)
9783640288380
Taille d'un fichier
1292 KB
Langue
allemand
Mots clés
Grüber, Marthaler, Stein, Drei, Regisseure, Goethes, Faust, Aufführung, Aufführungsanalyse, Guido Hiß
Citation du texte
Guido Böhm (Auteur), 2003, Grüber, Marthaler, Stein: Drei Regisseure inszenieren Goethes Faust, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64812

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