Tanzpädagogik: Tanz als Erfahrungs-, Lern- und Gestaltungsraum


Examination Thesis, 2006

132 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung 1

2 Geschichte des Tanzes 7
2.1 Naturvölker 9
2.2 Kulturvölker des Mittelmeerraums 10
2.3 Frühchristliche Zeit 12
2.4 Mittelalter 12
2.5 Renaissance 14
2.6 Ballett 15
2.7 Moderne Tanz 17
2.8 Jazzdance 19

3 Das Wesen der Tanzpädagogik 21
3.1 Körperlichkeit und Emotionalität in Erziehung und Bildung 22
3.2 Ziele und Bildungsinhalte der Tanzpädagogik 24
3.2.1 Sachorientierter Bereich 24
3.2.2 Subjektiv-emotionaler Bereich 25
3.2.3 Sozialer Bereich 26
3.2.4 Kognitiver Bereich 27
3.3 Methodik und Vermittlungsformen der Tanzpädagogik 29

4 Das Wesen der Erlebnispädagogik 32
4.1 Theoriegeschichtliche Rekonstruktion 35
4.1.1 Historische Entstehungsgrundlagen 35
4.1.2 Kurt Hahn´s Schulbewegung 38
4.2 Erlebnisarmut in einer Erlebnisgesellschaft 41
4.3 Erziehung und Erleben 43
4.4 Ziele, Vermittlung und Grenzen der Erlebnispädagogik 46

5 Heutige Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen 48
5.1 Familiäre Bedingungen 49
5.2 Gesellschaftliche Bedingungen 50
5.3 Freizeitverhalten 51
5.4 Rolle der Medien 54

6 Ganzheitliche Betrachtungen des Tanzens in der pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen 56

7 Tanz als sinnlicher Erfahrungsraum 61
7.1 Wahrnehmung 62
7.2 Das Bewegungsselbstkonzept 64
7.2.1 Kinästhesie – Grundlage des Bewegungsgefühls 65
7.2.2 Die Bewegungselemente im Tanz 67
7.3 Sinnliche Bewegungserfahrungen – praxisorientierte Erlebnisse 69

8 Tanz als kognitiver Lernraum 79
8.1 Orientierung im Raum 82
8.2 Rhythmus und Perkussion 85
8.3 Ausdruck im Tanzen 87
8.4 Durch Bewegung lernen – praxisorientierte Erlebnisse 92

9 Tanz als kreativer Gestaltungsraum 98
9.1 Improvisation 103
9.1.1 Themenkreis „Körper“ und „äußere Welt“ 107
9.1.2 Themenkreis „Innere Welt“ 108
9.2 Kontaktimprovisation 109
9.3 Bewegungen gestalten – praxisorientierte Erlebnisse 111

10 Weltgestaltung und –aneignung im tänzerisch gestaltenden Handeln von Heranwachsenden - ein Überblick 118

Literatur 124

1 Einleitung

Der Tanz gehört zum Leben der Menschen. Er ist neben der Musik eine der ursprünglichsten künstlerischen Lebensäußerungen. Wenn Menschen den Begriff Tanz hören, erreichen sie Bilder, die vom Kinderreigen zum Senioretanz, von der Spitzentänzerin zum barfüßigen Afro-Tänzer, vom Gesellschaftstanz bis zum Technotanz der Loveparade reichen. Die jeweiligen Assoziationen entstehen dabei immer in Abhängigkeit von den individuellen und sozio-kulturellen Kontakten mit Tanz. Meist sind sie auch mit einer emotionalen Gestimmtheit dem Tanzen gegenüber verbunden.

Tanzen ist für die viele mit Fun verbunden. Gemeint ist aber nicht der oberflächliche Spaß, sondern das ganzheitliche nachhaltige Vergnügen; die von innen, aus dem Herzen kommende Freude als Ergebnis des persönlichen Einsatzes, der tänzerischen Leistung, die motivierend wirkt. Ein solches Vergnügen beruht auf sozialer Sensibilität und ist aus der Stille geboren, aus dem inneren Lauschen und Erleben. Das verschmitzte Lächeln ist für diese Form des Vergnügens bezeichnender als das lärmende Lachen. Das achtsame Hören und Schnipsen mit den Fingern ist unverkennbarer als das laute Grölen Klatschen. Und das vorsichtige Ausprobieren und Improvisieren ist wichtiger als das Stampfen und ausartende „Zur-Schau-stellen“ in jeder Großraumdisco. Das größte Vergnügen bereitet der freudbetonte, begeisterte persönliche Einsatz, das tiefe Versinken in das Tanzen, das Eintauchen in die Spielformen und Gruppenerlebnisse, das Einswerden mit dem, was man tut, die selbstvergessene Hingabe an den Tanz und seine Faszination. Für dieses Erleben ist ein Optimum an Erfahrung in der Begegnung zu sich und der Welt nötig. Es gibt unterschiedliche Qualitäten der Erfahrung. Mit diesem Aspekt befassen sich u.a. die Arbeiten von Csikszentmihalyi (1990 / 1995). Er hat den Begriff des „flow“ geprägt, einem inneren Zustand, in dem sich ein Indiviuduum befindet, wenn es die Erfahrung machen, dass es ganz in seiner aktuellen Tätigkeit aufgeht (Moch 1995:37). Dieses Glücksgefühl, dieser „Fun by Flow“ unterscheidet sich grundsätzlich vom groben Spaß als Zeitvertreib, der das kostbarste Gut, dass wir haben, die Zeit, vertreibt, ja sogar in unserer heutigen Zeit totschlägt, statt sie sinnvoll zu gestalten.

Tanz ist eine menschlich-gesellschaftliche Tätigkeit, in der Gefühle, Gedanken, Sehnsüchte, Ideen, Willenshandlungen und Erlebnisse durch Körperbewegungen und Gebärden zum Ausdruck gebracht werden. Die Bezeichnung „Tanz“ selbst ist die Abstraktion eines konkret ausschließlich in verschiedenen Spielarten aufzufindenden Phänomens mit unterschiedlichen individuellen und sozio-kulturellen Sinngebungen (KRAMER 1990:9). Eine allgemeingültige Definition für Tanz erscheint aber angesichts der vielfältigen kulturellen und historischen Erscheinungsformen nahezu unmöglich. Dennoch wurde und wird versucht, diese Vielfalt auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Die Ergebnisse dieser Bemühungen sagen aus, dass Tanz allgemein eine geordnete Bewegung des menschlichen Körpers in Raum und Zeit zu begreifen ist. Anstelle einer einheitlichen Definition soll im folgenden einige (z.T. hypothetische) Aussagen formuliert werden, die als Konstanten eines allgemeingültigen Tanzbegriffes fungieren können.

Den Tanz reiht Junk in die Reihe der momentanen Künste ein, „die in der Zeit sich darstellend manifestieren […], denn er ist im Augenblick des Entstehens auch schon wieder vergangen“ (1990:21, vgl. Zacharias 1991:53). Ein einmal getanzter Tanz ist in exakt derselben Form nicht mehr reproduzierbar. Mit der Festsschreibung von Tanzschriften (vgl. Kapitel 2) versucht man, die Augenblicksverhaftetheit des Tanzes entgegenzuarbeiten. Auch die von Rudolf von Laban zu Beginn des 20. Jahrhunderts erarbeitete Tanz- und Bewegungsschrift (Labannotation), die heute international Verwendung findet, mildert den genannten Tatbestand nur, vermag aber des Problem nicht endgültig zu beheben.

