Undine im Raum des Hans - Analyse der Rollen- und Geschlechterproblematik in der Erzählung "Undine geht" von Ingeborg Bachmann unter besonderer Berücksichtigung der Kategorie Raum


Dossier / Travail, 2002

14 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhalt

1 Einleitung

2 Meeresfrau und Erdenmann
2.1 Die Räume des Hans
2.1.1 Der öffentliche, institutionelle Raum
2.1.2 Der verborgene Liebesraum
2.2 Undines Element

3 Im Dazwischen: Der Erzählraum

4 Im Zirkel der Räume: Das Raumkonzept

5 Schlussbemerkung

6 Bibliographische Angaben

1 Einleitung

In der folgenden Abhandlung über die 1961 von Ingeborg Bachmann geschriebene Erzählung Undine geht werden vor allem die in der Erzählung dargestellten Raumkategorien eine Analyse und Deutung erfahren. Der Untersuchung der Kategorie Raum liegen hierbei die Definitionen zur Raumanalyse nach der Erzähltextanalyse Kahrmann/Reiss/Schluchters zugrunde.[1]

Bei der Argumentation wird der Aspekt der Ablesbarkeit der Rollen- und Geschlechterproblematik an der Kategorie Raum im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses liegen. Die Tatsache, dass es sich bei den Adressaten der Rede sowohl um Männer als auch um Menschen handelt, mag einen feministisch-kritischen Interpretationsansatz als inadäquat und als Reduktion der Vielschichtigkeit und Bedeutungsvielfalt der Erzählung auf den Liebes- und Beziehungsaspekt erscheinen lassen. Es muss hingegen beachtet werden, dass sich ein solcher Ansatz schon allein dadurch rechtfertigt, dass Undine in der Erzählung ihre Beziehung zu dem Mann Hans und dessen Beziehung zu seiner Ehefrau beschreibt. Jedoch soll der Text durch die Anwendung des feministisch-kritischen Interpretationsansatzes keineswegs auf eine mögliche Deutung reduziert werden, vielmehr muss dieser als eine Annäherung an den Text verstanden werden, der die Erzählung zwar, wie jede andere Deutung auch, niemals vollkommen entschlüsseln kann, von dem aus jedoch ungeklärte und unberücksichtigte Fragen gestellt werden können, die zu einer weiteren Erhellung der Interpretation beitragen.

Im folgenden soll zunächst durch eine werkimmanente Annäherung an den Text eine Charakterisierung der unterschiedlichen in der Abschiedsrede erzählten Räume und der in ihnen befindlichen Personen erfolgen, dann der Erzählraum der Erzählerin während ihrer Rede näher betrachtet werden und abschließend durch die Vernetzung beider Raumkategorien das der Erzählung zugrundeliegende Raumkonzept und dessen Übertragung auf die Figurenebene erläutert werden. Hierbei wird sich zeigen, dass Undine der Raum des Institutionellen kategorisch verwehrt bleibt und dass die Gegensätzlichkeit des privaten Liebesraumes und des Elements des Meeres durch Undines zirkuläre Bewegung zwischen diesen Räumen ihre innere Gespaltenheit ausdrückt. Die Untersuchung wird unter Berücksichtigung des soziologischen Begriffs der Rolle[2] bzw. der Rollenzuschreibung, dem im folgenden eine wichtige Bedeutung zukommen wird, in der Frage gipfeln, inwiefern eine freie Raum- und Rollenwahl für Undine überhaupt möglich ist und inwiefern sich ihre Problematik auf gesellschaftlich vorhandene Rollenzuschreibungen übertragen lässt.

2 Meeresfrau und Erdenmann

Die Erzählung Undine geht konstituiert sich aus der Abschiedsrede des Meereswesens Undine, die die menschliche Welt aufgrund der dort erfahrenen Enttäuschungen verlässt und in ihr Element, das Wasser, zurückkehrt. Obwohl die Rede grundlegend eine Anklage an die Männer- und Menschenwelt darstellt, lässt sich in ihr auch eine lobende Passage erkennen[3], auf deren Funktion später noch näher eingegangen wird.

