Zwischen Staatenbund und Bundesstaat - Die Europäische Integration im Licht föderaler Theorien


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

31 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Zwischen Staatenbund und Bundesstaat: Die Europäische Integration im Licht föderaler Theorien
2.1 Konzepte der EU-Forschung: Europäische Integration und Europäisierung
2.2 Föderalismus
2.2.1 Der Begriff und seine divergierenden Interpretationen
2.2.2 Entwicklungsstufen der föderalen Theorie
2.2.3 Die Bandbreite föderaler Organisationsformen: Schultzes bipolares Kontinuum
2.3 Die Entwicklung „einer immer engeren Union der Völker Europas“: Föderale Ideen, Vertragswerke und Institutionen von 1922 bis
2.3.1 Die Vision eines Verfassungssprungs: die Zwischenkriegszeit und der Zweite Weltkrieg
2.3.2 Föderale Bewegungen und die erste gemeinsame Institution: die Nachkriegszeit
2.3.3 Sektorale Integration: die 50er Jahre
2.3.4 Intergouvernementale Intermezzi und föderale Umorientierung: die 60er Jahre
2.3.5 Status Quo oder „dark age“: die frühen 70er Jahre
2.3.6 Relance des Föderalismus: die späten 70er und die 80er Jahre
2.3.7 Föderale Integration im Eilschritt: die 90er Jahre und Nizza
2.3.8 Der „Vertrag über eine Verfassung für Europa“: föderale Entwicklungen 24 bis

3 Schlussbemerkungen

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

„We have to abandon the idea that European integration is a like a bicycle that will fall over unless it keeps moving forward. People want to know where the journey ends.” Mit diesen Worten kommentierte der französische Außenminister Hubert Védrine das Nein seiner Landsleute zur EU-Verfassung (Graff 2005, 19). Dass sich ein Mitgliedsland der EU, das zu den Gründervätern der EGKS gehörte und bis in die heutige Zeit hinein als treibende Kraft hinter dem europäischen Projekt stand, mit 55 % so vehement gegen diesen Meilenstein der Integration entschied, trifft die Staatengemeinschaft besonders hart. Wieder einmal wird die Frage nach der Finalität Europas gewaltsam ins Zentrum der Diskurse gerückt. „Hält die EU am Ziel einer starken und solidarischen politischen Union (...) fest oder begnügt sie sich mit dem freien Verkehr von Waren, Personen, Kapital und Dienstleistungen (...)?“ (Ralf Beste et al. 2005, 103).

In der vorliegenden Hausarbeit befasse ich mich mit der Frage, welche politisch-historischen Grundlagen vorhanden sind, die eine Ausrichtung der EU auf das Leitbild des supranationalen Bundesstaats oder alternativ des lockeren Staatenbunds, wie er in obigem Zitat angedeutet wird, erkennen lassen könnten. Ich konzentriere mich dabei auf institutionelle Neuerungen und Vertragswerke, die diese Neuerungen bewirkten, sowie auf Ideen und Konzeptionen, die in der Geschichte Europas nicht genügend Unterstützung zur Durchsetzung fanden. Die Analyse wird im Rahmen der föderalen Integrationstheorie geschehen, welche den europäischen Einigungsprozess als einen stufenweise voranschreitenden Kompetenztransfer von der Subebene auf die übergeordnete Ebene betrachtet, der – nach dem Modell des kooperativen Föderalismus – von einer Beteiligung der Subebene am Entscheidungsfindungsprozess der übergeordneten Ebene begleitet wird.

In einem ersten Teil werde ich den Sinn von Konzepten begründen und den Begriff der Europäischen Integration in Abgrenzung zu dem der Europäisierung definieren.

Der zweite Teil befasst sich mit dem Begriff des Föderalismus, wobei auch auf die verschiedenen Verständnisarten hingewiesen wird, die innerhalb der Staatengemeinschaft existieren. Es werden des Weiteren die historische Herkunft seiner Merkmale benannt und die Bandbreite föderaler Organisationsformen anhand von Schultzes bipolarem Kontinuum dargestellt.