Mary Wigman , eine Schülerin Rudolph von Labans, betitelt eines ihrer Bücher „Die Sprach des Tanzes“ (1963) und bedient sich mit dem Titel der Metapher von Tanz als körpersprachlichem Phänomen. Den ganzen Reichtum der tänzerischen Sprache sieht sie in der körperlichen Bewegungsfähigkeit enthalten (Wigman 1963:10). Auch Fritsch verdeutlicht das spezifische der tänzerischen Veräußerung in einer Formel: „Etwas sagen, was man nicht sagen kann“ (1988:11).

„Vom Tanz soll man eigentlich nicht sprechen, sondern ihn für sich selbst sprechen lassen“ (Otto 1956:9). Wie viele andere deutet auch Otto hier an, dass sich das Wesen des Tanzes einer sprachlichen Fassung nur unzureichend erschließt. Tanzen erscheint nur durch tanzen erfassbar. Die Sprache ist jedoch ein Mittel, das Wissen und die Erfahrungen aus bestimmten Tanzräumen den nicht direkt an diesen Teilhabenden mitzuteilen.

Kosellek und Kosellek verstehen unter Tanz „einen räumlich und zeitlich beschreibbaren ganz- oder teilkörperlichen Handlungsvollzug, welcher innere Bewegtheiten zu Ausdrucksformen gestaltet und durch Musik, Gesang und musikalischen Rhythmen zu einer Rhythmisierung sich wiederholender Bewegung führt […]“ (1993:22). Außerdem zeichnet sich Tanz als komplexer Ausdruck physischer und psychischer Vorgänge durch stimulierende Wirkungen aus. Durch Tanz entwickeln sich die körperlichen Fähigkeiten weiter und nehmen koordinierte Gestalt an (ebd. S. 24)

Bei Tietjens ist nachzulesen, dass sich das Handeln im Tanz aus einem Wechselverhältnis sinnlicher Wahrnehmung, Erfahren, Begreifen und kritischem Reflektieren eigenerer Erfahrungen entwickelt. Das Tanzen „fördert und sensibilisiert durch eine Differenzierung das Bewegungs- Seh-, Hör- und Tastsinns nicht nur die Wahrnehmungsfähigkeit […] sondern gibt der Kreativität […] einen besonderen Raum“ (2006:225).

Tanz ist eine pädagogisch betrachtet rhythmisch geformte Bewegung. Er gilt als Ausdrucksmittel, dass dem menschlichen Bedürfnis bzw. Trieb nach Darstellung und Kommunikation entspricht. Die Quellen tänzerischen Erlebens und gestaltenden Ausdrucks sind also bereits in der Leiblichkeit des Menschen verborgen (Bergmann 2006:53). Ein sinnvoller Rückgriff auf Tanz als pädagogischer Mittler setzt voraus, dass eine umfassende Vorstellung von dem mit Tanz Gemeinten besteht oder dem Interessierten verständlich gemacht wird. Wir brauchen eine neue Vermittlungskultur und –pädagogik der Sinnlichkeit. Hierfür mag das Tanzen als uralte Muttersprache zwischen den Menschen und als unmittelbarer Ausdruck der Sinnlichkeit als Modell dienen. Es geht um eine Erneuerung des elementaren, spontanen, sinnlichen Tanzens, um eine Alltagskultur des Tanzens, die vom Artifiziellen zum Elementaren, von der künstlerisch-ästhetischen Ebene zur menschlichen Erfahrungs- und Erlebnisebene führt.

Ziel folgender Ausführungen ist es daher, Tanz als Lehr- und Lerngehalt in seinen Möglichkeiten und Grenzen für Erziehung und Bildung abzustecken und eine begrenzte thematische Auseinandersetzung mit den erlebnispädagogischen Möglichkeiten im Tanzen mit Kindern und Jugendlichen vorzulegen. Mit Hilfe des theoretischen Anschlusses aus den ersten Kapiteln und ausgesuchten, grundlegenden Bildungsinhalten der Tanzpädagogik sollen praxisorientierte Beispiele folgen, die konkret und ergebnissicher aufzeigen, welche hohe praktische Relevanz das Thema in sich birgt und in wie weit Tanzlehrer und Tanzpädagogen bei Heranwachsenden die Funktionen des Tanzens individuell aktualisieren sollten, so dass sie trotzdem fachgerecht und erzieherisch wirken.

Dabei werden in dieser Arbeit die männlichen Bezeichnungen „der Pädagoge“, „der Lehrer“, „der Schüler“ oder „der Tänzer“ nur der sprachlichen Einfachheit halber verwendet. Aus diesem Grunde ist zu betonen, dass es sich bei diesen allgemeinen Personenbezügen um verkürzende Formeln handelt, die stets beide Geschlechter einbeziehen.

Zur Einstimmung wird sich beschreibend im Kapitel 2 anhand der Geschichte des Tanzes dem Phänomen angenähert. Die geschichtliche Darstellung soll bereits bekannte Assoziationen mit konkretem Leben füllen und die Spannweite der verschiedenartigen soziokulturellen und individuellen Bedeutungen des Tanzes in den historischen Epochen herausstellen. Die Entwicklungslinie bis in die Gegenwart zeigt den Weg des Tanzes von einem tradierten Bestandteil einer gemeinschaftlichen Weltsicht hin zu einer subkulturellen Sinngebung von Tanz.

Jedoch läuft eine geschichtlich-phänomenologische Betrachtung des Tanzes höchste Gefahr, seine pädagogischen Möglichkeiten mehr als nur zu vereinseitigen. Daher werden von der Geschichte des Tanzes ausgehend die Zusammenhänge zwischen musischer Bildung, Tanz und Erziehung im Kapitel 3 fortgeschrieben. So steht die Tanzpädagogik vor er Aufgabe, den Menschen „für die“ und „mit der“ Pluralität heutiger Tanzwelten zu erziehen und ihm Bildung zu ermöglichen. Dabei wird Pluralität als „charakteristische Sinnstruktur“ der heutigen gesellschaftlich-kulturellen Wirklichkeit verstanden (Welsch 1987:81, Müller-Speer 1995:258). Es lassen sich nicht alle folgenden Überlegungen in ein einheitliches System ein- und unterordnen. Sie stehen vielmehr gleichwertig nebeneinander, wie beispielsweise die verschiedenen Zielpositionen tanzpädagogischen Handelns oder die unterschiedlichen Bildungsinhalte der elementaren Tanzerziehung. Dabei strebt die elementare Tanzpädagogik nicht allein das Erlernen von „Tanz“ oder Tanzbewegungen an, es wird gleichfalls der Erwerb von Kenntnissen, übertragbaren Fertigkeiten und Haltungen angestrebt.

