Gewaltdarstellung im Film. Zweck und Wirkung bei Michael Haneke und Quentin Tarantino

Am Beispiel "Funny Games" und "Pulp Fiction"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2001

28 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Biografie der Regisseure
a. Michael Haneke
b. Quentin Tarantino

3. Die Filme: Inhaltliche Einbindung der Gewalt
a. Funny Games
b. Pulp Fiction

4. Dargestellte Gewaltformen

5. Filmische und technische Darstellung
a. Funny Games
b. Pulp Fiction

6. Welche Absicht steckt hinter den Filmen? Auf der Suche nach Zweck und Effekt
a. Funny Games
b. Pulp Fiction

7. Fazit

8. Literatur
Filme
Sekundärliteratur / Nachschlagewerke
Internet

1. Einleitung

John Woo, Kitano, Quentin Tarantino – sie alle sind Autoren, die der Gewalt in ihren Filmen extrem viel Raum lassen, sie manchmal geradezu in Orgien feiern. Der österreichische Filmregisseur Michael Haneke distanziert sich von dieser Art der Gewaltdarstellung, er möchte Gewalt keinesfalls konsumierbar machen. Tarantinos Filme empfindet er als gut gemacht, jedoch uninteressant, da dieser durch Ironie die Gewalt auch für Intellektuelle konsumierbar mache.[1]

Aber wie weit ist Michael Haneke wirklich von einem Filmemacher wie Tarantino entfernt? Vergleicht man den Film „Funny Games“ mit Hanekes Bürgerkriegstrilogie, so ist zumindest dramaturgisch eine gewisse Annäherung an die Hollywood-Dramaturgie festzustellen. Auch stellen beide, trotz einer gewissen Anlehnung an das Genre, das klassische Thriller-Thema auf den Kopf. Und doch kann man Hanekes „Funny Games“ nicht mit dem Film „Pulp Fiction“ von Tarantino gleichsetzen. Während Tarantino mit Ironie arbeitet, folgt bei Haneke auf Gewalt noch größere Gewalt, ein Happy End gibt es nicht. Beide Filme stellen im Hinblick auf die dargestellte Gewalt einen Höhepunkt im filmischen Schaffen der Regisseure dar. Auch sind sie ihre jeweils erfolgreichsten und bekanntesten Spielfilme. Inwiefern gibt es nun einen Unterschied im Umgang mit Gewalt? Welchen Zweck und Nutzen hat die jeweilige Gewaltdarstellung? Obwohl sich Haneke so entschieden von der Konsumierbarkeit von Gewalt in Hollywood-filmen distanziert, bleibt zu untersuchen, ob er sich in seinem filmischen Werk nicht doch an selbige annähert. Auch bleibt zu ergründen, ob die Gewalt in den Filmen beider Autoren einen bestimmten Zweck erfüllt und ob die Filme den Ansprüchen der Autoren im Hinblick auf Konsumierbarkeit gerecht werden.

Um ein besseres Verständnis der Intentionen der Filmemacher und ihrer filmischen Arbeitsweise zu ermöglichen, werde ich zunächst beide Autoren kurz mit einer Biografie vorstellen. Danach möchte ich mich mit den dargestellten Gewaltformen beschäftigen und deren inhaltliche Einbindung in die Struktur der Filme untersuchen. Anschließend werde ich die filmische und technische Darstellung der Gewalt beleuchten und abschließend die Frage nach dem Zweck und Nutzen der Gewalt behandeln. Auch die Frage nach der Absicht der Gewaltdarstellung und ob diese geglückt ist, werde ich berücksichtigen, um schließlich zu einem Fazit zu kommen.

2. Biografie der Regisseure

a. Michael Haneke

Michael Haneke wurde 1942 in München geboren. Es folgte ein Studium der Psychologie, Philosophie und Theaterwissenschaften in Wien. Von 1967 bis 1970 war er Redakteur und Fernsehspieldramaturg beim SWF. Seit 1970 ist er freischaffender Drehbuchautor und Regisseur. Dabei entstanden außer seinen Filmen auch Theaterproduktionen in Stuttgart, Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg, München und Berlin. Diese verschiedenen Einflüsse in Form eines wissenschaftlichen Studiums, der Arbeit am Theater, beim Fernsehen und als Schriftsteller prägten Haneke nachhaltig in der Art und Themenwahl seiner Filme.

