'Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken'


Seminararbeit, 2006

19 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Grundlagen der mittelalterlichen Medizin

3. Medizinische Versorgung in den Klöstern
3.1 Theologische Rechtfertigung der Sorge um Kranke
3.2 Medizinische Gebäude eines mittelalterlichen Klosters
3.3 Mönchsarzt und Klostergarten
3.4 Das Ende der Klostermedizin

4. Lepra – Der Umgang mit der Krankheit im Mittelalter
4.1 Das Krankheitsbild des Aussatzes (Lepra) und die Wahrnehmung durch die Zeitgenossen
4.2 Die Lepraschau – Beginn der Ausgrenzung
4.3 Die Leprosorien und Nürnberger Siechenkobel

5. Zusammenfassung

6. Quellen und Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die Menschen des Mittelalters bedurften, genau wie neuzeitliche Menschen, einer gewissen medizinischen Gesundheitspflege und Fürsorge, zumal es wesentlich mehr Risikofaktoren gab zu erkranken und das Kranksein an sich eine existenzielle Bedrohung darstellte. Zudem standen für die meisten Krankheiten nur unzureichende Medikamente und Behandlungsmethoden zur Verfügung. Nicht nur die Unfälle des Alltags und leichtere Krankheiten mussten mit diesen Mitteln der einfachen Medizin bewältigt werden, sondern vor allem auch große Epidemien wie die Pestwellen zur Mitte des 14. Jahrhunderts oder die Lepra, die sich über eine sehr lange Zeit endemisch hielt und periodisch immer wieder zu einer Epidemie aufflammte. In dieser Arbeit sollen zunächst kurz die antiken und arabischsprachigen Grundlagen der mittelalterlichen Medizin dargestellt werden, und zwar anhand der Vier-Säfte-Theorie, die Hippokrates zugesprochen wird, sowie der Einbettung der Krankheit in das christliche System. Auf die Funktion der Magie im Mittelalter kann in dieser Arbeit nicht eingegangen werden. Im nächsten Schritt wird die medizinische Bedeutung der frühen Klöster gezeigt. Schon die Regel des Hl. Benedikt zeigt die medizinischen Aufgaben eines Klosters. Das Idealbild des Klosterplanes von St. Gallen stellt die verschiedenen medizinischen Einrichtungen eines Klosters sowie das Wirken von Klosterärzten dar, und weiterhin wird auf die spezielle Bedeutung der Klostergärten eingegangen.

Im zweiten Teil der Arbeit geht es um das Umfeld der Krankheit des Lazarus, den Aussatz, der im Mittelalter verallgemeinernd Lepra genannt wurde. Es sollen die mittelalterliche Wahrnehmung, die Behandlung und die Aufnahme von Leprakranken in die Leprosorien gezeigt werden, mit einer kurzen Erwähnung der Praxis der Nürnberger Siechenkobel.

2. Die Grundlagen der mittelalterlichen Medizin

Eine ihrer wichtigsten Grundlagen übernahm die Medizin des Mittelalters aus den Lehren des Hippokrates von Kos, der in einer langen Tradition griechischer Ärzte stand: die so genannte Säftelehre.[1] Im ‚Corpus Hippocraticum’, dessen Autorenschaft sich nicht eindeutig Hippokrates zuweisen lässt, findet sich der Traktat ‚Über die Natur des Menschen’. Gemäß den vier Jahreszeiten kämen demnach auch im menschlichen Körper vier ‚Säfte’ vor: „das Phlegma, kalt und feucht, herrscht im Winter vor; das Blut, heiß und feucht im Frühling; die gelbe Galle, heiß und trocken, im Sommer; und die schwarze Galle, kalt und trocken, im Herbst“[2]. Welche Flüssigkeit im menschlichen Körper der „schwarzen Galle“ zugeordnet wurde, ist nicht eindeutig klar. Solange diese Säfte des Körpers in einem natürlichen Gleichgewicht stehen, lebt der Mensch im Einklang mit der Natur und mit Gott und wurde daher nicht krank. Eine Krankheit tritt nach Hippokrates dann im Körper auf, „wenn sich einer dieser Säfte absondert und zu fließen beginnt“[3], also die Harmonie der Flüssigkeiten gestört ist. Eine solche „schlechte Mischung der Körpersäfte (dyskrasie)“[4], muss durch einen „Ausgleich der Säfte (eukrasie oder synkrasie)“[5] mittels medizinischer Verfahren oder natürlicher Selbstheilungskräfte wieder hergestellt werden. Tritt eine Ungleichheit auf, wird nach der Lehre ein doppelter Schmerz verursacht, nämlich dort, wo der Fluss beginnt, und dort, wo er hin fließt. Dies ist auch gut verständlich, schließlich schmerzt beispielsweise eine Wunde genau an der Stelle, an der das Blut austritt.