Diese übergreifenden Ziele stehen in einem engen Zusammenhang zum ganzheitlichen Bildungskonzept der Erlebnispädagogik (Kapitel 4). Sie gilt als gesellschaftskritische Kompensationspädagogik, da sie innere Spannungen und Defizite an Erlebnissen aus ´erster Hand´ ausgleichen möchte. Es geht ihr um emotionale Spannungen, die sich in den ´reizüberfluteten´ Alltags- und Berufsroutinen in der heutigen Gesellschaftsstruktur einstellen, aber nicht automatisch abgebaut werden können. Erlebnispädagogik ist eine der Basisgrundlagen des Hahn´schen Erziehungskonzeptes ab dem Jahre 1920 und den daraus entstandenen Outward Bounds. Bei der heutigen Vermittlung von Erfahrungen, Methoden und Wissen wird der Stellenwert des Erlebnisses umso deutlicher, wenn das vergnügte und praxisnahe Ausprobieren und Gestalten im Tanz mit dem Lernprozess da selbst verbunden wird.

Von diesen Grundlagen ausgehend soll im Kapitel 5 die heutige Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen vorgestellt werden. Unter dem Kontext der strukturellen Veränderungen in der Familie und der Gesellschaft sollen Rahmenbedingungen geschaffen werden, um das Freizeitverhalten der jungen Menschen genauer betrachten und verstehen zu können. Der Begriff der „Kindheit“ ist in der Literatur von vielen Mängeln gekennzeichnet. Kinder bewegen sich zu wenig, Kinder essen ungesund, Kinder sind in der Schule schlechter geworden, Kinder sind häufiger krank als früher, Kinder können nicht mal mehr alle rückwärts laufen oder auf einem Bein stehen. Trotz dieser hypothetischen Kennzeichen eines heutigen Kinderlebens ist erkennbar, dass junge Menschen fähig sind, ein eigenes Bild über sich aufbauen zu können, sei es im Sport, in der Kunst oder in der Musik. Es sind die Einstellungen und Überzeugungen zur eigenen Person, mit denen sie sich z.B. im tanzpädagogischen Lern- und Übungsprozess auseinandersetzen und anhand dieser eine Grundvoraussetzung verantwortlichen Handelns erwerben, die in der Identität fundiert.

Die vorliegende Betrachtung hinsichtlich der heutigen Tanzvermittlung zeigt, dass sich das Erlernen von Tanz in unserer Kultur nicht in der Alltagswelt der Tanzenden, sondern in speziell für den Tanz bereitgestellten „Räumen“ ereignet. Solche gesonderten Erfahrungs-, Lern- und Gestaltungsräume bezeichnen Berger und Luckmann als Enklaven, die eigene von der Alltagswelt zurückgezogene Sinnerfahrungen ermöglichen (1980:28f).

Trautmann Voigt weist jedoch darauf hin, dass bei einer Zuordnung des Tanzes zu einem Idealbereich von Wirklichkeit (z.B. Freizeit) die Gefahr besteht, dass die „Fragmentierung des Menschen, der in bestimmten Bereichen vornehmlich ´Denkarbeit´ […] und in anderen ´Entspannungsarbeit´ leistet, verstärkt wird. Die Enklave Tanz hingegen sei ein Realitätsbereich wie jeder andere auch, der die Auseinandersetzung des ganzen Menschen fordere, in dem ganzheitliches Handeln erlernt werden, „aus dem rezipiert und in dem produziert werden kann, in dem Leistungen vollbracht und durch den Entspannungen erlebt werden kann“ (Trautmann-Voigt 1990:153). Tanzräume eröffnen den Tanzenden, sich auszudrücken, etwas darzustellen und mit anderen und dem eigenen Selbst in Kommunikation zu treten. Es muss daher immer betont werden, dass Enklaven in der heutigen Zeit nicht völlig losgelöst von der Alltagswelt bestehen. Sie wirken aufeinander ein; dies zeigt sich in der bereits erwähnten Pluralität der Tanzangebote. Das Nebeneinander unterschiedlicher Tanzwelten (Kapitel 7-9), die sich in den verschiedenartigen Vermittlungsangeboten für Tanz widerspiegeln, ermöglicht es, Tanz als einen Interessenbereich zu eröffnen und so Entscheidungsprozesse anzustoßen (vgl. Geißler 1983:138). Die angegebenen Kapitel werden dabei als eine praktische tanzpädagogische Handlungstheorie vorgestellt, die mit Vorschlägen für die konkrete Gestaltung von tanzpädagogischen- erlebnisorientierten Lehr-Lernveranstaltungen gefüllt ist. Sie dienen der Anregung für die tanzpädagogische Praxis, der kritischen Hinterfragung und der Einordnung eigener pädagogischer Standpunkte.

Unter Rückbezug auf die Gesamtheit der Überlegungen in dieser Arbeit werden im abschließenden Kapitel die vorgestellten Gedanken unter dem Gesichtspunkt des Identitätsprozesses gebündelt.

2 Geschichte des Tanzes

Der Tanz ist so alt wie die Menschheit selbst. Der primitive Mensch tanzte vor Freude, vor Trauer, vor Wut, dem Regen, der Götter, der Ernte und der Jagd wegen (Liechtenhan 2000:7). Und wenn die Ernte eingebracht und die Beute gefangen war, tanzte er wieder. Die Geschichte des Tanzes wird in der Literatur als ein in seiner Vielfalt einheitlicher Prozess dargestellt, dessen einzelne Etappen miteinander verbunden sind. Die Entwicklung beruht auf Tradierung sich entfaltender Formen und Systeme, die von Generation zu Generation weitergegeben werden.

Im Folgenden soll das Wesen von Tanz in einer historischen Ursprungs- und Differenzierungsanalyse rekonstruiert und die besondere Bedeutung von tänzerischen Erscheinungsformen herausgearbeitet werden. Dabei ist es im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, die Vielzahl und Vielschichtigkeit der Erscheinungsformen des Tanzes detailliert aufzuzeigen. Denn „selbst umfassenden Darstellungen wie Tanzgeschichten oder Tanzlexika gelingt nur ein annähernder Überblick über die Tanzwirklichkeiten und die zugrunde liegenden Theorien“ (Müller-Speer 1995:16). Auch wenn es Forschungen zum Tanz in den unterschiedlichsten Wissenschaften bereits gegeben hat, z.B. in der Kunst-, Musik-, und Theaterwissenschaft, so hat sich eine eigene Tanzwissenschaft, wie sie Junk bereits vor 70 Jahren fordert, bisher in Deutschland nicht etablieren können (Junk:1990:1). Auch Sachs veröffentlicht 1933 „Eine Weltgeschichte des Tanzes“, der in der Literatur viel Beachtung zukommt. Er versucht, die Vielfalt der Tänze nach Bewegungen, Formen und ihrer Musikbegleitung zu systematisieren, wie z.B. bildhafte und bildfreie Tänze oder körperunbewusste und körperbewusste Tänze (Sachs 1984:39). Erklärt wird die Vielfalt der Erscheinungsformen durch eine solche Systematik jedoch nicht.

„So sagen deren Ergebnisse doch nur, dass der Mensch auf der ganzen Erde die verschiedenen Teile seines Körpers […] zum Tanz verwendet und so auf verschiedene Weise zu ´tanzen´ versucht. Das wesentliche Moment der ursprünglichen Verschiedenheit wird dabei gar nicht berührt. Dabei kommt es gerade auf die Eigenart dieser Tänze in erster Linie an“ (Junk 1990:9).