Neben zahlreichen Literaturverfilmungen und anderen Fernsehfilmen drehte Michael Haneke seine Bürgerkriegstrilogie, bestehend aus den Filmen „Der siebente Kontinent“ (1989), „Benny’s Video“(1993/4) und „71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls“(1991/92). Seine Filme sind gekennzeichnet durch reduzierte Dialoge, einer Verdichtung auf das Wesentliche und der Orientierung am Stil Robert Bressons (u.a. „L’argent“, 1983[2] )[3]. „Gegen die medialen Sehgewohnheiten des Mainstream-Kinos polemisiert er mittels Protagonisten, die er, Robert Bresson verwandt, als Modelle verwendet. Die Psychologie erschöpft sich in einem knappen Zucken der Mundwinkel. Die Gegenstände sind den Personen gleichberechtigt, sie skandieren und bestimmen die Alltagsrituale.“[4] Die Bilderkette seiner Filme wird immer wieder durch Zäsuren und „das Einbrechen der Dauer bestimmt. Der Schnitt erhält einen eigenen Wert. Er legt wiederholt Lücken zwischen die Bilder.(..) Betont wird dies durch die Verwendung von Schwarzfilm. Die Abwesenheit des Bildes führt nicht nur eine Pause ein, die mit dem Hinweis auf ein neues Kaptitel vergleichbar wäre. Vielmehr öffnet sich ein eigenständiger Raum, der sich weder mit dem Bild, das vor ihm liegt, noch mit seinem Anschlußbild verbindet.“[5] Mit anderen Worten: „Haneke zieht Proben aus dem gesellschaftlichen Alltag. Er seziert mit der Sicherheit eines Pathologen in präzise abgesteckten Zirkeln Kälte, Sprachlosigkeit, Monotonie im Leben von Menschen, die für sich die gängigen Vorstellungen von Glück bereits verwirklicht haben.“[6]

Die Menschen in Hanekes Filmen bewegen sich mechanisch durch die Welt, sind eingespannt in die Alltagsmaschinerie. Sie gehen mit den Dingen so routiniert um wie mit ihren Mitmenschen. Das Soziale ist geschrumpft auf Verhaltensmuster. Wo die Muster durchbrochen werden, herrscht Chaos, bricht Gewalt hervor.

Hanekes Figuren sind keine Charaktere, besitzen keine eigene Psychologie. Sie sind "aneinander gereihte Verhaltensweisen", wie Haneke sie selbst bezeichnet. "Im besten Fall dienen sie dem Zuschauer als Projektionsflächen, auf die er seine eigenen Gedanken und Gefühle projizieren kann".[7]

Neben formalen Elementen haben die Filme dieser Trilogie noch etwas gemeinsam: Sie handeln von der emotionalen Vergletscherung und Entwirklichung der modernen Menschen und sie sind alle authentisch. Seine Filme sind verstörend und behandeln Themen, die im Alltag meist verdrängt werden. Es werden viele unangenehme Fragen gestellt. Antworten gibt es keine.[8]

b. Quentin Tarantino

Tarantino wurde 1963 in Knoxville, Tennessee, geboren. Trotz einem angeblichen IQ von 160 hat er in der Schule große Schreib- und Rechenprobleme. Seinem Ziel, Schauspieler zu werden, kam er mit Schauspielkursen näher, die er sich als Platzanweiser in einem Pornokino finanzierte. Insgesamt nahm Tarantino fast sechs Jahre lang Schauspielunterricht. Trotzdem war sein einziges bezahltes Engagement ein Auftritt als Elvis-Double in der Rentnerinnen-Sitcom ‘Golden Girls’. Während dieser Zeit bekam er einen neuen Job, von dem er selber später sagte, es sei der beste seines Lebens gewesen. Er arbeitete in einer Videothek, wo er auch Roger Avary kennenlernte, der mit am Drehbuch für Pulp Fiction arbeitete. Hier konnte er über ein ganzes Arsenal von Bildern und Szenen verfügen, denn die Videothek besaß nicht nur amerikanische Mainstream-Filme, sondern auch viele europäische und asiatische Werke. In seinem phänomenalen Gedächtnis speicherte er alle Details, die ihn interessierten. Aus diesem reichen Fundus schöpfte er später massenhaft Material für seinen eigenen Arbeiten. Mit 23 Jahren schließlich schrieb er das Drehbuch für „True Romance“, das 1993 von Tony Scott verfilmt wurde. Er schrieb außerdem die Vorlage für „Natural Born Killers“ (verfilmt von Oliver Stone). Seine erste bezahlte Auftragsarbeit war das Drehbuch zu „From Dusk till Dawn“, das erst Jahre später von Roberto Rodriquez und mit Tarantino in einer der Hauptrollen verfilmt wurde. Sein eigenes Spielfilmdebüt war „Reservoir Dogs“ (1992). Danach folgte „Pulp Fiction“ (1994), der Tarantino in Cannes eine Goldene Palme bescherte und sieben Oscar-Nominierungen einbrachte.[9]

