Frank J. Sulloway – Forschungsprofessor und Wissenschaftshistoriker am Department of Brain and Cognitive Science des renommierten Bostoner MIT (Massachusetts Institute of Technology) – ist in über zwanzigjähriger Forschungsarbeit der Frage nachgegangen, warum manche Menschen ihr Leben lang eher konservativen Grundhaltungen treu bleiben und vehement den Status quo verteidigen, während andere immer wieder das bestehende Denken durchbrechen; warum einige Wissenschaftler neue, innovative Theorien auf das Schärfste ablehnen, während sich andere wiederum geradezu auf die Jagd nach revolutionären Neuerungen begeben und warum sich manche Menschen eher zu klassischen ehrgeizigen und verantwortungsbewussten Führungspersonen entwickeln, während andere durch eine enorme Interessenvielfalt gekoppelt mit radikaleren Positionen eher zu Rebellen werden. Vor dem Hintergrund systemtheoretischer Betrachtungsweisen untersuchte Sulloway in empirischen Studien die Sozialisationsrelevanz von Geschwisterbeziehungen im Zusammenhang der Beziehungsdynamiken in der jeweiligen Familie, der Geburtenfolge sowie der daraus resultierenden spezifischen Geschwisterdifferenzen. In seinem Buch „Der Rebell der Familie. Geschwisterrivalität, kreatives Denken und Geschichte“ stellt Sulloway die Ergebnisse seiner zwei Jahrzehnte umfassenden Arbeit vor und verbindet sie zu einer Theorie der Geschwisterstrategien, die, wie er selbst betont, neben der Geburtenfolge auch Faktoren wie Konflikte zwischen Eltern und Kindern, die verfügbaren elterlichen Ressourcen, die Familiengröße, das Geschlecht sowie das Temperament berücksichtigt bzw. berücksichtigen muss. Diese und andere Teilaspekte werden in der vorliegenden Arbeit exemplarisch zusammengefasst sowie deren eminente Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung beleuchtet, wobei die von Sulloway zusätzlich thematisierten Einflussgrößen wie Gesellschaft, Politik und Geschichte an dieser Stelle außer Acht gelassen werden.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1 Exkurs: Das Divergenzprinzip nach Charles Darwin
Die Bedeutung der Evolutionstheorie für die Erklärung von Geschwisterdifferenzen
2 Der Zusammenhang von Geschwisterdifferenzen und Geschwisterstrategien
Genetische und umweltbedingte Unterschiede – Unbesetzte Nischen und Gegensatzeffekte
3 Geschlechtsspezifische Geschwisterdifferenzen
Geschlechterstereotype und der Zusammenhang von Konformität und Geburtenfolge
4 Temperamentsbedingte Geschwisterdifferenzen
Extravertiertheit vs. Introvertiertheit und der Einfluss der Geburtenfolge
5 Der Einfluss von Störfaktoren auf die Familiendynamik
Eltern-Kind-Konflikte – Altersabstand zwischen Geschwistern – Verlust eines Elternteils
Nachwort
Literatur- und Quellenverzeichnis
Vorwort
Frank J. Sulloway – Forschungsprofessor und Wissenschaftshistoriker am Department of Brain and Cognitive Science des renommierten Bostoner MIT (Massachusetts Institute of Technology) – ist in über zwanzigjähriger Forschungsarbeit der Frage nachgegangen, warum manche Menschen ihr Leben lang eher konservativen Grundhaltungen treu bleiben und vehement den Status quo verteidigen, während andere immer wieder das bestehende Denken durchbrechen; warum einige Wissenschaftler neue, innovative Theorien auf das Schärfste ablehnen, während sich andere wiederum geradezu auf die Jagd nach revolutionären Neuerungen begeben und warum sich manche Menschen eher zu klassischen ehrgeizigen und verantwortungsbewussten Führungspersonen entwickeln, während andere durch eine enorme Interessenvielfalt gekoppelt mit radikaleren Positionen eher zu Rebellen werden. Vor dem Hintergrund systemtheoretischer Betrachtungsweisen untersuchte Sulloway in empirischen Studien die Sozialisationsrelevanz von Geschwisterbeziehungen im Zusammenhang der Beziehungsdynamiken in der jeweiligen Familie, der Geburtenfolge sowie der daraus resultierenden spezifischen Geschwisterdifferenzen. In seinem Buch „Der Rebell der Familie. Geschwisterrivalität, kreatives Denken und Geschichte“ stellt Sulloway die Ergebnisse seiner zwei Jahrzehnte umfassenden Arbeit vor und verbindet sie zu einer Theorie der Geschwisterstrategien, die, wie er selbst betont, neben der Geburtenfolge auch Faktoren wie Konflikte zwischen Eltern und Kindern, die verfügbaren elterlichen Ressourcen, die Familiengröße, das Geschlecht sowie das Temperament berücksichtigt bzw. berücksichtigen muss. Diese und andere Teilaspekte werden in der vorliegenden Arbeit exemplarisch zusammengefasst sowie deren eminente Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung beleuchtet, wobei die von Sulloway zusätzlich thematisierten Einflussgrößen wie Gesellschaft, Politik und Geschichte an dieser Stelle außer Acht gelassen werden.