Im dritten Teil untersuche ich, chronologisch vorgehend, die Entwicklung der EU und ihrer Vorläuferorganisationen entlang der sich gleichzeitig herausbildenden und wandelnden Föderalismustheorie. Ausgangspunkt ist das zwischenkriegszeitliche Ventotene-Manifest der italienischen Föderalisten Altiero Spinelli und Ernesto Rossi von 1941. Es folgen Termini und Konzeptionen (z. B. Churchills „Vereinigte Staaten von Europa“) der Nachkriegszeit. Die Geschehnisse zwischen den 50er und 70er Jahren, etwa die Gründung der EGKS, kann der Föderalismus als „quasi-konstitutionelle Festschreibung von gemeinsamen Institutionen, Kompetenzen und Verfahren“ betrachten (Giering 1997, 71). In den Vordergrund rückt aber während dieser Zeit die von den Staats- und Regierungschefs ausgehandelte sektorale Integration, die eher ins Feld der intergouvernementalen und der funktionalen Theorie passt. Ein bedeutender Einschnitt, der als Wegbereiter für das Aufleben des Föderalismus in den 80ern angesehen werden kann, ist der Ansatz des deutsch-amerikanischen Politikwissenschaftlers Carl-Joachim Friedrich, der das Augenmerk weg von der staatszentrierten Föderalismuskonzeption hin zu einem prozessualen Föderalismusverständnis lenkte und damit einer eher pragmatischen Integrationsanalyse den Weg ebnete. Die Reformen, die Mitte der 80er Jahre einsetzen und in den 90ern bis hin zum aktuellen Verfassungsvertrag als jüngstem zentralen Modernisierungsversuch reichen, lassen die Bedeutung der erneuerten Föderalismustheorie für die Europäische Integration erkennen.

Die Frage, ob die EU in ihrem heutigen Zustand eher einem lockeren Staatenbund oder einem supranationalen Bundesstaat gleicht, muss mit einem „weder noch“ beantwortet werden gemäß der Redensart „nicht Fisch, nicht Fleisch“. Ich würde sie als „Staatenbund plus X“ bezeichnen, wobei „X“ für einige föderalen Zusätze steht, wie sie sich auch bei Bundesstaaten wie Deutschland oder den USA finden. Die Leistung dieser Integrationstheorie besteht meiner Meinung nach aber weniger in ihrer Erklärungskraft für die Motivationen, welche die Integration herbeigeführt haben, als in ihrer nachträglichen Einordnungsfunktion in ein Raster bereits bekannter politischer Organisationsformen und Handlungsweisen. Das „wie“ scheint mir, eher als das „warum“, die angemessene Frage in Bezug auf die europäische Integration zu sein. Daher wird die Methode der comparative politics in dieser Hausarbeit immer wieder eine zentrale Rolle spielen. Ich werde zudem für eine Kombination der neofunktionalen, intergouvernementalen und föderalen Ansätze plädieren, da die Integrationsgeschichte der EU Phasen aufweist, denen eine eng konzipierte Föderalismustheorie nicht gerecht wird.

2 Zwischen Staatenbund und Bundesstaat: Die Europäische Integration im Licht föderaler Theorien

2.1 Konzepte der EU-Forschung: Europäische Integration und Europäisierung

Giovanni Sartori und Rainer Eising zufolge besteht der Sinn eines Konzepts darin, „den Blick auf lohnenswerte theoretische und empirische Fragen“ zu lenken, „ohne deren Beantwortung definitorisch vorwegzunehmen“ (Eising 2003, 388). Konzepte sind also „der Einordnung von Fällen, ihrer Messung und Bewertung vorgelagert“. Im Bereich der EU-Forschung erheben sich zwei zentrale Fragestellungen, die als Konzepte behandelt werden: Wie kann man den Vorgang bezeichnen, der die „zunehmende Dichte und Intensität sowie die Verstärkung der Charakteristika in den Beziehungen auf der Ebene der europäischen Union“ beschreibt und wie den Prozess, der „auf die Auswirkungen dieses Integrationsprozesses auf nationale Akteure, Strukturen und Prozesse“ eingeht (Ebd., 396)? Eising plädiert dafür, Ersteres als „Europäische Integration“ und Letzteres als „Europäisierung“ zu bezeichnen, obwohl die Definitionen anderer Autoren Überlappungen der beiden Konzepte erkennen lassen (Ebd., 389). In diesen Fällen wird unterschlagen, dass es sich eigentlich um zwei verschiedene Beobachtungsweisen europäischer Geschehnisse handelt: Hier wird das Augenmerk auf Veränderungen gerichtet, die sich von unten nach oben (bottom-up) vollziehen, da auf solche, die in genau umgekehrter Richtung verlaufen (top-down).

In dieser Hausarbeit werde ich mich auf die bottom-up -Methode konzentrieren, also auf das „coming together of previously separate or independent parts to form a new whole“ (Burgess 2004, 30).