3. Die Filme: Inhaltliche Einbindung der Gewalt

a. Funny Games

Funny Games (1997) ist eine Mischung aus Drama, Problem- und Gewaltfilm. Er beginnt wie ein normaler Thriller. Familie Schober, die zum gehobenen Bildungsbürgertum gezählt werden kann, fährt mit Sohn und Hund zum Segelurlaub in ihr Haus am See. Doch zwei merkwürdig zuvorkommende Jungs, die sich als Gäste der Nachbarn ausgeben, machen ihnen einen Strich durch die Rechnung: Als Georg die beiden nach einem eskalierenden Streit aus dem Haus werfen will, zeigen die beiden ihr wahres Gesicht. Die Familie findet sich schnell als Gefangene im eignen Haus wieder, den beiden auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Bis dahin bewegt sich Haneke innerhalb der Grenzen des Thriller-Genres. Doch nach etwa einer halben Stunde lassen die Störenfriede üblicherweise durchblicken, hinter was sie her sind: Geld, Sex, Rache. Peter und Paul wollen nichts als eine Wette eingehen: "Sie wetten, dass Sie morgen um neun Uhr noch leben und wir, dass Sie alle drei tot sind." Nun davon auszugehen, es handle sich bei den beiden um Psychopathen, wäre falsch. Peter und Paul treiben makabere Spielchen, auch mit der Frage nach ihrem Motiv. Diese Spielchen münden schließlich in einer Wette auf Leben und Tod der Familie.[10] Kurze Szenen wie die direkte Ansprache der Zuschauer durch Paul oder der „zurückgespulte Tod“ verwirren den Zuschauer. Auch die übertriebene Hilflosigkeit der Opfer sowie überspitzt dargestellte Gewalttätigkeit der beiden Bösewichte durchbrechen übliche Thriller-Erwartungen. Es gibt auch keine eindeutigen Identifikationsfiguren, mit denen man sympathisiert, wie das sonst üblich ist. Der Zuschauer identifiziert sich eher mit der Umgebung und Situation der Hauptpersonen, als mit ihnen selbst.[11]

Am Anfang ist also alles nur etwas seltsam. Wieso bellt der Hund, als der Nachbar Fred mit Paul am Tor steht? Er „spinnt“ eben. Auch Fred erscheint „komisch“. Sohn Schorschi wundert sich, dass seine Freundin Sissi nicht da ist, obwohl sie sagte, sie wäre es. Und Anna wundert sich sehr, wie Peter eigentlich auf das Grundstück gekommen ist. All diese Merkwürdigkeiten nimmt die Familie aber hin. Doch dann zeigt die nackte Gewalt ihr hässliches Gesicht – nur die glückliche Auflösung verweigert Haneke: Er bedient sich einschlägiger Genretechniken, um sie auf den Kopf zu stellen. Denn ihm geht es nicht um einen reißerischen Thriller, sondern um den Themenkomplex Gewalt und Medien.[12]

Haneke verzichtet auf jegliche Art von Milieustudie, persifliert sogar die üblichen Kindheitstrauma und Unterschichtsklischees als gängige Erklärungen. Er wolle "der Gewalt das zurückgeben, was sie eigentlich ist" sagt Haneke, er sei "kein Sozialarbeiter und auch nicht der Oberlehrer der Nation". Das bedeutet: keine Gewaltverherrlichung.[13]

Vor dem Hintergrund eines so genannten klassischen Thrillers gesehen, werden die Unterschiede zu diesem deutlich. Die meisten Thriller haben ein „Bauernopfer“ in Reserve, eine Figur, die ohne allzu großen Verlust geopfert werden kann. Doch Haneke führt nur die drei Hauptfiguren Anna, Georg und Schorschi ein. Obwohl nach den Regeln der gängigen Dramaturgie alle drei überleben müssten, wird Schorschi getötet. Spätestens jetzt müssten die Eltern mit dem Mut der Verzweiflung sich der Entführer entledigen. Doch Haneke versperrt alle Fluchtwege. Das Handy ist funktionsuntüchtig, ein Fluchtversuch wird zum noch größeren Horror und auch das Messer im Boot erweist sich als Sackgasse. „Wer es bis dahin noch nicht gemerkt haben sollte, wird nun darauf gestoßen: Michael Haneke hat die ganze Zeit "Funny Games", merkwürdige Spiele, mit dem Publikum getrieben.“[14]