1 Exkurs: Das Divergenzprinzip nach Charles Darwin
Die Bedeutung der Evolutionstheorie für die Erklärung von Geschwisterdifferenzen
Warum entwickeln sich Geschwister teilweise auf eminent unterschiedliche Art? Warum können sie so verschieden sein wie Menschen, die gar nicht miteinander verwandt sind? Und warum werden sie immer unterschiedlicher, je länger sie miteinander leben? Charles Darwin, der Begründer der Evolutionstheorie, hätte auf diese Fragen eine eindeutige Antwort: Der Grund für eine solche Entwicklung liegt im Überlebensinteresse der Nachkommen.
Um die Ursachen eben dieser Differenzen heraus zu arbeiten, eignet sich Darwins Divergenzprinzip, welches im biologischen Sinne eine unterschiedlich verlaufende, zur Artbildung führende Entwicklung bei Nachkommen einer gemeinsamen Stammform definiert. Das berühmteste Beispiel, welches Darwin an einer Konstanz der Arten zweifeln ließ, stellen die so genannten Darwinfinken[1] dar. Von Südamerika aus besiedelte der bodenbewohnende, körnerfressende Fink Geospiza die 1000 km westlich gelegenen Galapagos-Inseln, auf denen nicht nur die Voraussetzungen für ein Überleben der eigenen Art gegeben, sondern alle anderen ökologischen Nischen frei und erreichbar waren, welche von ihm im Laufe der stammesgeschichtlichen Entwicklung mit 14 endemischen Arten besetzt wurden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
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Durch den Prozess der Merkmalsverschiebung bzw. der adaptiven Radiation, bei dem bestimmte Formen entstehen, die charakteristisch voneinander abweichen, erfolgte eine Spezialisierung der Vögel auf unterschiedliche Nahrung und Wohnräume. Mit dem Ziel der Nutzung unbesetzter Nischen und somit der Verminderung direkter Konkurrenz entwickelten sich aufgrund differenzierter Schnabelformen insekten- bzw. pflanzenfressende sowie Bäume und Kakteen bewohnende Unterarten des Geospiza. Im Kampf um knappe Ressourcen besteht die Lösung also darin, „daß die modifizierten Abkömmlinge aller dominanten und sich weiter verbreitenden Formen dazu neigen, sich vielen, hochgradig verschiedenen Stellen im Naturhaushalt anzupassen.“[2] Das so genannte Konkurrenzausschlussprinzip sichert zudem das Überleben der Arten, die gleiche Anforderungen an ihre Umwelt stellen, indem sie durch eine geographische Isolation voneinander getrennt vorkommen, da sie im gleichen Wohnraum nicht koexistieren können.
Genauso, wie es für die verschiedenen Finken überlebensnotwendig ist, dass nicht alle Mitglieder einer Art die gleiche Nahrung bevorzugen, so ist es ebenso für den Menschen wichtig, sich unterschiedlich zu entwickeln, wenn es allgemein gesehen um knappe Ressourcen geht.
2 Der Zusammenhang von Geschwisterdifferenzen und Geschwisterstrategien
Genetische und umweltbedingte Unterschiede – Unbesetzte Nischen und Gegensatzeffekte
Unter Berücksichtigung der im Exkurs dargestellten evolutions-psychologischen Erkenntnisse sollen nun die genetischen Ursprünge, die Bedeutung von unbewussten Prozessen sowie die Rolle des familiären Umfeldes für die Herausbildung von Geschwisterdifferenzen erläutert werden.
