„Zum Beispiel war da das Lesenlernen, als ich in die erste Klasse der Volksschule ging. Das Lesen zu lernen war eine Übungsaufgabe für zu Hause und stellte sich unerreichbar und quer in die versonnten Nachmittage. Dafür gab es eine Fibel. Ich starrte auf die Buchstaben, die mit Namen zu nennen mir ein Leichtes war, und versuchte, in ihrer Aneinanderreihung einen sprech- und verstehbaren Sinn zu finden. Es gelang nicht. Die Zeichen wollten jedes für sich bleiben, zwei Buchstaben aneinander ergab nichts und schon gar nicht drei oder noch mehr. Verzweifelt hockte ich stundenlang, wie es mir schien, vor den Bögen und Strichen
- es half nichts, dass sie groß und farbig waren. „Sie ist doch sonst nicht dumm“, sagte meine Mutter zu meiner Tante, die extra angereist war, mir zu helfen, „sie ist einfach verbockt.“ Das Wort verbockt umfasste eine unbestimmbar große Menge an Ereignissen, wo ich nichts gelernt hatte, was so als Verweigerung benannt wurde. Ich bekam Stubenarrest, während meine Geschwister spielen durften. Meine Tante las mir die Worte vor, aber ich vergaß sie wieder und vergaß vor allem das Zueinander von bestimmten Zeichen und Wort. Ich wollte raus und spielen. Es war ungerecht, mir dieses sinnlose Zeug abzuverlangen, das ich einfach nicht lernen konnte. „Andere nehmen das Buch mit unter das Kopfkissen in der Nacht“, verriet eine Nachbarin, „am Morgen wachen sie auf und können lesen.“ Ich wusste sogleich, dass die Nachbarin unerlaubt abergläubisch sein musste, und versuchte es nicht.
Irgendwann müssen sich die Buchstaben zu Wörtern gefügt und dieser Vorgang sich sinnvoll in eine mögliche, gern geübte Tätigkeit verwandelt haben. Es käme jetzt, in einer Studie über Lernen, darauf an, dies festzuhalten. Aber ich erinnere diesen Lernschub nicht, sondern nur und ausschließlich die Zeit des Versagens.“ (Haug 2003 S. 13 f.)
So ähnlich wie Frigga Haug könnten sich einige an ihre Schulzeit erinnern. Auch ich denke mit Unbehagen an das Lesen- und Schreibenlernen zurück. Während sich mein Lesen durch stetes Üben verbesserte, blieben meine Rechtschreibleistungen unter der Norm. In der 6. Klasse wurden Tests durchgeführt, mit dem Ergebnis, dass ich auf dem Gymnasium bleiben durfte und zwei Jahre intensiv gefördert wurde.
Dies alles hatte ich erfolgreich verdrängt, bis meine älteste Tochter zur Schule kam. Die Lehrerin sprach mich an und meinte, dass meine Tochter „Legasthenikerin“ wäre und getestet werden soll.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Legasthenie aus medizinischer Sicht
- Ursachen
- Erkenntnisse aus der Genetik
- Erkenntnisse aus der Neurobiologie
- Definition und Diagnostik
- Förderung
- Legasthenie im Schulrecht
- Das interaktive Modell der Entwicklung von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten - Eine Erweiterung des medizinischen Ansatzes
- Der Einfluss der familiären Interaktion
- Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten aus pädagogischer Sicht
- Schriftspracherwerb
- Vorläuferfertigkeiten zum Schriftspracherwerb
- Schriftspracherwerb als aktiver Prozess
- Förderdiagnostik
- Förderung
- Medizinischer versus pädagogischer Ansatz
- Folgen des Schulversagens
- Perspektivwechsel
- Konstruktivismus
- Grundgedanken des Konstruktivismus
- Radikaler Konstruktivismus
- Die Neurobiologie des Erkennes
- Systemtheorie
- Neuere Lernkonzeptionen
- Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten aus konstruktivistischer Sicht
- Definition und Diagnostik
- Förderung
- Beurteilung der individuellen Leistung
- Konstruktivistische Didaktik
- Förderung durch die Gestaltung von fördernden Umwelten, basierend auf dem Denkansatz des Konstruktivismus
- Die Relevanz des Konstruktivismus für „Legasthenie/LRS“