Der Film will den Zuschauer zum bewussten Komplizen und Voyeur machen. So zwinkert einer der Täter den Zuschauern zu und begründet eine Fortsetzung der Folterspiele damit, dass sie noch nicht auf Spielfilmlänge seien. Die Täter kommen nicht aus der Unterschicht, sondern entstammen der gleichen gesellschaftlichen Ebene wie die Opfer, sie sind gut gekleidet und vermögen sich absolut parkettsicher zu bewegen. Ihre Motive sind weder Neid noch Rache oder Habgier, sondern sie bleiben unklar. Am Ende werden sie nicht bestraft, sondern suchen sich neue Opfer.[15] Statt einem Happy End erweist sich das Ende des Films als eine Spirale der Gewalt, von der der Film nur einen beliebigen Ausschnitt, nämlich Leiden und Sterben der Familie Schober gezeigt hat.

Haneke hat in seinem Thriller mitten im Spiel die Regeln umgedreht: er nimmt dem Zuschauer die Distanz, lässt ihm keinen Raum mehr zum Rückzug. Er verweigert dem Zuschauer ebenso wie den Figuren im Film den Fluchtweg. Das Publikum wird zunehmend zum Komplizen der Verbrecher, vor allem mit Pauls Erklärung direkt in die Kamera: "Ist es schon genug? Sie wollen doch ein plausibles Ende!"

Funny Games durchbricht damit die Mauern der Gewöhnung des Kinopublikums. „Seine Gewalt ist tatsächlich nicht mehr zu konsumieren, weil sie dem Konsumwilligen zufügt, was sie ist: Schmerz.“[16] Statt, wie in Actionfilmen und gängigen Thrillern üblich, das Augenmerk auf die Täter und die Gewalt selbst zu richten, findet in „Funny Games“ die Gewaltausübung im Off statt. Der Fokus richtet sich stattdessen auf die Folgen der Gewalt. Die Opfer und ihre Leiden werden gezeigt, sehr deutlich an der quälend langen Szene nach Schorschis Tod. Der Zuschauer muss sich mit diesen schrecklichen Folgen bewusst auseinander setzen.

Zusammenfassen kann man sagen: Im Gegensatz zu genreüblichen Filmen wird Gewalt überdeutlich als Leiden der Opfer gezeigt, nicht aus der Sicht komplizenhafter Täterschaft. Haneke verweigert die Legitimierung und Erklärung von Gewalt. Stattdessen hinterlässt er eine Rätselkonstruktion, die den Zuschauer zwingen soll, über die wahrgenommene Gewalt und ihre Ursachen nachzudenken.[17]

b. Pulp Fiction

Für seine tragikomische Inszenierung der Gewalt hat Quentin Tarantino sich thematisch bei der „Schundliteratur“ der dreißiger und vierziger Jahre, den Unterwelt-Geschichten des ‘Pulp’ bedient. Die Helden dieser Groschenheftchen waren typisierte Figuren, die auch bei Tarantino auftauchen: genrebekannte Halbweltgestalten wie melancholisch-brutale Berufskiller, die vom Neuanfang träumen, über korrupte Boxer, die ein Mal siegen möchten, bis hin zur drogensüchtigen und gelangweilten Gangsterbraut.[18] Neben dieser Zitathaftigkeit ist sein Film geprägt durch eine episodisch-verschachtelte Erzählstruktur, in der er drei Haupthandlungen erzählt: ‘Vincent Vega and Marsellus Wallace’s Wife’, ‘The Golden Watch’ und ‘The Bonnie Situation’. Da diese Handlungsstränge nicht chronologisch erzählt werden, aber trotzdem miteinander verbunden sind, erlauben sie Tarantino verblüffende Kniffe wie die ‘Auferstehung’ Vincent Vegas in der Schlussepisode, nach dem er in der Mitte des Filmes erschossen wurde. Diese Verfremdungseffekte setzen den Zuschauer durch Verblüffung in Distanz zum Geschehen und verweisen auf „das Inszeniertsein der Handlung.“[19] Bezeichnend für Tarantinos Film ist das Spiel mit den Erwartungen der Zuschauer. Es sieht nämlich zuerst so aus, als folgten die Figuren und Geschichten den gängigen und bekannten Genremustern. Doch plötzlich werden sie ganz unerwartet fortgesetzt.[20] Da ist zum Beispiel der Gangster, der die schöne junge Frau seines Bosses ausführen soll und auf jeden Fall die Finger von ihr lassen soll. Durch einen dummen Zwischenfall (sie verwechselt Kokain mit Heroin), muss er schließlich doch Hand an sie legen – allerdings ganz anders, als er es sich vorgestellt hat. Oder der Boxer, der eben diesen Boss hintergeht, als er nicht, wie verabredet, den Kampf verliert. Er gerät durch Zufälle und absurde Verkettungen von Umständen mit diesem Boss in Gefangenschaft, rettet ihn und somit sein Leben. Tarantino zeigt eine Gesellschaft, die von „Brutalität, Dummheit, moralischer Indifferenz und grotesken Zufällen beherrscht wird.“[21]