Diese antiken Theorien wurden im 2. Jahrhundert nach Christus von dem in Kleinasien geborenen Arzt Galen kanonisiert und weiterentwickelt. „Mit ihm kommt das Wissen der Antike zur Vollendung, denn Galen hat alles gelesen, nahezu alles verstanden, gesichtet, seiner Kritik unterworfen, neu geordnet“[6]. Er setzte nicht nur die vier wichtigsten Organe des Menschen, die Jahreszeiten und die Säfte eines Menschen untereinander in Verbindung, er ordnete auch gemäß des übermäßigen Auftretens eines Saftes dem jeweiligen Patienten einen bestimmten Charakter zu[7], was die jeweilige Behandlung beeinflusste. So wurde beispielsweise auch nach mittelalterlicher Auffassung die Lepra durch ein „Übermaß an schwarzer Galle verursacht […] und dem Erkrankten entsprechend Übellaunigkeit und Hinterhältigkeit nachgesagt“[8], weshalb der Melancholiker mehr als andere gefährdet war, an der Lepra zu erkranken. Für die ‚rechte Mischung der Säfte im Bauch’ führt der Autor des ‚Lorscher Arzneibuches’, Bischof Rîchbodo von Lorsch, auch einen entsprechenden Vorschlag auf:

[…] in einem gut gefüllten Becher, auch bei Fieber.

Desgleichen: Man bestreicht den Nabel mit gesalzenen Laxierfischlein und Stiergalle.

Desgleichen: Man trinkt Ziegenmilch mit Salz und Honig.

Desgleichen: Eigens gekochter Kopflauch wird mit Essig eingenommen.

Desgleichen: Man ißt nüchtern Zwetschgen.

Desgleichen: Man legt Schwalbendreck mit Honig auf.

Desgleichen: Man kocht Wegerich und trinkt das mit Honig vermischte Wasser.[9]

Galen greift auch die schon von Hippokrates begründete ‚Diätik’ auf. Als wichtigstes therapeutisches Mittel stand sie den Ärzten zur Verfügung. „Ihr Prinzip ist das ausgewogene Gleichmaß, etwa im Schlafen und Wachen, im Arbeiten und Ruhen, im Essen und Trinken, im Liebesleben und in der Enthaltsamkeit, in der intellektuellen Beanspruchung und in der Muße etc.“[10]. Da auch die Diätik das Prinzip der Ausgewogenheit widerspiegelt, fügt sie sich gut in das System der Ausgewogenheit der Säfte ein. Das maßvolle Einhalten dieser Konzepte oder ihr Wiederherstellen durch den Arzt sind unabdingbar für die Erhaltung der Gesundheit oder die Behandlung des Patienten. Die Institutionen, in denen antikes Wissen gesichtet, abgeschrieben und dadurch gesichert wurde, waren die Klöster. Die griechischen Texte antiker Autoren „fanden ihren Weg in die frühmittelalterliche Gesundheitspflege sowie die Heil- und Arzneimittelkunde über die Skriptorien der Klöster“[11], wie zum Beispiel das Kloster Monte Cassino in Italien. „Von Anfang an hatten die christlichen Klostergemeinschaften auch für die Gesundheit ihrer Mitglieder […] zu sorgen“[12]. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Benediktinerregeln dem Kloster eine Verantwortung für die Kranken in seinem Einzugsbereich auferlegten, genauso wie die Formen der christlichen Nächstenliebe. Einen weltlichen Neuanfang im 11. Jahrhundert machte die Schule von Salerno, die sich besondere Verdienste bei der Übersetzung arabischsprachiger Texte erwarb. Während des 12. Jahrhunderts „wurde in Salerno eine Vielzahl arabischer Medizintexte ins Lateinische übersetzt“[13]. Dies ist nicht zuletzt eine geographische Folge der Berührungszone mit dem islamischen Kulturkreis.

