In dieser Arbeit soll der Europäische Gerichtshof (EuGH) als Akteur im europäischen Integrationsprozess untersucht werden. Das Recht hat bisher eine entscheidende Rolle bei der europäischen Integration gespielt, da es als Gestaltungsmittel zur Umsetzung der Vertragsziele die politischen Akteure an ihre vertraglichen Verpflichtungen bindet. Der EuGH wird in diesem Zusammenhang daher oft als „Motor der Integration“ bezeichnet, da ihm u. a. die rechtliche Kontrolle bei der Umsetzung von Rechtsakten zukommt. Doch ist der EuGH tatsächlich der „Motor der Integration“ dessen Rechtssprechung, auch gegen den Willen mächtiger Mitgliedstaaten, den Prozess der Integration weiter vorantreibt? Oder ist der Gerichtshof in Luxemburg lediglich der juristische Sachverwalter der Mitgliedstaaten, dessen Akzeptanz in der Rechtssprechung vom Kosten- Nutzen Kalkül der Mitgliedstaaten abhängig ist? Den theoretischen Hintergrund für diese Fragestellung bilden der neofunktionalistische Ansatz von Anne-Marie Burley und Walter Mattli auf der einen, und der intergouvernementale Ansatz von Geoffry Garret auf der anderen Seite. Diese gegensätzlichen theoretischen Ansätze sollen, vor dem Hintergrund der Entwicklung der Kompetenzen des EuGH, ausgewertet und in ihrer Erklärungsreichweite bewertet werden.
Gliederung der Arbeit
1. Einleitung
1.1 Warum der EuGH?
2. Die latente Integrationsfunktion des Rechts: Der neofunktionalistische Ansatz
2.1 Die Akteure und ihre Motivationen
2.2 Der Prozess
2.3 Politik im Prozess der Integration durch Recht
2.4 Zusammenfassung
3. Die Integrationsfunktion des Rechts als gewollte Klammer zur Umsetzung eines gemeinsamen Marktes: Der Intergouvernementale Ansatz
3.1 Die „Cassis“ de Dijon Entscheidung
3.2 Zusammenfassung
4. Erklärungsreichweite der Theorie und Entwicklung der europäischen Rechtssprechung
4.1 Direkte Anwendbarkeit und Vorrangthese
4.2 Nationale Gerichte und der EuGH
4.3 Vorabentscheidungsverfahren und private Kläger
4.4 Zusammenfassung
Literatur- Quellenverzeichnis:
Der EuGH als Gestalter der Europäischen Integration:
Akteur im entpolitisierten Metier des Rechts oder juristischer Gestalter mitgliedstaatlicher Vorgaben?
Tobias Herzog
1. Einleitung
In dieser Arbeit soll der Europäische Gerichtshof (EuGH) als Akteur im europäischen Integrationsprozess untersucht werden. Das Recht hat bisher eine entscheidende Rolle bei der europäischen Integration gespielt, da es als Gestaltungsmittel zur Umsetzung der Vertragsziele die politischen Akteure an ihre vertraglichen Verpflichtungen bindet. Der EuGH wird in diesem Zusammenhang daher oft als „Motor der Integration“ bezeichnet, da ihm u. a. die rechtliche Kontrolle bei der Umsetzung von Rechtsakten zukommt. Doch ist der EuGH tatsächlich der „Motor der Integration“ dessen Rechtssprechung, auch gegen den Willen mächtiger Mitgliedstaaten, den Prozess der Integration weiter vorantreibt? Oder ist der Gerichtshof in Luxemburg lediglich der juristische Sachverwalter der Mitgliedstaaten, dessen Akzeptanz in der Rechtssprechung vom Kosten- Nutzen Kalkül der Mitgliedstaaten abhängig ist?
Den theoretischen Hintergrund für diese Fragestellung bilden der neofunktionalistische Ansatz von Anne-Marie Burley und Walter Mattli auf der einen, und der intergouvernementale Ansatz von Geoffry Garret auf der anderen Seite. Diese gegensätzlichen theoretischen Ansätze sollen, vor dem Hintergrund der Entwicklung der Kompetenzen des EuGH, ausgewertet und in ihrer Erklärungsreichweite bewertet werden.