2.2 Föderalismus

2.2.1 Der Begriff des Föderalismus und seine divergierenden Interpretationen

Die Integrationstheorie des Föderalismus hat sich, wie auch die des (Liberalen) Intergouvernementalismus und des (Neo-) Funktionalismus, entlang des europäischen Integrationsprozesses herausgebildet und verändert (Giering 1997, 260). Donald J. Puchala lehnt in seinem 1972 verfassten Artikel Of Blind Men, Elephants and International Integration die aus heutiger Sicht klassische Variante des Föderalismus als ungenügend ab, da er davon ausgeht, dass es diesem Ansatz zufolge die Errichtung von „new central governments (...) to assume functions traditionally allotted to federal governments“ brauche (Puchala 1972, 270). Selbst die Kommission spräche eigentlich immer mit einer aus sechs Stimmen bestehenden, diplomatisch zusammengeschweißten Stimme, weniger mit der einer föderalen Regierung (Ebd., 270). Genauso wenig brauchbar seien nationale Konzepte, da diese auf die Frage nach den Interaktionen zwischen den Völkern Europas ein zu heterogenes Bild lieferten (Ebd., 272 f.). Dem Funktionalismus lastet er an, er dränge die nach wie vor wichtigsten Akteure, die nationalen Regierungen, zu sehr an den Rand und könne zudem nicht erklären, warum diese Sektoren verschmolzen würden und jene nicht (Ebd., 273 ff.). An der Beschreibung der Integration nach dem Muster des Realismus kritisiert Puchala, dass eine gegenseitige Ausbeutung der EU-Staaten, die den Machterhalt und die jeweilige nationale Sicherheit zum Ziel habe, nicht zu konstatieren sei (Ebd., 275).

Puchala schlägt zur Beschreibung der Europäischen Integration die Defintion „the coming into being and maintenance of Concordance Systems” vor, wobei er den von ihm geprägten Begriff der concordance systems als ein System definiert, das es nationalen Akteuren beständig ermögliche, ihre Interessen zu harmonisieren, Kompromisse für Meinungsunterschiede zu finden sowie die Früchte ihrer Interaktionen gemeinsam zu ernten (Ebd., 277 ). Den Vorteil dieses Konzepts sieht Puchala darin, dass so auf eine Zielgerichtetheit verzichtet werden könne und dass die Analyse des Ist-Zustands stattdessen mehr in den Vordergrund rücke (Ebd., 268).

Dass die Föderalismus-Konzeption tatsächlich so staatszentrisch ausgerichtet sein muss, wie Puchala es darstellt, wurde bereits in den 60ern durch Carl-Joachim Friedrich bestritten, worauf ich noch genauer eingehen werde. Puchalas Gedanken zu den klassischen Integrationskonzepten sollen zeigen, welches Problem entsteht, wenn der Inhalt eines Konzepts nicht im Vorfeld abgeklärt wird bzw. wenn einzelne mögliche, aber auch nur mögliche und nicht unabdingbare Aspekte wie die Entwicklung der Staatengemeinschaft hin zu einem Bundesstaat überbetont werden.

In erster Linie bedeutet foedus schlichtweg „Bund“ oder „Vertrag“ (Große Hüttmann / Fischer 2005, 42). „Föderalismus“ bezeichnet einerseits eine politische Organisation mit „zwei oder mehr Schichten halbautonomer Autoritäten“, andererseits ein „soziales Ordnungsmodell“ (Giering 1997, 36 f.). Daraus ergeben sich zwei zentrale Funktionen des Föderalismus. Erstens ermöglicht die vertikale Gewaltenteilung eine zusätzliche Machtaufteilung, zweitens können heterogene Gesellschaften unter Erhalt ihrer soziokulturellen und politischen Autonomie integriert werden (Nohlen 2001, 127).

In Deutschland, Österreich und Belgien ist der Begriff des Föderalismus positiv konnotiert (Große Hüttmann / Fischer 2005, 41). Diese Länder gehören zu den im Englischen als federalists bezeichneten Staaten, welche die kulturelle Heterogenität sowie die Rechte der den Bund konstituierenden Einheiten unter dem föderalen Prinzip als besonders gewahrt betrachten (Sbragia 1992, 259). Staaten wie Schweden und besonders Großbritannien dagegen weigerten sich als antifederalists strikt, das Wort „föderal“ in den Vertragstext zur Gründung der EU aufzunehmen, so dass nun dem Wortlaut nach „eine immer engere Union der Völker Europas“ angestrebt wird (Große Hüttmann / Fischer 2005, 42). Ihnen genügt die Zusicherung, die das in Maastricht eingeführte Subsidiaritätsprinzip beinhaltet, nicht. Obwohl die höheren Einheiten erst dann die Kompetenz an sich ziehen, wenn es den niederen Einheiten nicht möglich ist, bestimmte Aufgaben selbst zu lösen (Grupp 1998, 17), sehen diese Staaten in erster Linie den Souveränitätsverlust, den der Beitritt zu einer föderalen Organisation mit sich bringt (Sbragia 1992, 260), und der ihrer Ansicht nach ein trojanisches Pferd für den Zentralismus darstellt (Große Hüttmann / Fischer 2005, 42). Rudolf Hrbek schlägt deshalb vor, im Rahmen der Finalitätsdebatte die föderale Theorie immer wieder einem „Vergewisserungsprozess“ zu unterziehen um festzulegen, „was (...) das Konzept „Föderation“ beinhalten könnte und sollte“ (2003, 194).