Die narrativen Regeln des Kinos werden bei Tarantino permanent unterlaufen. So haben zum Beispiel die vermeintlichen Rückblenden kein auslösendes Subjekt. Sie werden durch nichts innerhalb der Geschichte ausgelöst, mit Ausnahme der Szene, in welcher der Boxer Butch Coolidge sich an seine Kindheit erinnert. Auch die erzählerische Klammer der Szenen mit Vincent und Jules bildet keine Rahmenhandlung, obwohl das gemeinhin so üblich ist. Es gibt keine andere Instanz für den nonlinearen Handlungsverlauf als die des Autors, keine Motivation oder Legitimation innerhalb des Films, nur äußere und manipulative Eingriffe desselben. Damit erreicht Tarantino eine schöpferische Emanzipation und ebnet sich so den Weg zu neuen erzählerischen Möglichkeiten. Die Hauptfiguren zum Beispiel werden zu Nebenfiguren und umgekehrt, Tote können scheinbar wieder auferstehen. Ihm gelingt das Wecken und Wachhalten des Zuschauerinteresses mittels Überrumplung nach dem Motto: „Answers first, questions later“.[22] Genauso funktioniert gleich der Filmanfang: Nach einem Dialog zwischen Honeybunny und Pumpkin mit Themen aus dem Gangstermilieu findet unvermittelt der Überfall statt, die beiden ziehen die Waffen und bedrohen die übrigen Gäste des Restaurants. Ebenso unvermittelt, wie der Gewalt ausbrach, wird sie auch wieder durch einen Schnitt und eine Schwarzblende beendet. Es folgt Musik und die Einblendung des Filmtitels. Danach sieht der Zuschauer nicht, wie es weitergeht, sondern Jules und Vincent werden eingeführt. Die beiden sitzen im Auto und führen ein Gespräch über Hamburger, Drogen, Waffen und die Frau ihres Bosses, dazu läuft im Radio lässige und coole Musik, die an die 60er Jahre erinnert. Später holen sie aus dem Kofferraum Waffen und betreten ein Haus. Wieder folgt ein banaler Dialog. Schließlich betreten sie die Wohnung von zwei jungen Männern. Die Stimmung wird durch die offensichtliche Angst von Brett und seinem Freund Roger bedrohlich. Doch mit dem plötzlichen Schuss von Jules rechnet der Zuschauer nicht. Und noch während der Zuschauer damit beschäftigt ist, diesen plötzlichen und kurzen Gewaltausbruch zu verarbeiten, lockert Jules die Situation mit einer zynischen Bemerkung zu Brett auf: „Oh, tut mir leid. Hab’ ich dich aus dem Konzept gebracht?“. Im Verlauf des nun folgenden Dialoges wird Jules immer wütender und lauter. Die Situation eskaliert in der Erschießung Bretts, darauf folgt eine Schwarzblende. Auch später wird es wieder solche unvermittelten Gewaltausbrüche geben, die danach ebenso plötzlich durch Schwarzblenden beendet werden. Zum Beispiel, als Butch und Marsellus in das Geschäft des Pfandleihers Maynard kommen: Als Maynard Butch plötzlich mit dem Gewehrkolben bewusstlos schlägt, folgt die Schwarzblende. Auch der Schuss in Marvins Gesicht, der sich plötzlich aus Vincents Waffe löst, kommt für den Zuschauer völlig unerwartet. Wieder wird die Situation mit Komik entschärft, als Vincent verblüfft feststellt: „Oh Mann, ich hab’ Marvin ins Gesicht geschossen“. Anschließend streiten sich Vincent und Jules darüber, wie das passieren konnte, denn Vincent meint, Jules sei wohl über einen „Hubbel“ gefahren. Der Zuschauer wird also immer wieder mit unvermittelten Gewaltausbrüchen konfrontiert, die teilweise durch Schwarzblenden abgebrochen oder durch Ironie und Zynismus entschärft werden.