1.1 Warum der EuGH?
Als supranationale Organisation ist die Europäische Union ein internationales Erfolgsmodell. Von einem zunächst wirtschaftlichen Vertragswerk, der Montanunion, ist eine Wertegemeinschaft gewachsen dessen Rechtsakte mehr und mehr in ursprünglich, nationalstaatliche Belange eingreifen. Nicht ohne Grund sprechen Politikwissenschaftler von einem „ penetrierten politischen System[1] “ in Deutschland. Dies lässt sich auch für die anderen Mitgliedstaaten attestieren. Unabhängig von staats- oder akteurszentrierten Standpunkten kann man sagen, dass der EuGH und seine heutigen Kompetenzen in den Gründungsverträgen nicht festgehalten sind, sondern nachwirkend durch Interpretation entwickelt wurden. Die sonst auf völkerrechtlicher Ebene übliche Rollenzuweisung als Schiedsgericht oder Schlichtungsorgan hat der Gerichtshof hinter sich gelassen. Das Prinzip der ausschließlichen Kompetenzen[2] für alle EU- Organe ist vom EuGH durch extensive Auslegung der ergänzenden Rechtssetzungsbefugnis[3] so gut wie negiert worden. In politikwissenschaftlicher wie juristischer Literatur ist man sich einig, dass es sich bei dem Gerichtshof in Luxemburg um den „(...) most powerful and influental supranational court in world history “[4] handelt. Trotz dieser unbestrittenen Einzigartigkeit und der weit reichenden Kompetenzen gibt es in der theoretischen Auseinandersetzung „ significant disagreement about the extend to wich it can decide cases against their [Mitgliedstaaten] interests.“[5]
Um diesen Aspekt der intergouvernementalen- neofunktionalistischen Auseinandersetzung zu verstehen, werden zunächst die Prämissen beider Theorien näher betrachtet, um im Anschluss die Erklärungsreichweite an der Entwicklung der Rechtssprechung zu überprüfen.
2. Die latente Integrationsfunktion des Rechts: Der neofunktionalistische Ansatz nach ANNE-MARIE BURLEY und WALTER MATTLI:
In ihrem Aufsatz „ Europe Before the Court “[6] greifen MATTLI und BURLEY die Prämissen der neofunktionalistischen Theorie auf, um den Akteur EuGH aus neuer Sichtweise zu untersuchen. Die grundlegenden Vorraussetzung für den Neofunktionalismus nach ERNST HAAS bleiben dabei gewahrt. Für HAAS waren technische, bzw. wirtschaftliche oder industrielle Zweige und deren zunehmende Verästelung in einem interdependenten System funktionaler Differenzierung die Auslöser für „Spill-over“ – Effekte am Anfang supranationaler Kooperationen. BURLEY/MATTLI substituieren in ihrer Arbeit diesen Funktionsbereich durch das Gemeinschaftsrecht und dem dazu gehörigen Gemeinschaftsorgan – dem EuGH.
2.1 Die Akteure und ihre Motivation:
Der Gerichtshof agierte nach BURLEY/MATTLI im Gewand eines unpolitischen Akteurs und ermöglichte durch pro- europäische Rechtsfortbildung[7] den Zugang Dritter zum Gemeinschaftsrecht. Durch diese völkerrechtlich unübliche, horizontale Öffnung des Gemeinschaftsrechts bleibt die nefunktionalistische Prämisse divergierender Interessenstrukturen durch private Kläger erhalten. Diese Akteure sind keinesfalls überzeugte Europäer mit integrativen Absichten, sondern sehen lediglich durch das Gemeinschaftsrecht eine weitere Möglichkeit eigene Interessen geltend zu machen. „ (...) the history of the direct effect doctrine is the history of carving individually enforceable rights out of a body rules apparently applicable only to states. In neofunctionalist terms, the Court created a pro-community constituency of private individuals by giving them a direct stake in promulgation and implementation of community law.”[8] Durch die Umgehung zur supranationalen Ebene über ihr eigenes Rechtssystem bleibe den Nationalstaaten nur eine passive Rolle. Es wird nicht verneint, dass sie die Träger ultimativer politischer Macht seien und Entscheidungen des EuGH umgehen oder ignorieren könnten, jedoch müsse zunächst mal ein unilaterales Interesse bestehen. Der Hauptgrund nationaler Gebundenheit sei jedoch die Abwägung der Kosten eines Alleingangs, da durch die eigene Abweichungen Präzedenzfälle für andere Staaten geschaffen würden, ebenfalls eigene Interessen in den Vordergrund zu schieben. Solche Alleingänge bedeuteten ebenfalls zusätzlichen Druck von supranationaler- wie nationaler Ebene