Neben dem Rückgriff auf antike Theorien stellt die Theologie des Mittelalters Gesundheit und Krankheit in den Zusammenhang mit christlicher Lebensführung. „Wie alles im [mittelalterlichen] Leben, so war auch die Erfahrung von Krankheit eingebunden in eine christliche Weltordnung“[14]. Krankheit machte deutlich, dass sich der Mensch auf dem Weg zum Heil befindet. „[Sie] rief immer wieder die Gebrechlichkeit menschlicher Existenz ins Gedächtnis und forderte zum Überdenken der Lebensweise (regula vitae) auf“[15]. Krankheiten wurden als von Gott gesandt angesehen, wurden aber nicht nur als Strafe für ein sündhaftes Leben empfunden. Daher sind verschiedene Deutungszusammenhänge der Krankheit denkbar: „sie erhöhte die Verdienste der Gerechten, bewahrte die Tugend vor Hochmut, zeigte den Beginn einer ewigen Strafe schon auf Erden oder verkündete den göttlichen Ruhm durch Wunder“[16]. Daher stand bei der Behandlung einer Krankheit nicht nur die Wiederherstellung der körperlichen Gesundheit im Vordergrund, sondern auch die der Seele.

3. Medizinische Versorgung in den Klöstern

3.1 Theologische Rechtfertigung der Sorge um Kranke

Die Klöster hatten nicht nur eine wichtige Aufgabe in der Übersetzung und Bewahrung von medizinischem Wissen. Die von Benedikt von Nursia verfassten Regeln, „die spätestens ab dem 8. Jahrhundert für alle westlichen Klöster galten“, regeln detailliert an zentraler Stelle im Kapitel 36 „Die Kranken Brüder“[17] den Umgang mit Kranken: „Die Sorge für die Kranken muss vor und über allem stehen: man soll ihnen so dienen, als wären sie wirklich Christus; hat er doch gesagt: ‚Ich war krank, und ihr habt mich besucht’, und: ‚Was ihr einem dieser Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan’“[18]. Diese Stelle geht auf das 25. Kapitel des Matthäusevangeliums zurück, wonach der Menschensohn als Richter die Gerechten in das Reich des Vaters aufnimmt: „Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben […]; ich war krank, und ihr habt mich besucht […]. Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“[19]. Damit ist klar, dass es nicht nur zu den Aufgaben eines Mönches, sondern zu denen eines jeden Christen gehört, einem Bedürftigen zu helfen, weil sich hinter jedem Armen und Kranken Christus selbst verbirgt, und sich der helfende Christ dadurch den Weg in das Himmelreich erleichtert. „Das Erbarmen gilt in jedem Fall für alle Christen als Weg der Vervollkommnung schlechthin“[20]. Diese ‚imitatio christi’ ist eine der wichtigsten Pflichten des christlichen Menschen. Selbst die Kranken Brüder, die im Widerspruch zur Benediktusregel die Gutmütigkeit ihrer Gesunden Brüder ausnutzen, „müssen in Geduld ertragen werden; denn durch sie erlangt man größeren Lohn“[21]. Zweimal wird in der Regel betont, dass es die Hauptaufgabe des Abtes sei, dafür Sorge zu tragen, dass die kranken Brüder nicht vernachlässigt würden. Diese Sorge ist mindestens genauso wichtig, wenn nicht wichtiger, wie der tägliche Gottesdienst. Die Kranken dürfen sogar, solange es ihnen schlecht geht, Fleisch essen und „sooft es ihnen gut tut, ein Bad [nehmen]“[22]. Es wird ihnen für die Pflege ein eigener Bruder abgestellt, der sich in einem speziellen Haus um die Kranken kümmert: „Die kranken Brüder sollen einen eigenen Raum haben und einen eigenen Pfleger, der Gott fürchtet und ihnen sorgfältig und eifrig dient“[23]. Dass die medizinischen Verfahren und Medikamente auch im Einklang mit der christlichen Lehre und der Bibel stehen, versucht der Autor des ‚Lorscher Arzneibuches’ im Kapitel ‚Rechtfertigung der Heilkunde’ zu beweisen: „Ist doch die menschliche Heilkunst durchaus nicht zu verschmähen, da feststeht, daß sie den göttlichen Büchern nicht unbekannt ist. Das bisher Gesagte werde also mit der Gunst des Herrn nunmehr fortgesetzt“[24]. In dem folgenden Text bringt der Autor dann immer wieder Beispiele für die Nennung von Arzneien und medizinischen Behandlungsmethoden in der Bibel: „Durch Jesaja wird nämlich gesagt: ‚Die schwellende Beule ist nicht umwickelt, nicht mit Heilsalbe behandelt und nicht mit Öl gelindert’ (Jes 1,6). Und im Buch Exodus wird vorgeschrieben, daß, wenn jemand einen anderen verwundet hat, er ihm seine Mühen und die Auslagen für Ärzte erstatten soll (Ex 21,19)“[25].