Zunächst einmal legen die Erbanlagen den Grundstein für die geschlechtsspezifische körperliche Entwicklung. Bei der geschlechtlichen Fortpflanzung halbiert sich der genetische Beitrag jedes Elternteils, wobei zusätzlich die einzelnen Gene durch Rekombination in ihrer Abfolge neu zusammengesetzt werden.[3] Außerdem sind Erbfaktoren in Kombination mit individuellen Erfahrungen ebenso für die Entfaltung psychischer Persönlichkeitsmerkmale und somit auch von geschwisterlichen Unterschieden verantwortlich. Sozialisationstheoretisch wird von der Arbeitshypothese ausgegangen, „dass im Verlaufe des
Lebens etwa die Hälfte der Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltenseigenschaften eines Menschen auf seine genetische Ausstattung, die andere Hälfte auf Umweltbedingungen zurückzuführen ist.“[4] Der Prozess der Subjektwerdung vollzieht sich demnach in einem Wechselspiel von Anlage und Umwelt. Frick betont in diesem Zusammenhang, dass „die Entwicklungsfaktoren Umwelt (exogener Faktor), Anlage/Dispositionen (endogener Faktor) und Individuum (individuelle subjektive Verarbeitung/Deutung) [..] in einer permanenten Interaktion [stehen] und [..] sich vermutlich in Bezug auf die Persönlichkeitsmerkmale nie wissenschaftlich einwandfrei trennen [lassen] .“ (Zusatz zum Original: AR, MT)[5]
Viele der bereits angesprochenen individuellen Erfahrungen werden dabei im familiären Umfeld durchlebt. Es ist bis heute nicht eindeutig geklärt, ob entweder zufällige Ereignisse oder aber systematische, also regelmäßig wiederkehrende, Erfahrungen einen prägenderen Einfluss auf die Persönlichkeit ausüben. Allerdings hebt Sulloway die überragende Bedeutung der systematischen Erfahrung elterlicher Diskriminierung hervor, denn auch entgegen aller guten Absichten behandeln Eltern ihre Kinder (unbewusst) nicht gleich.[6] Die durchaus privilegierte Vorrangstellung von Erstgeborenen, die darin besteht, dass sie die erste familiäre Nische nutzen und anfänglich die gesamte Zuwendung und Unterstützung der Eltern genießen, gerät bei der Geburt eines Geschwisterkindes gewissermaßen ins Wanken. Die elterliche Aufmerksamkeit wird somit schnell zu einer knappen Ressource, die mit dem „Rivalen“ geteilt werden muss. Aber auch Spätergeborene sind äußerst sensibel in Bezug auf ungleich verteilte Zuneigung und reagieren sehr empfindlich, wenn soziale Vergleiche mit älteren Geschwistern, welche sie oftmals selbst anstellen, zu ihren Ungunsten ausfallen.
In diesem Zusammenhang stellt sich also insbesondere für Spätergeborene die Frage, wie ein möglichst hohes Maß an elterlicher Investition erlangt werden kann. Die Antwort auf diese Frage besteht aus darwinistischer Perspektive in der Suche nach unbesetzten Nischen und in der Bildung von Gegensatzeffekten. In diesem Sinne stellt eine Geschwisterstrategie zur Verminderung direkter Konkurrenz die Desidentifikation dar.[7] Identifiziert sich ein Kind beispielsweise stark mit der Mutter, dann wird sich das nachfolgende in besonderem Maße mit dem Vater identifizieren. Nach den Ausführungen Schachters interpretiert, stellt die Desidentifikation eine Abwehr gegen die Geschwisterrivalität bzw. gegen die „mörderischen Impulse“ dar, welche aus dem Kainkomplex hervorgehen. Psychoanalytisch betrachtet besteht also nicht nur der unbewusste Wunsch, ein Elternteil zu töten, was in den Augen Darwins
einem Selbstmord gleichkäme – denn Strategien zur Überlebenssicherung sowie zur Fortpflanzung werden durch den engen Kontakt von Eltern und Nachkommen erlernt – sondern ebenso die unbewusste Absicht, ein Geschwisterkind töten zu wollen.
Aus darwinistischer respektive evolutions-psychologischer Perspektive kann die Desidentifikation oder auch der Wunsch von Geschwistern, verschieden zu sein, als offensive Strategie gesehen werden und nicht als defensive. Geschwister machen sich, um es mit den Worten Sulloways auszudrücken, unbesetzte Nischen zunutze, weil sie etwas gewinnen wollen, nämlich elterliche Zuwendung.[8]
[...]
[1] Vgl. Vogel / Angermann (1990), S.507.
[2] Darwin (1993), S.125 zit. n. Sulloway (1999), S.102.
[3] Vgl. Sulloway (1999), S.103.
[4] Hurrelmann (2002), S.24.
[5] Frick (2004), S.28.
[6] Vgl. Sulloway (1999), S.106f.
[7] Vgl. a.a.O., S. 112f.
[8] Vgl. a.a.O., S.114.
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