durch Interessengruppen, die einen Vorteil in der Integration sehen. Vertragsverletzungen oder mangelhafte Umsetzung gemeinschaftlicher Rechtsakte konnten nun vor nationalen Gerichten beklagt werden. Die Verbindlichkeit der Verträge bekam so eine andere Dimension der Verpflichtung da die eigenen Gerichte nicht einfach missachtet werden konnten. Natürlich sei diese Entwicklung auch im Interesse der Richter aus Luxemburg, denn so hatte man eine weitere Kompetenzerweiterung geschaffen, die durch zusätzlich Nutzer bzw. Kläger legitimiert wurde. Die Nutzung der gemeinschaftsrechtlichen Option zur Durchsetzung eigener Interessen wurde nach BURLEY/MATTLI bewusst durch den EuGH forciert, indem die Praktiker des Rechts (Anwälte, Richter und Rechtsgelehrter) in einer Art Aufklärungskampagne mit dem Gemeinschaftsrecht vertraut gemacht und stimuliert wurden, es auch anzuwenden. Durch diese Bemühungen entstand eine auf Gemeinschaftsrecht spezialisierte Gruppe von Praktikern und sorgte so für eine „(...) proliferation of community lawyers (..)[9] “ unterhalb der nationalstaatlichen Ebene. Durch diese „Proliferation der Anwälte“ hatten potentielle Kläger ihre Praktiker zur Umsetzung von Klagen. Auch der akademische Sektor der Rechtsgelehrten leistete, durch die Veröffentlichung spezieller Literatur zum Gemeinschaftsrecht, seinen Teil zur Legitimation und Annerkennung der Rechtssprechung.
Als wichtigstes Bindeglied der neu geschaffenen Gemeinschaft von Spezialisten für EU-Recht und privaten Kläger auf der einen und dem EuGH auf der anderen Seite, waren die nationalen Gerichte. Die Akzeptanz des Vorabentscheidungsverfahrens durch nationale Gerichte war der entscheidende Schritt zur horizontalen Ausbreitung des Gemeinschaftsrechts. In diesem Zusammenhang verweisen BURLEY/MATTLI darauf, dass auch Richter nationaler Gerichte die Gäste der „Aufklärungskampagne“ des EuGH waren. Für die genauen Motive der nationalen Richter finden sich mehrere Erklärungen, grundsätzlich gehen BURLEY/MATTLI jedoch von Prestige- und Machtzuwachs als Beweggrund aus. Damit sei vor allem die Möglichkeit der nationalen Gerichte gemeint, aus einer sonst hierarchisch niederen Position Normen des nationalen Rechts überprüfen zu lassen. Aus neofunktionalistischer Sichtweise wurde also die Loyalität der nationalen Gerichte in Fragen des Gemeinschaftsrechts zugunsten des neuen Verbündeten auf supranationaler Ebene verschoben. Durch die neuen Verbündeten konnte jedoch auch der EuGH seine Stellung im supranationalen Gefüge verbessern. BURLEY und MATTLI schreiben dazu: „It is obvious that any measures that succeed in raising the visibility, effectiveness, and scope of EC law also enhance the prestige and power of the Court and its members, [...]. In addition, however, by presenting itself as the champions of individual rights and the protector of the prerogatives of lower national courts, the ECJ also burnishes its own image and gives its defenders weapons with which to rebut charges of antidemocratic activism.”[10]
Dieser Machtzuwachs sei präsent, obwohl der EuGH im Vorabentscheidungsverfahren jeweils nur Empfehlungen zur Vereinbarkeit von Rechtsnormen gibt und nicht über konkrete Fälle entscheidet.[11] Trotzdem seien diese Aussagen über Vereinbarkeit der Normen eine wichtige Schablone für die nationalen Gerichte. An dieser Stelle wird deutlich was BURLEY/MATTLI mit einem verschleierten politischen Akteur meinen: Der EuGH gebe vor, nur Empfehlungen auszusprechen, weiß aber um seinen Einfluss auf die nationale Rechtssprechung. Inwieweit der Gerichtshof in der neofunktionalistischen Perspektive seine politischen Absichten verschleiert, um seine Rechtssprechung durchzusetzen, wollen BURLEY/MATTLI am Prozess der Integration durch Recht klarstellen.
Zusammenfassend kann man jedoch sagen, dass in der neofunktionalistischen Perspektive die Akteure im Gemeinschaftsrecht durch eigene Interessen getrieben werden. Das eigennützige Handeln der Akteure treibe dabei den Prozess der Integration nach dem Sperrklinkenprinzip an: Da Gemeinschaftsrecht zur Umsetzung eigener Interessen genutzt werde, erfahre es auch eine stärkere Annerkennung und Implementierung in den Rechtsordnungen der EU.