Dennoch soll versucht werden, eine kleine Auswahl der Verschiedenheiten herauszuarbeiten, die sich an der geschichtlichen Dimension des Phänomens Tanz orientiert, auch um dessen Eigenwert als Bildungsinhalt hervorzuheben.

2.1 Naturvölker

Der Tanz als ausgeprägte gesellschaftliche Erscheinung hat seinen Ursprung in den Anfängen der Menschheitsentwicklung, wobei die Natur den Ausgangspunkt bildet. Die spezifische menschliche Beziehung zur Natur bzw. die kollektive Aneignung der Natur in den Jäger- und Sammlergesellschaften findet vor allem im Arbeitsprozess ihren Ausdruck und erfolgt im Laufe der Zeit über die Vergegenständlichung. Hubert versteht unter diesem Vorgang die Verbesserung und Produktion von Werkzeugen (1993:98). Dieser Prozess kennzeichnet eine wichtige Voraussetzung für die Weitergabe gesellschaftlicher Erfahrungen. Der Mensch malt oder ritzt seine Erlebnisse, seine Wirklichkeitsbilder an Wände oder in Stein. Damit ist der Grundstein für die Selbstverwirklichung des Menschen als Gestaltung seines Lebens gelegt.

Die frühesten Dokumente solcher Reflexionen sind die im 19. Jahrhundert entdeckten Felsmalereien und Gravierungen u.a. in Frankreich und Spanien (Peters 1991:9, vgl. auch Liechtenhan 2000:7, Müller-Speer 1995:37f, Junk 1990:201). Sie zeigen nicht nur Jäger mit Pfeil und Bogen, sondern auch sesshaft gewordene Bauern, deren Jagd sich nur noch auf Kleintiere und Früchte konzentriert. Hubert betont, dass „die Tätigkeit der Menschen […] eine Erweiterung der Kenntnisse von den Dingen in ihren Zusammenhängen [bedingt]“ (1993:104). Durch das Erkennen der Naturkreisläufe und den erforderlichen Anpassungen im Anbau von Pflanzen entwickeln sich die ersten Fruchtbarkeitstänze (Hubert 1993:104f, vgl. Junk 1990:202). Über den Tanz versuchen die Naturvölker bestimmte Natur- und Wachstumsvorgänge zu beeinflussen und zu sichern. Die Formalität eines religiösen Ritus bekommt der Tanz, als gute und böse Geister beginnen, die Existenzverhältnisse zu lenken. „Der Naturmensch tanzt bei jedem Anlass, bei Geburt, Beschneidung, Mädchenweihe, Hochzeit, Krankheit und Tod, bei Häuptlingsfeier, Jagd, Krieg, Sieg, Friedensschluss, Frühling, Ernte und Schweineessen“ (Sachs 1984:38). In diesem Zusammenhang wird in der Literatur auch auf den Kult der Schamanenvölker verwiesen, deren Medizinmann in so genannten „Krampftänzen“ (Junk 1990:107, vgl. Liechtenhan 2000:7) die Jagd, die Ernte, den Kampf oder die Mannbarkeit vorherbestimmt. Die Ekstase wird durch Trommeln und monotonen Sprechgesang hervorgerufen, denn durch „rhythmische[s] Stampfen, Klatschen und Rufen“ (Peters 1991:10) ziehen sich die Muskeln zusammen und erschlaffen. Müller-Speer verweist auf die Systematisierung des tanzmagischen Handelns in Bezug auf Sachs, der die „Krampftänze“ in die Kategorie der „bildfreien“ Tänze einordnet, da der Tanzende körperentbunden und imaginär ein Ziel zu erreichen versucht (1995:31f). Der ekstatische Tanz ist daher ein Mittel zum Zweck, da er keinen ideellen Inhalt in sich trägt. Für Köllinger steht fest, dass nur Tanz als reine Kunst die Eigenschaft besitzt, eine Mitteilung über den Gegenstand an den Zuschauer oder den Tänzer selbst zu sein (1975:170f).

Resümierend ist festzuhalten, dass mit Hilfe des Tanzes die Naturvölker ihre gesellschaftlichen Lebensanforderungen bewältigen, wobei Magie und Religion immer eng miteinander verknüpft sind.

2.2 Kulturvölker des Mittelmeerraums

Mit dem Bevölkerungswachstum und den damit verbundenen Ansprüchen der Menschen auf Land und Lebensmittel kristallisiert sich immer forcierter ein Spannungsverhältnis heraus: Wachsende ökonomische Mittel werden für Raub und Krieg eingesetzt, wodurch sich die Interessenkonflikte zwischen den Menschen nach innen und außen manifestieren. Die Wende komplettiert sich mit der Ausbildung einer veränderten sozialen Ordnung, der Klassengesellschaft (Hubert 1993:108ff). Durch die Herausbildung von Privateigentum und klassenspezifischen Differenzierungen behält auch der Tanz keine Monofunktion mehr. Hubert spricht von Tanzformen, in denen der zentrale Aspekt des Klassenverhältnisses zum Tragen kommt.

„Während die Herrschenden […] Tanz zu einer eigenständigen von Arbeit gelösten, systematisierten Tätigkeit und Kunstform entfalten können, entwickelt sich der Tanz der unterdrückten und fremdbestimmten Menschen weiterhin auf eine eher volkstümliche Art und Weise […]“ (Hubert 1993:114).

Mit dem Ende der Blütezeit höchster Kunst und Lebenskultur 1800 v. Chr. in den Kerngebieten der Hochkulturen zwischen Euphrat und Tigris beginnt sich eine weitere Entwicklung im Tanz zu vollziehen. So wird ab 1550 v. Chr. bei den Ägyptern der Tanz nicht mehr nur zu Ehren der Götter dargebracht, sondern dient auch dem weltlichen Vergnügen (Liechtenhan 2000:9f). In diesem Zusammenhang äußert sich auch Peters, der die Abgrenzung zwischen sakralem und profanem Tanz in den späten modernen abendländischen Kulturen mit der Aufführung von verschiedenen Tanzformen, wie dem Erntetanz, Fruchtbarkeitstanz, Nackttanz, Akrobatischen Tanz, Bauchtanz und Schau- und Unterhaltungstanz, bekräftigt (1991:12). „Tanz wird [so] von einer elementar-notwendigen magischen Handlung zu einer soziokulturellen und individuellen Handlung neben anderen“ (Müller-Speer 1995:36). Mit der Loslösung von den religiösen Inhalten hin zu sinnlich-ästethischen Wirkungen der Bewegungen wird der Grundstein des Gesellschaftstanzes gelegt.

Sowohl Müller-Speer (1995:46) als auch Liechtenhan (2000:11) gehen davon aus, dass bei den Griechen der Tanz eine zentrale Bedeutung erhält. Der Tanz im antiken Griechenland wird von Müller-Speer als Wert charakterisiert, „aus denen der Mensch Erfahrung schöpft“ (1995:46). Er fördert die Entfaltung körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit, dient der Gesunderhaltung und begünstigt die Persönlichkeitsbildung.