[...]


[1] Vgl. für dieses Kapitel: Kay Peter Jankrift, Krankheit und Heilkunde im Mittelalter, Darmstadt 2003, S. 7-20.

[2] Jacques Jouanna, Die Entstehung der Heilkunst im Westen, In: Mirko D. Grmek (Hrsg.), Die Geschichte des medizinischen Denkens, Antike und Mittelalter, München 1996, S. 49f.

[3] Jouanna, Die Entstehung der Heilkunst im Westen, S. 68.

[4] Wolfgang U. Eckart, Geschichte der Medizin, Heidelberg 2000, S. 56.

[5] Eckart, Geschichte der Medizin, S. 56.

[6] Danielle Gourevitch, Wege der Erkenntnis: Medizin in der römischen Welt, In: Mirko D. Grmek (Hrsg.), Die Geschichte des medizinischen Denkens, Antike und Mittelalter, München 1996, S. 147.

[7] Beim Sanguiniker (lat. sanguis) überwiegt das Blut, beim Phlegmatiker (griech. phlégma) der Schleim, beim Choleriker (griech. cholè) die Galle.

[8] Jankrift, Krankheit und Heilkunde im Mittelalter, S. 8.

[9] Ulrich Stoll, Das ‚Lorscher Arzneibuch’, Ein medizinisches Kompendium des 8. Jahrhunderts (Codex Bambergensis medicinalis 1), Text – Übersetzung und Fachglossar (= Sudhoffs Archiv, Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte, Heft 28), Stuttgart 1992, Zweites Buch Nr. 89, S. 165.

[10] Eckart, Geschichte der Medizin, S. 58.

[11] Jankrift, Krankheit und Heilkunde im Mittelalter, S. 11.

[12] Eckart, Geschichte der Medizin, S. 104.

[13] Eckart, Geschichte der Medizin, S. 107.

[14] Ingeborg Seltmann, „Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen“, Leben, Krankheit und Tod im Mittelalter, In: Praxis Geschichte, Heft 2, 13. Jahrgang 2000, S. 26.

[15] Christina Vanja, Krankheit, In: Peter Dinzelbacher (Hrsg.), Europäische Mentalitätsgeschichte, Hauptthemen in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1993, S. 195.

[16] Vanja, Krankheit, S. 196.

[17] Regelkommission der Salzburger Äbtekonferenz, Die Benediktusregel, Kapitel 36, http://www.benediktiner.de/regula/RB_deutsch02.htm#Kap_36, aufgerufen am 06. August 2006.

[18] Benediktusregel, Kapitel 36, Satz 1-3.

[19] Mt. 25,35 – 40.

[20] Jole Agrimi und Chiara Crisciani, Wohltätigkeit und Beistand in der mittelalterlichen christlichen Kultur, In: Mirko D. Grmek (Hrsg.), Die Geschichte des medizinischen Denkens, Antike und Mittelalter, München 1996, S. 183.

[21] Benediktusregel, Kapitel 36, Satz 5.

[22] Benediktusregel, Kapitel 36, Satz 8.

[23] Benediktusregel, Kapitel 36, Satz 7.

[24] Stoll, ‚Das Lorscher Arzneibuch’, S. 49.

[25] Stoll, ‚Das Lorscher Arzneibuch’, S. 51.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
'Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken'
Hochschule
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
19
Katalognummer
V65689
ISBN (eBook)
9783638587617
ISBN (Buch)
9783656779346
Dateigröße
513 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Nicht, Gesunden, Arzt, Kranken
Arbeit zitieren
David Hohm (Autor:in), 2006, 'Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/65689

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