- ,,Legasthenie/LRS\" - Eine Spurensuche
- Zusammenfassung
- Das Bild des funktionierenden Menschens und der objektiven Wahrheit
- Das konstruktivistische Menschenbild und die subjektive Weltkonstruktion
- Systemische Einflüsse, die zum Erhalt des des Konstrukts „Legasthenie/LRS\" beitragen
- Systemebenen nach Bronfenbrenner
- Welche systemischen Zusammenhänge sind denkbar, die zum Entstehen des „Legasthenie/LRS\" Konstrukts führen und wie könnte eine konstruktivistische Sichtweise aussehen? Eine Annäherung auf verschiedenen Ebenen
- Meine persönliche Lernkontrolle und zugleich Resümee
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit zielt darauf ab, das Phänomen „Legasthenie/LRS“ aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Sie analysiert sowohl den traditionellen medizinischen Ansatz, der Legasthenie als ein neurobiologisches Defizit begreift, als auch den pädagogischen Ansatz, der sich auf die kognitiven und sozialen Aspekte des Schriftspracherwerbs konzentriert.
- Die verschiedenen Ursachen und neurobiologischen Grundlagen von Legasthenie/LRS
- Der Einfluss von familiären und schulischen Faktoren auf die Entwicklung von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten
- Die Kritik an der traditionellen Sichtweise von Legasthenie/LRS und die Einführung des konstruktivistischen Denkansatzes
- Die Bedeutung von förderlichen Lernumgebungen für den Schriftspracherwerb und die Förderung von Kindern mit Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten
- Die Folgen des Schulversagens und die Notwendigkeit einer systemischen Betrachtung von Legasthenie/LRS
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung schildert persönliche Erfahrungen mit dem Lesen- und Schreibenlernen und führt den Begriff „Legasthenie/LRS“ ein. Das zweite Kapitel beleuchtet Legasthenie aus medizinischer Sicht und untersucht die Ursachen, die Definition, die Diagnostik sowie die Förderung. Kapitel drei widmet sich dem interaktiven Modell der Entwicklung von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten und betrachtet den Einfluss der familiären Interaktion. Im vierten Kapitel werden Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten aus pädagogischer Sicht beleuchtet, wobei der Schriftspracherwerb, die Förderdiagnostik und die Förderung im Mittelpunkt stehen. Kapitel fünf vergleicht den medizinischen und pädagogischen Ansatz. Das sechste Kapitel thematisiert die Folgen des Schulversagens. Kapitel sieben führt den Perspektivwechsel ein und stellt den konstruktivistischen Denkansatz vor. Das achte Kapitel untersucht Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten aus konstruktivistischer Sicht und analysiert die Definition, Diagnostik, Förderung und die Beurteilung der individuellen Leistung. Es betrachtet auch die konstruktivistische Didaktik und die Förderung durch die Gestaltung von fördernden Umwelten. Kapitel neun stellt die Spurensuche nach dem Wesen von „Legasthenie/LRS“ dar. Kapitel zehn untersucht die systemischen Einflüsse, die zum Erhalt des Konstrukts „Legasthenie/LRS“ beitragen. Das letzte Kapitel fasst die persönlichen Lernkontrollen und das Resümee der Arbeit zusammen.
Schlüsselwörter
Die Arbeit befasst sich mit den Themen Legasthenie/LRS, Schriftspracherwerb, Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten, medizinischer Ansatz, pädagogischer Ansatz, konstruktivistischer Denkansatz, Förderdiagnostik, Förderung, Schulversagen, systemische Einflüsse, Lernumgebungen und Menschenbild.
- Citation du texte
- M.A. Kerstin Hanert-Möller (Auteur), 2006, Legasthenie/LRS - Eine Spurensuche mit Perspektivwechsel, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/65000