„Die vielfach dem Staat überlassene Erziehung der Kinder machte den Tanzunterricht zum Mittelpunkt allen Bemühens um das Ideal, die völlige Harmonie von Körper und Seele zu erreichen. Der Tanz war dazu ausersehen, den Körper harmonisch ausbilden zu helfen und ästhetische Bewegungsabläufe zu erreichen“ (Liechtenhan 2000:11).

Zahlreiche Textquellen bekannter griechischer Dichter und Philosophen, wie Aristoteles und Platon, sowie plastische Gestaltungen und Vasenbilder sind Hauptquellen für die Geschichte des sakralen Tanzes im alten Hellas.

Mit dem Auftreten der ersten Philosophen 600 v. Chr. (Müller-Speer 1995:48) unterliegen die gesellschaftlichen Bereiche immer mehr der Profanisierung. Sakrale Tänze, wie heitere und beschwingende Reigen, tanzt man nur noch zu Ehren von Apollo, wobei die ekstatischen Tänze eine besondere Stellung von Müller-Speer zugewiesen bekommen (1995:52ff). Damit steht der Dionysos-Kult, kennzeichnend durch Rausch-Tänze mit wilden, unkontrollierten Bewegungen, dem apollinischen Element der antiken Kultur gegenüber (vgl. auch Liechtenhan 2000:12).

Unter Apollos Führung singt und tanzt auch Terpsichore, die Muse des Tanzes (Liechtenhan 2000:12, vgl. Müller-Speer 1995:47). Sie und ihre Gefährten, u.a. Polyhymnia und Erato, sind Befürworter der Tanzchöre, deren Reigentänze zu den Gruppentänzen zählen. In den ersten Paartänzen wird der „männliche Part von einem Satyr ausgeführt, einem Tänzer in Maske, also halb Tier, halb Mensch“ (Liechtenhan 2000:12, vgl. Müller-Speer 1995: 53). Er ist es auch, der beim „Sikinnis“, einer namentlich bekannten Tanzart, im Satyrspiel akrobatische Sprung-Tänze ausführt. Müller-Speer kennzeichnet weiterhin den „Kordax“ als den Theatertanz in einer Komödie und die „Emmeleia“ als den Tanz in der Tragödie (1995:51). Ab 620 v. Chr. verbreitet sich ein aus Kreta stammender Tanz unter den Griechen, die „Pyrrhiche“, auch als Waffentanz bezeichnet (Müller-Speer 1995:52, vgl. Zacharias 1991:55, Peters 1991:12).

Auf die heutige Zeit kann das antike griechische Tanzverständnis kaum übertragen werden. „Dies gebe nur ´festgefrorene Augenblicke´, nicht aber das für den griechischen Tanz übliche Zusammenspiel von Mimik und Gebärdensprache wieder“ betont Müller-Speer (1995:63). Die vorhandenen Informationen vermitteln lediglich einen Eindruck der gesellschaftlich-kulturellen Stellung des Tanzes in der Antike.

Das antike Volk der Etrusker beherrscht ab 900 v. Chr. Mittelitalien (Peters 1991:13), ehe sie ca. um 150 v. Chr. von den Römern vertrieben werden. Archäologische Ausgrabungen können teilweise Licht in das Dunkel der etruskischen Frühgeschichte bringen. Bildliche Überlieferungen anhand von Grabgemälden zeugen von einem ausgeprägten Sinn für kunstfertige Tänze. Wie bei den meisten Völkern der Antike ist der Tanz der Etrusker nicht zweckfrei, sondern dient dem täglichen Gebrauch oder dem religiösen Ritus. Die etruskische Kunst weist starke Ähnlichkeiten mit der griechischen Kultur auf, gibt jedoch typisch etruskische Glaubensinhalte wieder. Sie hat auch einen gewissen Einfluss auf spätere Ausprägungen der römischen Tanzweise (vgl. Liechtenhan 2000:13f). Jedoch überträgt sich diese Vorliebe für Kunst und Tanz nicht. Tanz ist den Römern anfangs fremd. Erst um Christi Geburt bekommt der Tanz durch die Pantomime neue Impulse und steht neben dem Waffentanz als vollkommene Kunstfertigkeit bei Festen immer im Vordergrund (Liechtenhan 2000:14f, vgl. Zacharias 1991:55, Peters 1991:13).

2.3 Frühchristliche Zeit

Mit dem Übergang vom Heidentum zum Christentum in Rom beginnt sich auch eine ablehnende Haltung der alten Kirche gegenüber dem Tanz abzuzeichnen. Sie versucht, den Volkstanz zu bekämpfen und ihn in Kirchen, auf Friedhöfen und Prozessionen zu verbieten (Müller-Speer 1995:39). „Wie tief verwurzelt auch im germanischen Raum der Brauch der Kirchentänze war, ersieht man schon an der Fülle der Verbote“ (Junk 1990:120). Besonders nach dem Jahre 400 werden Tanzlehrer vom heiligen Augustinus gewarnt: „Der Tanz ist ein Teufelskreis, in dessen Mitte der Teufel sitzt“ (Liechtenhan 2000:16, vgl. Peters 1991:13). Lediglich der liturgische Tanz, dessen Themen aus biblischen Texten und Gebeten stammt („Mit dem Leib beten“), wird in der Literatur als religiöser Tanzrest des europäischen Christentums aufgeführt, der aber keiner langen Tradition nachkommt (Müller-Speer 1995:40ff). Der Einfluss der Kirche ist zwar mit der Herausbildung des Christentums im Römerreich spürbar geworden, dessen tanzfeindliche Haltung verdichtet sich jedoch erst im frühen Mittelalter, als der Gottesdienst nur auf das Wort gegründet wird und Tanzen buchstäblich als ein „Aus-der-Reihe-tanzen“ gilt. Aber im Volk, das durch grundherrschaftliche und später lehensrechtliche Beziehungen gekennzeichnet ist, wurde weiter getanzt.

2.4 Mittelalter

In der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts vollzieht sich ein umfassender Wandel in allen Lebensbereichen, ausgelöst durch das deutliche Bevölkerungswachstum, der sich auch in der Tanzkultur niederschlägt. Sie erfährt eine Wiederbelebung und Weiterentwicklung insbesondere in der Bauernschaft, für die der Tanz einen „Ausgleich zu den Belastungen und der Monotonie des Arbeitsalltages [schafft und] den Aufbau einer eigenen kulturellen Identität fördern [hilft]“ erläutert Hubert (1993:119). Im Hochmittelalter dominieren daher die Volkstänze, die auf Bauerntänzen basieren, später aber Vorbild vieler höfischer Tänze werden. Weiterhin bilden sich Handwerkerzünfte, die die Volkstänze um neue Arbeitstänze bereichern (Peters 1991:14).

Während Liechtenhan (2000:19) zwischen volkstümlichem Gemeinschaftstanz, bäuerlichem Paartanz und höfischem Paartanz unterscheidet, prägt Müller-Speer die Begriffe der „ländlich-bäuerlichen“, der „städtischen“ und der „ritterlich-höfischen Tanzwelt“ (1995:63).