Die erzählten Räume werden sowohl durch Figurenrede, als auch durch Erzählerrede erzeugt, da Undine sowohl die Protagonistin der Erzählung als auch ihre Icherzählerin darstellt. Grundlegend muss bei den erzählten Räumen eine Unterteilung in zwei verschiedene Raumkategorien erfolgen: in den Raum der Erde und in den des Meeres. Bei beiden erzählten Räumen handelt es sie um offene, unkonkretisierte Räume, die durch ihre unterschiedlichen Charakteristika mit bestimmten Werten und Idealen verbunden sind. Der Erdenraum muss hingegen strukturell in zwei Unterräume unterteilt werden, nämlich in den öffentlichen, institutionellen Raum und in den verborgenen Liebesraum.

2.1 Die Räume des Hans

Hans bewegt sich in zwei ambivalenten erzählten Unterräumen der Erdenwelt, deren Differenz im Folgenden näher bestimmt werden soll: im öffentlichen, institutionellen Raum und im verborgenen Liebesraum.

2.1.1 Der öffentliche, institutionelle Raum

Der öffentliche, institutionelle Raum ist der erzählte Unterraum der Erdenwelt, in dem sich Hans und seine Ehefrau aufhalten. In diesem haben gesellschaftliche Instanzen wie „Grenzen und Politik und Zeitungen und Banken und Börse und Handel“ (257) ihren Platz, in die der Mann eingebunden ist. Die Rolle des Mannes ist in diesem Raum definiert als öffentliche Person des Arbeitnehmers, Ehemannes und Familienvaters. Die Männer „[f]ahren ihren Frauen, ihren Kindern treulich übers Haar, schlagen die Zeitung auf, sehen die Rechnungen durch oder drehen das Radio laut auf“ (255), vollführen also männliche, routinierte Handlungen in einer gesellschaftlich gesicherten Position. Ihre Selbstdefinition ist klar umrissen und unabhängig von der Existenz der Frau. Der Mann kann an sich selbst existieren.

Die Beschreibung der Beziehung zu seiner Frau macht jedoch klar, dass diese Unabhängigkeit vom anderen keineswegs beiderseitig gegeben ist. Indem Hans behauptet, seine „Frau [...] brauch[e] [ihn], wüßte nicht, wie ohne [ihn] leben“ (255), äußert er offen die Sicht seiner Ehefrau als hilfloses, von ihm abhängiges Wesen, das ohne ihren Mann lebensunfähig wäre. Die Existenz der Hans-Ehefrau ist somit über ihre Beziehung zum Mann definiert. Die funktionalisierten „Lebenslangfrauen“ (255) werden vom Mann nur in Bezug auf ihren Nutzen gesehen, sind somit für den Mann nicht Mensch als Zweck an sich, sondern Mittel zum Zweck der Erfüllung einer rollenspezifischen Funktion:„Ja, dazu nehmt ihr euch die Frauen auch, damit ihr die Zukunft erhärtet, damit sie Kinder kriegen“ (256). Die Sicherung der Institution der Familie durch Gebären von Kindern ist neben anderen häuslichen Pflichten die von ihnen zu erfüllende Funktion, die mit der Rolle der Ehefrau und Mutter verbunden ist. Ein Ausbrechen aus dieser Rolle ist durch die gesellschaftlich manifestierte Sicht der Ehefrau als die vom Ehemann Abhängige nur schwer möglich.

„[W]enn es dunkel ist in den Häusern, erheben [...] sich [die Ehemänner jedoch] heimlich“ (255) und entfernen sich vom Raum des Hauses, der die Institution der Ehe und die damit verbundene gesicherte gesellschaftliche Position des Mannes repräsentiert, durch die Tür, den Gang, den Garten, die Alleen hinunter (255), hin zur Verführung, zu Undine.

Dem Mann ist somit zumindest der momentane Ausbruch aus seiner Rolle und der institutionellen Sicherheit durch eine Beziehung zur Geliebten Undine möglich und auch reizvoll, da er nach deren Ende in die sicheren Strukturen zurückkehren kann: „Bereut habt ihr auf den Kirchenbänken, vor euren Frauen, euren Kindern, eurer Öffentlichkeit. Vor euren großen großen Instanzen wart ihr so tapfer, mich zu bereuen und all das zu befestigen, was in euch unsicher geworden war.“ (259f.)