2.2 Der Prozess:
Wie auch HAAS bauen BURLEY und MATTLI ihr Gedankenkonstrukt auf eine Differenzierung des „spill-over“- Effekts auf.[12] Der Funktionale- „spill-over“- Effekt stellt in diesem Falle die „Logik des Rechts“ dar, vorausgesetzt es gibt ein vereinbartes Ziel. Die „Logik des Rechts“ - in diesem Fall wohl die Rechtsfortbildung bzw. Kohäsion nationalen Rechts – wird sich solange fortsetzten bis andere ebenso mächtige Interessen diese Kumulation stoppen. Dies sei zunächst der Rahmen in dem sich Recht rein funktional ausbreiten kann. BURLEY und MATTLI weisen darauf hin, dass dieser Prozess bei der Konstruktion des europäischen Gemeinschaftsrechts äußerst stark gewesen und der Rahmen funktioneller Entwicklung weit gefasst sei. Die Methode zur Erweiterung sei dabei die pro- gemeinschaftliche Interpretationsmethode des EuGH gewesen und hätte schließlich zu Vorrangthese und direkter Anwendbarkeit geführt.
Die zweite Stufe des Prozesses, der so genannte „political spill- over“, beinhaltet die Akzeptanz des funktional Hervorgebrachten und damit die Verschiebung von Werten, Erwartungen und Loyalitäten. Die Staaten haben nach neofunktionalistischer Auffassung die juristischen Innovationen in Kauf genommen. BURLEY und MATTLI erklären diese billigende Akzeptanz in der Besonderheit des Rechts: „ The minute a rule is established as “law,“ individuals are entitled to rely on the assumption that social, economic, or political beahvior will be conducted in accordance with that rule“ [13] . Es wird dabei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Verschiebung von Erwartungen auch für die Staaten gilt und diese das “neue” Recht als gegeben betrachten, auch wenn es ihren Interessen widerspricht.
Nach dem Lernprozess im „political- spill- over“ kommt es nach neofunktionalistischer Bewertung zu einer kooperativen Neubewertung des Erreichten, dem so genannten „upgrading of common interests“. Anders als bei HAAS wurde kein ausgleichendes unabhängiges Organ als Schiedsrichter bei der Formulierung der gemeinsamen Interessen gebraucht. Die Ziele seien bereits formuliert gewesen – gemeint ist der gemeinsame Markt - jedoch von partikularen Interessen kurzer Reichweite überschattet. Der EuGH tat also nichts weiter als sich auf die nachhaltigen Vertragsziele zu berufen. Durch die Berufung auf diese Ziele konnte der EuGH seine konstitutionalisierende Rechtssprechung ableiten, da bei allen Meinungsverschiedenheiten der Staaten im Einzelnen die Marschrichtung grundsätzlich vorgegeben sei.
[...]
[1] STURM, Roland/PEHLE, Heinrich (2005). Das neue deutsche Regierungssystem. Die Europäisierung von Institutionen, Entscheidungsprozessen und Politikfeldern in der Bundesrepublik Deutschland, S. 12. UTB, Wiesbaden
[2] Art. 5 EGV.
[3] Art. 308 EGV.
[4] STONE SWEET, Alec (2000). Governing with Judges, Oxford. S. 6.
[5] ALTER, Karen J. (1998). Who are the „Masters of the Treaty“?: European Governments and the European Court of Justice, in: International Organization 52, 1.
[6] BURLEY, Anne-Marie/MATTLI, Walter (1993). Europe before the court: A political Theory of Legal Integration, in: International Organization 47, 41-76.
[7] An dieser Stelle ist die Vorrangthese, die Direktwirkung und das Vorabentscheidungsverfahren gemeint, auf das später noch eingegangen werden soll.
[8] BURLEY, Anne-Marie/MATTLI, Walter (1993). Europe before the court: A political Theory of Legal Integration, in : International Organization 47, S. 60.
[9] Ebd.
[10] BURLEY, Anne-Marie/MATTLI, Walter (1993). Europe before the court: A political Theory of Legal Integration, in: International Organization 47, S. 64.
[11] Art. 234 EGV.
[12] Für die ursprüngliche Differenzierung nach Haas vgl: BURLEY, Anne-Marie/MATTLI, Walter (1993). Europe before the court: A political Theory of Legal Integration, in: International Organization 47, S. 55 f. oder
WOLF, Dieter (2005). Neo-Funktionalismus; in: Theorien der europäischen Integration, S.71 ff.
[13] BURLEY, Anne-Marie/MATTLI, Walter (1993). Europe before the court: A political Theory of Legal Integration, in: International Organization 47, S. 67.
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