In den ersteren Zwei werden die Tänze von Generation zu Generation anhand von Liedern und Brauchtümern weitergegeben. Den ausgeprägten Volkscharakter haben u.a. die Geschicklichkeitstänze wie z.B. der Schwerttanz, die Werbetänze wie z.B. der Schuhplattler, die Nationaltänze wie der Flamenco, der bei allen Angehörigen einer Volksgruppe eines Landes bekannt ist, und die Heimattänze wie die Polonaise oder die Polka. Charakterisiert sind sie alle durch die Carole, d.h. dem Reigen, einem Rund- bzw. Kreistanz, bei dem die Tanzenden durch Körperkontakt miteinander verbunden sind (an den Händen festhalten, mit den Armen einhaken) oder dem Kettentanz, bei dem zahlreiche Gruppierungsmöglichkeiten in einer Reihe tanzen. Dadurch entstehen bereits die unterschiedlichsten geometrischen Formationen, wie das Viereck, der Kreis oder auch das Dreieck (vgl. Müller-Speer 1995:64). Aus den Volkstänzen Griechenlands, Italiens und Spaniens entwickelt sich der Hoftanz, aus dem später der Bühnentanz wie z.B. das Menuett oder auch das Ballett entsteht (Liechtenhan 2000:19f).

Die ritterlich-höfische Gesellschaft des 12. Jahrhunderts tanzt unterdes mit vornehmen langsamen Schritten (vgl. auch Hubert 1993:121). Der aus dem Minnetanz bezogene Gesellschaftstanz kultiviert den Paartanz. Gesellschaftstänze sind überwiegend veredelte Volkstänze mit jener Körperhaltung der Fürsten und des Adels (Peters 1991:14).

Ab dem 14. Jahrhunderts kommt eine weitere auffällige Tanzerscheinung auf: die Tanzwut. In so genannten Johannistänzen und Veitstänzen geraten die Tänzer „in eine bis zum völligen Erschöpfungszustand gehende Ekstase“ und ziehen ununterbrochend tanzend von Ort zu Ort, um weitere Menschen zu „infizieren“. Die mittelalterlichen Tanzepidemien werden von Junk mit dem weiten Gebiet der ekstatischen Tänze der Bacchanten, Derwische, Schamanen etc. in Verbindung gebracht (1990:221). Ebenso sind Totentänze durch die Pest und Krisenzeiten im Mittelalter allgegenwärtig (Peters 1991:14, vgl. Liechtenhan 2000:18, Müller-Speer 1995:65;71).

Insgesamt liefert das 15. Jahrhundert der Aristokratie ein großes Bewegungsrepertoire an eigenen Formen als Grundmaterial. Ein Wandlungsprozess ist damit erkennbar: Aus der dynamischen Formgebung hin zu einer statischen des Hofes.

2.5 Renaissance

Die Renaissance hat ihren Ursprung im Italien des 14. Jahrhunderts und erfasst bis ins 16. Jahrhundert mit dem so genannten feierlichen Schreittanz („Basse danse“) ganz Europa. Im „Menuett“ zeigt sich der Zeitgeist des Rokoko - am Ende des 17.Jh. ist es der beliebteste Hoftanz und bedeutendste Gegenstand des Tanzunterrichtes (Müller-Speer 1995:79f).

„Die Renaissance feierte wieder den Leib als schönbewegte Gestalt, sie erlebte die Sinne wieder als Träger ekstatischen Daseins, sie entdeckte daher den Tanz wieder als sichtbar gewordene Macht und Kultur“ (Günther 1991:10).

Die Verbindung von höfischem Gesellschaftstanz mit dem solistischen Kunsttanz steht einer klaren Trennung zwischen Volkstanz und höfischem Tanz gegenüber. Der Tanz verliert damit immer mehr von seiner Natürlichkeit.

Der Beruf des Tanzmeisters etabliert sich zuerst an den italienischen Höfen. „Sie zeigen den Herren, wie Macht symbolisiert, legitimiert und repräsentiert wird“ (Günther 1991:12). Von einem Renaissancefürsten wird nicht nur erwartet, dass er ein tapferer Krieger und gerechter Herrscher sei, sondern u.a. auch ein geschulter Tänzer. Die Fertigkeit des Tanzes sollte ihm Anmut und Würde verleihen. Unter diesem Aspekt erreicht in der Barockzeit das Hofballett unter dem vierzehnjährigen Ludwig XIV., der ein leidenschaftlicher Tänzer war, einen kulturellen Höhepunkt. Der gesamte französische Hof stellt sich 1653 im „Ballet Royal de la nuit“ dar, während Ludwig XIV. in die Rolle der Sonne schlüpft und so den Beinamen „Sonnenkönig“ erhält (vgl. auch Liechtenhan 2000:41, Schneider 2004:80). Mit seiner Gründung der „Académie Royale de la Danse“ im Jahr 1661 in Paris und der damit verbundenen Entstehung des Beruftänzers, kristallisiert sich eine weitere Tanzkunst heraus, der klassisch-akademische Bühnentanz mit seinem anspruchsvollen Schrittmaterial (Müller-Speer 1995: 74ff, vgl. Peters 1991:15).

„Aus dem Material, das die Natur liefert, aus dem Gehen, dem Drehen und Springen, dem frohen Tanz der menschlichen Natur, schafft der Menschensinn des Barock, verliebt in Regeln und Gesetze, ein akademisches Gebilde für den Tanz“ (Regner 1962:13).

Die Akademie geht daran, das Schrittmaterial zu systematisieren (Kögler 1991:72, vgl. Regner 1962:11f), und es entsteht eine Grammatik der Bewegungssprache, die bis heute ihre Gültigkeit nicht verloren hat. Die Nennung von ersten Tanzbüchern und Quellwerken zur Theorie des Tanzes reichen bis in das 15. Jahrhundert zurück (Zacharias 1991:56f, vgl. Kögler 1991:71, Müller-Speer 1995:75, Liechtenhan 2000:24). Die Entwicklung des Akademischen Tanzes beginnt also mit der Kodifizierung des Schrittmateriales, mit der Entstehung des Tänzerberufes und mit den italienischen Tanzmeistern, wie Zacharias markiert (1997:69). Einer von ihnen, Marco Fabritio Caroso, schuf elegante Balli und Balletti, in denen die Tänzer komplizierte Figurationen bilden. Die Ballettgeschichte wird aber bereits durch das „Ballet Comique de la Royne“ 1581 eingeleitet, dessen theatralische Ausmaße und Bewegungsmaterialien die zeitgenössischen Gesellschaftstänze sind. Katharina von Medici ruft dafür den florentinischen Meister Baldassarino de Belgiojoso an den französischen Hof (Peters 1991:14, vgl. Zacharias 1991:57, Kögler 1991:71). Damit ist auch die internationale Fachsprache des Balletts erklärt: Jede Bewegung wird mit französischem Vokabular benannt. Vom hoch entwickelten Gesellschaftstanz zum Ballett ist es dann lediglich nur noch ein Schritt.