2.1.2 Der verborgene Liebesraum

Beim verborgenen Liebesraum handelt es sich um die Lichtung als erzählten Unterraum der Erdenwelt, in dem sich Hans´ und Undines Zusammentreffen ereignen. „Immer, wenn [Undine] durch die Lichtung [kommt] und die Zweige sich [öffnen], [...] [trifft sie] auf einen, der Hans [heißt].“ (253)

Innerhalb dieses Raumes der Lichtung existiert „keine Forderung, keine Vorsicht, Absicht, keine Zukunft“ (254). Die Zeit, die Hans und Undine an dem Ort der Lichtung zusammen verleben, ist geprägt von Zeitlosigkeit und dem momentanen, emotionalen, triebhaften und einmaligen Erlebnis und stellt somit eine Absage an die rationalen Elemente des alltäglichen Lebens dar. In ihr existiert weder ein Gestern noch ein Morgen.

[...]


[1] Kahrmann, Cordula/ Reiss, Gunter/ Schluchter, Manfred: Erzähltextanalyse. 3. Aufl. Bodenheim 1993, S.79f.

Zunächst muss dabei zwischen den textinternen Begrifflichkeiten erzählter Raum, Erzählraum und Raumkonzept differenziert werden. Beim erzählten Raum handelt es sich um die Gesamtheit der in einem literarischen Werk durch Figurenrede oder Erzählerrede dargestellten Räume, in denen das Geschehen des Textes situiert ist. Der Begriff des Erzählraums bezeichnet die räumliche Verortung des fiktiven Erzählers während seiner Redesituation. Das Raumkonzept schließlich stellt den dem literarischen Werk zugrunde liegenden Gestaltungsplan der gesamten Darstellung von Raum und Raumverhältnissen dar, ermöglicht somit Rückschlüsse auf die grundlegende Konzeption eines Textes und bildet den Ausgangspunkt einer begründeten Interpretation. Des Weiteren finden auch textexterne Raumkategorien wie der Raum des Autors als Produzent eines Textes und als historischer Person mit seiner Einbindung in bestimmte geschichtliche Ereignisse einerseits und die räumliche Wahrnehmung des Rezipienten anderseits ihre Beachtung.

[2] Wörterbuch der Soziologie. Bd. 3. Hg. v. Wilhelm Bernsdorf. Frankfurt 1973, S. 673. Mit dem Begriff der Rolle wird in der Soziologie das Gebundensein des Einzelnen in bestimmte soziale Positionen bezeichnet, in denen das menschliche Verhalten durch rollenspezifische soziale Normen geregelt ist. Dabei sind mit jeder Rolle bestimmte Erwartungen an das Verhalten des Individuums und bestimmte gesellschaftliche Handlungsanweisungen verbunden, die einerseits Sicherheit und Verlässlichkeit in seiner sozialen Umwelt erzeugen. Jedoch besteht andererseits dadurch auch die Gefahr, das Individuum auf bestimmte Rollenzuschreibungen festzulegen und somit sein gesamtes Handeln nur in Hinblick auf diese Rolle zu deuten.

[3] Bachmann, Ingeborg: Undine geht. In: dies.: Werke. Bd. 2, Erzählungen. Hg. v. Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster. München und Zürich 1978, S.260ff. Im Nachfolgenden wird aus diesem Text nur noch unter Nennung der Seitenzahl zitiert.

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Résumé des informations

Titre
Undine im Raum des Hans - Analyse der Rollen- und Geschlechterproblematik in der Erzählung "Undine geht" von Ingeborg Bachmann unter besonderer Berücksichtigung der Kategorie Raum
Université
University of Tubingen  (Deutsches Seminar)
Cours
Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft
Note
1,0
Auteur
Année
2002
Pages
14
N° de catalogue
V64891
ISBN (ebook)
9783638575874
ISBN (Livre)
9783656773061
Taille d'un fichier
476 KB
Langue
allemand
Mots clés
Hans, Analyse, Erzählung, Bachmann, Berücksichtigung, Kategorie, Literaturwissenschaft, Ingeborg Bachmann, Undine geht, Undine, Gender, Gender Studies, Geschlecht, Weiblichkeit, Rollen, Rolle, Rollenzuschreibung, Soziologie, Einführung, Erzähltheorie, Raum
Citation du texte
Anne-Christin Sievers (Auteur), 2002, Undine im Raum des Hans - Analyse der Rollen- und Geschlechterproblematik in der Erzählung "Undine geht" von Ingeborg Bachmann unter besonderer Berücksichtigung der Kategorie Raum, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64891

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