2.2.2 Entwicklungsstufen der föderalen Theorie

Die unterschiedlichen Auffassungen des Föderalismus-Begriffs werfen die Frage auf, was seine ursprüngliche Konzeption beinhaltete. Friedrich schreibt in seinem wegweisenden Aufsatz Nationaler und Internationaler Föderalismus in Theorie und Praxis von 1964, dass es sich um ein relativ neues Konzept handle, das aber in mehrfachen Ausprägungen die Geschichte durchzogen habe (1964, 155). Als einen der „erste[n] Theoretiker des Föderalismus“ nennt er Johannes Althusius, der zu Beginn des 17. Jh. die Begriffe „Vereinigung“ und „Vertrag“ als Grundpfeiler seiner Lehre etablierte: Familien und Gilden vereinigten sich zu Dörfern, diese zu Städten usw. bis hin zum Kaiserreich, und zwar durch einen ausdrücklich oder stillschweigend anerkannten Vertrag (Ebd., 155 f.), der heute – alternativ bzw. ergänzend zur Verfassung – zu einem wichtigen Kennzeichen föderaler Organisationen geworden ist (Hrbek 2003, 436 f.). Althusius’ Vorstellungen haben mehr Ähnlichkeit mit einem Staatenbund als mit einem Bundesstaat, da an der Spitze Provinzen und freie Städte stehen, nicht Individuen (Friedrich 1964, 156).

Auch Montesquieu (Mitte 18. Jh.) geht von einem Vertrag aus, der dem Zusammenschluss von Republiken zu einer großen Republik zugrunde liegen soll. Wichtig für Montesquieu, so stellt Friedrich fest, sei ein gewisses Maß an Homogenität unter den Einheiten, damit die Föderalisierung nicht im Keim ersticke (Ebd., 157). Wie diese Homogenität institutionell zu verwirklichen sei, darauf gehe Montesquieu nicht ein.

Der nächste große Meilenstein, schreibt Friedrich weiter, sei der amerikanische Verfassungskonvent von 1787 gewesen, im Zuge dessen sich ein vollkommen neues Föderalismus-Verständnis angebahnt habe. Im Federalist erläutert James Madison die Neuartigkeit dieses Staatenbundes, der von den Juristen des 19. Jh. erstmalig als „Bundesstaat“ bezeichnet wurde. Er erörtert u. a., wie sich z. B. die Gewaltenteilung zwischen Bundesstaat und Einzelstaaten gestalten könnte (Ebd., 158), was bis zum heutigen Tag eine der wichtigsten Fragen geblieben ist. Die Erfinder des amerikanischen Föderalismus richteten das Augenmerk jedoch nicht auf die Dichotomie Staatenbund – Bundesstaat, sondern auf den prozessualen Charakter ihrer politischen Organisation, auf ihre Entwicklungsfähigkeit (Ebd., 157). Diese eben ist es, die Friedrich durch sein gesamtes Werk hindurch betont. Er plädiert dafür, „Föderalismus als einen dynamischen Prozeß und nicht als eine nur statische Konstruktion“ zu betrachten (Ebd., 154).

[...]

Ende der Leseprobe aus 31 Seiten

Details

Titel
Zwischen Staatenbund und Bundesstaat - Die Europäische Integration im Licht föderaler Theorien
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Veranstaltung
Europäische Integration: Theorien und Forschungsfragen
Autor
Jahr
2005
Seiten
31
Katalognummer
V64848
ISBN (eBook)
9783638575546
ISBN (Buch)
9783638670197
Dateigröße
539 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Zwischen, Staatenbund, Bundesstaat, Europäische, Integration, Licht, Theorien, Europäische, Integration, Theorien, Forschungsfragen
Arbeit zitieren
Anne Thoma (Autor:in), 2005, Zwischen Staatenbund und Bundesstaat - Die Europäische Integration im Licht föderaler Theorien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64848

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