2.6 Ballett

Tanz und Ballett sind keineswegs identisch. Das Ballett ist eine relativ junge Gattung des (Bühnen)Tanzes und eine spezifische Form des Theaters (Rebling 1974:10, vgl. Liechtenhan 2000:27). Die Komplexität des Balletts erfordert die hohe Qualität und Übereinstimmung von vier Komponenten: des Librettos, der Musik, der Choreographie und der Bühnen- und Kostümgestaltung. Die besten schöpferischen Resultate werden immer erreicht, wenn ein bedeutender Komponist und ein ausgezeichneter Choreograph mit gleichen Ideen und Zielsetzungen zusammenfinden, wie uns Marius Petipa und Tschaikowski im spätromantischen Ballett später beweisen werden (Rebling 1974:68f). Die Technik ist das Rüstzeug, um den theatralischen Tanz zu formen, um dem tänzerischen, nach Bewegung drängenden Erlebnis eine „Art“ zu verleihen. Die Dichter lieben die Sprache, die Maler setzen ihre manuellen Fähigkeiten mit den Eigenarten des Materials in Übereinstimmung, Tänzer bewältigen mit Hilfe des Materials, dem menschlichen Körper, die geforderte Technik. Die Technik des Balletts basiert, wie Regner hervorhebt, auf den ästhetischen Ansprüchen, die in der Renaissance und im Barock an den tanzenden Menschen erhoben worden sind (1962:14f). Die strenge Raumfestlegung hatte zudem den Vorteil, dass sie die Machtstrukturen widerspiegelten.

Jenes Ballett, welches allgemein als das erste die Ballettgeschichte einleitet, wurde bereits erwähnt. Das „Ballett comique de la Royne“ ist für die Entwicklung des Balletts insofern von größter Bedeutung, als nach seiner Aufführung Frankreich und bald ganz Europa Lust bekommt, ein Hofballett aufzuführen. Auch der schon angeführte Impuls von König Ludwig XIV. ist ausschlaggebend für eine neue Ära des Tanzens.

Und nun der letzte Schritt hin zum Ballett: Durch die merkliche Steigerung der technischen Fähigkeiten der Bühnentänzer (ausschließlich Männer) kommt es zu einer Trennung von Bühnentanz und Gesellschaftstanz. Man lässt jetzt tanzen und begibt sich als ehemaliger Mitwirkender in den Zuschauerraum, der vom Saal des Hofes auf die Vorbühne des Theaters wechselt (vgl. auch Hubert 1993:127). Die Weiterentwicklung der Tanztechnik und das Auftreten der Bühnentänzer hat mehrere Folgen, wie Zacharias betont: „Der bisher vorherrschende ornamentale Schreittanz wird abgelöst durch einen mehr vertikalen Tanz, für den Sprünge und schwebende Bewegungen kennzeichnend sind“ (1991:58). Die Freude am Tanzen entspringt für die meisten nicht mehr aus dem Selbstbetätigen, sie wird zum Genuss des Zuschauers an einer künstlerischen Darbietung (Sachs 1984:266). Ideal des klassisch-akademischen Tanzes wird die möglichst vollständige Beherrschung und Kontrolle der Körperbewegungen (Schneider 2004:80), so dass Spontanes möglichst ausgespart wird. „Damit weicht die großzügige choreographische Architektur immer mehr verschnörkelten Figurenspielen, und die Ballettkunst verflacht durch einseitiges Virtuosentum“ (Zacharias 1991:58).

So betont der Tanzreformer Noverre 1760 in „Briefe über die Tanzkunst“, dass das Ballett ohne Leben, Charakter und Haltung geblieben sei. Er beklagt den Mangel an Ausdruck und den ´Verlust der Seele´ (Noverre 1977:197, vgl. auch Kögler 1991:74f, Liechtenhan 2000:62f)). Er fordert für den Tanz anstelle von Sprüngen Verstand, anstelle von Schritten Gefühl und anstelle von Masken abwechslungsreiche Charaktere (Noverre 1977:182). Weiterhin weist er auch auf die künstlerische Einheit von Libretto, Musik, Choreographie, Inszenierung und Dekor hin. Noverres Kritik hat zur Folge, dass sich das Ballett inhaltlich und darstellerisch aus dem geometrischen und virtuosen Schema der Renaissance löst und seine „Briefe“ im Theater als Bibel der Choreographen gelten.

Die sich nun anschließende romantische Ballettepoche wird vom italienischen Choreographen Filippo Taglioni in Paris eingeleitet. Dort findet im Jahr 1832 die Aufführung des Balletts „La Sylphide“ statt, dessen Hauptrolle seine Tochter Marie Taglioni auf Spitzenschuhen tanzt. Kögler stellt neben Müller-Speer (1995:90) heraus, dass die Vorherrschaft des männlichen Tänzers definitiv mit dem Ballerinenkult, der mit der Einführung des Tutus und des „sur la pointe“ (Spitzentanz) die weibliche Tanztechnik vervollkommnet, beendet sei (1991:78). „Männer sind allenfalls als Partner und als Porteurs der Ballerinen gefragt – wenn man nicht lieber ganz auf sie verzichtet, wie in Paris, das dazu übergeht, die Männerrollen von Frauen en travestie tanzen zu lassen“ (Kögler 1991:80).

In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts assimiliert der Bühnentanz in Russland alle Bühnentanzerfahrung Westeuropas. Petersburg wird neben Paris und London die Metropole des Bühnentanzes. Diese Entwicklung ist eng mit dem in Petersburg tätigen Gründer der Ballettschule Jean-Baptiste Landé, dem Handlungsballettvisionär im Geiste Noverres Charles-Louis Didelot und dem Choreographen Marius Petipa verbunden (Schmidt 2002:9f, vgl. auch Liechtenhan 2000:71ff). In Frankreich hat wohl die Revolution 1789 verhindert, dass das Ballett richtig gepflegt werden konnte.

Petipa arbeitet mit den Komponisten Peter Tschaikowsky und Alexander Glasunow zusammen und bringt mit ihnen die noch heute als Inbegriff des klassischen spätromantischen Balletts geltenden Choreographien zu „Dornröschen“ (1890), „Nussknacker“ (1892) und „Schwanensee“ (1894) heraus (Müller-Speer 1995:90, vgl. Kögler 1991:81, Liechtenhan 2000:103f, Schmidt 2002:10).

Der Organisator und geistige Reaktionär Serge Diaghilew schafft sich aus den Petersburger und Moskauer Ballettkompanien ein eigenes Ballettensemble, mit dem er nach Westeuropa zurückkehrt und die dortige eingestaubte Tanzkultur neu zum Leben erweckt (vgl. Schmidt 2002:11). Tänzer wie Anna Pawlowa und Waclaw Nijinsky sind in aller Munde und für den Erfolg des „Diaghilewschen Ballets Russes“ verantwortlich. Mit dem Streben nach Integration aller am Zustandekommen eines Balletts beteiligten Elemente im Zeichen eines Gesamtkunstwerkes begegnet Diaghilew den Choreographen Michel Fokine, der mit dem „Sterbenden Schwan“ (1905) und dem „Feuervogel“ (1910) eine neue Zeit der Ballettkunst anschlägt. Denn durch die Reformvorschläge Fokines, die auf Wiederbeseelung des steril gewordenen klassisch-akademischen Vokabulars gerichtet sind, entsteht das „Moderne Ballett“, dessen Bühnenausstattungen fast nur noch von bedeutenden Malern wie Picasso übernommen werden (Liechtenhan 2000:109ff, vgl. Kögler 1991:83ff, Müller-Speer 1995:90).