Tarantinos Filme verbinden Erschrecken, Schock und Amüsement durch als alltäglich und beiläufig dargebotenen Gewalt. Das gewalttätige Geschehen wird in ein Klima von Witz und Satire eingebettet. Es wimmelt von Kleinigkeiten, die ‘dumm gelaufen’ sind und durch alltägliche Unzulänglichkeiten ausgelöst wurden.

[...]


[1] Horwarth, Alexander/Spagnoletti, Giavanni: Interview mit Michael Haneke: „La negazione è l’unica froma
d’arte che sie possa prendere sul serio“. In: Horwarth/Spagnoletti: Michael Haneke, Turin 1998, S. 59.

[2] siehe: Höller, Josef: Lexikon der Filmregisseure, S. 42.

[3] Steiner, Gertrud: Filmbuch Österreich, Wien 1995, S. 81.

[4] Büttner, Elisabeth / Dewald, Christian: Anschluss an Morgen. Eine Geschichte des österreichischen Films
von 1945 bis zur Gegenwart, Salzburg, Wien 1997, S. 413.

[5] Büttner/ Dewald, S. 413.

[6] Büttner/ Dewald, S. 376.

[7] Zuber, Matthias: Die vergletscherte Gesellschaft; in: Berliner Zeitung, 26.10.1995.
http://www.berlinonline.de/wissen/berliner_zeitung/archiv/1995/1026/kultur/0038/index.html

[8] Richter, Alexander: http://people.freenet.de/ARichter/haneke.html (8.9.2000).

[9] Nagel, S. 7-16.

[10] Kositza, Ellen: Wetten, das Grauen wird fühlbar, in: Junge Freiheit, 39/97; http://www.junge-
freiheit.de/archiv/39aa16.htm (19.09.97); Rodek, Hanns-Georg: Dem Publikum jeden Fluchtweg verbaut, in:
Die Welt, 10.9.1997.

[11] Horwarth/Spagnoletti, S. 52-53.

[12] http://www.bz-berlin.de/bz/kino/arch/ar202.htm (10.09.97).

[13] Kositza, Ellen: www.jungefreiheit.de

[14] Rodek, Hanns-Georg: www.diewelt.de

[15] Engelberg, Achim: http://www.jungewelt.ipn.de/1998/10-22/018.htm (22.10.1998).

[16] Rodek, Hanns-Georg: www.diewelt.de

[17] Grabner, S. 12-13.

[18] Barg, S. 138-140.

[19] Barg, S. 140.

[20] Nagel, S. 104.

[21] Lexikon des Internationalen Films. Filmjahr 1997, Reinbek b. Hamburg, 1998, S. 4462.

[22] Fischer/Körte/Seeßlen: Quentin Tarantino, Berlin 1997, S. 145-146.

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Gewaltdarstellung im Film. Zweck und Wirkung bei Michael Haneke und Quentin Tarantino
Untertitel
Am Beispiel "Funny Games" und "Pulp Fiction"
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen  (Deutsches Seminar)
Veranstaltung
Hauptseminar Medien-Gewalt-Wahrnehmung: Die Filme Michael Hanekes im Kontext
Note
2,0
Autor
Jahr
2001
Seiten
28
Katalognummer
V652
ISBN (eBook)
9783638104302
ISBN (Buch)
9783638837040
Dateigröße
511 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gewaltdarstellung, Film, Zweck, Wirkung, Michael, Haneke, Quentin, Tarantino, Beispiel, Games“, Fiction“, Hauptseminar, Medien-Gewalt-Wahrnehmung, Filme, Michael, Hanekes, Kontext
Arbeit zitieren
Sabine Schneider (Autor:in), 2001, Gewaltdarstellung im Film. Zweck und Wirkung bei Michael Haneke und Quentin Tarantino, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/652

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