Das steigende öffentliche Interesse, die regelmäßigen Sommerakademien in Krefeld, Köln, Stuttgart, Dresden und Berlin sowie der Boom an Rekonstruktionen historischer Choreographien haben nach dem 2. Weltkrieg das Ballett wieder aufleben lassen, war es doch von 1933 bis 1945 einer künstlerischen Entwicklung beraubt und dem Fehlen von Tänzern und Ballettmeistern ausgesetzt. Heute gehört die Ausbildung im klassisch-akademischen Tanz neben dem Jazz Dance und dem Modernen Tanz zur Schule eines jeden Berufstänzers. Sie bedient sich nach wie vor der verschiedenen Ausbildungsmethoden, der russischen – mit der Vollkommenheit in der Technik, frei von äußerlichen Effekten und ohne Beeinflussung eines modernen Stils, der italienischen – mit der virtuosen Technik und dem Hang zum leicht Grotesken, und der französischen – mit den leichten, graziösen und weichen Bewegungen sowie der hohen Gestaltungstechnik (vgl. Tarassow 1994:14f).

2.7 Der Moderne Tanz

Drei bedeutende Tanzbewegungen haben von Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die heutige Zeit unser gesellschaftliches Leben begleitet: Der Durchbruch des Ausdruckstanzes in der Weimarer Republik, eine von Schweden und Dänemark ausgehende neue Volkstanzbewegung, auf die in dieser Arbeit aufgrund der geringen Gewichtigkeit nicht eingegangen wird, und die bereits erwähnte Eroberung der europäischen Opernhäuser durch das Ballettensemble von Serge Diaghilew.

Die Revolution in der Tanzkultur, die sich mit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vollzieht, steht in engem Zusammenhang zum Verfallscharakter des romantischen Balletts. Die mangelnde Beziehung zum erdhaft-horizontalen Prinzip, die monotone Konzentrierung der Choreographie auf Solisten, die Dominanz des Femininen und der extreme Primat des Tanzes über die Musik sind ausschlaggebend für die Ansage Isadora Duncans: „Zurück zur Natürlichkeit!“ (Müller-Speer 1995:125). Außerdem stellen Karina und Sundberg (1992:30) heraus, dass wissenschaftliche Entdeckungen von großem Gewicht zur Entstehung des Modernen Tanzes beitragen: Marie Curies Entdeckung des Radiums, Sigmund Freuds aufgespürtes Unterbewusstsein oder Albert Einsteins Relativitätstheorie - sie alle öffnen die Tore zu verborgenen, unsichtbaren Kräften der Natur.

Von den europäischen Sammlungen antiker griechischer Kunstschätze beeindruckt, sieht Isadora Duncan „die Körperdarstellungen in der griechischen Kunst als idealtypische Spiegelung natürlicher, kosmischer Gesetzmäßigkeiten“. Die Musik von Johann Strauß oder Beethoven schaffen für sie den inneren Erlebnisraum, der seine konkrete Entsprechung im leeren Bühnenraum findet (Zacharias 1991:62f, vgl. Dahms 2001:155, Karina und Sundberg 1992:28, Reese 1994:111ff). Sie entdeckt den „Solarplexus“, den so genannten Sitz des subjektiven Bewegungsempfindens und physischen Sitz der Seele (vgl. Kaltenbrunner 1998:13). Die Bewegung als solche wird bei ihr im Barfußtanz zum dramaturgischen, choreographischen Element (vgl. Dahms 2001:155f). Damit gilt sie als Revolutionärin gegen die überkommene Klassik des Balletts. Sie gilt jedoch nicht als Erfinderin der tänzerischen Moderne. Aus ihrer Anklage geht lediglich der deutsche „Ausdruckstanz“ hervor.

Rudolf von Laban - Tänzer, Theoretiker und Choreograph - ist der große intuitive Geist jener Zeit. Er wandelt die Gedanken von Duncan in ernstzunehmende Theorien um und bringt in den zwanziger Jahren die ersten tanzphilosophischen Schriften „Die Welt des Tänzers“ (Stuttgart) und „Choreographie“ (Jena) heraus. Aus dieser Zeit stammt auch der prägende Satz: „Jeder Mensch ist ein Tänzer.“ Im Mittelpunkt seiner Choreographien steht der Gruppentanz. Der Tanz in der Gemeinschaft ist für ihn ein Ausdruck eines übereinstimmenden Bewegungsimpulses, dessen gefährliche Ideologie in den dreißiger Jahren Mary Wigman, eine Schülerin Labans, beschreibt:

„Wir empfinden tatsächlich zusammen, wissen auch gemeinsam und haben gemeinsame Ausdrucksformen. Schon das allgemeine Körpergefühl ist bei gleicher Schulung ein ganz ähnliches. Zudem aber setzt Gemeinschaft Führerschaft voraus. Die Masse, die sich selber meint, ist niemals Gemeinschaft. Die Arbeit an der Gemeinschaft ist Dienst an der Idee, ist Dienst am Werk. Nur so ist auch die Rolle des Führers im Tanzchor zu verstehen. Der Führer ist ja mit vom gemeinschaftlichen Erleben erfasst, der Tanz den er schafft, ist nicht von ihm ausgedacht, sondern er stammt aus dem Gruppengeist, der sich in den Wechselbeziehungen der tänzerischen Arbeit allmählich abbildet“ (Wigman zitiert in Schmidt 2002:73).

Mit solchem Gedankengut können die Nazis durchaus umgehen: So organisieren sie bei den Olympischen Spielen in Berlin 1936 u.a. mit Mary Wigman eine Tanzdarbietung als Massenspektakel (vgl. Karina und Sundberg 1992:42f). Durch die Ideologie der Nationalsozialisten wurde der Ausdruckstanz radikal verfälscht und findet noch im 2. Weltkrieg ein jähes Ende. Der moderne Tanz und seine künstlerische Weiterentwicklung verlagern sich nach Amerika. Labans entworfenes System der zwölf Bewegungsrichtungen (Schmidt 2002:73f) und die damit verbundenen Prinzipien von Raum, Zeit und Energie haben den später von den Amerikanern geprägten „Modern Dance“ auf fruchtbare Weise beeinflusst (Liechtenhan 2000:106f, 140, Peters 1991:16). An dieser Stelle sei anzumerken, dass der Begriff des „Modernen Tanzes“ in der Literatur immer mit den Begriffen des „Ausdruckstanzes“ und des „Modern Dance“ in Verbindung gebracht und definiert wird.

Im Gegenzug zu Labans „Freiem Tanz“ (Dahms 2001:156, vgl. Zacharias 1991:63), bei dem der Raum als Gegenspieler bzw. Partner zum eigenen Körper betrachtet wird und das Medium des Tanzes für ihn der eigene Körper ist (vgl. auch Preiß 1974:296f, Kaltenbrunner 1998:13)), aus dessen Mitte der Impuls entspringt, kreiert Mary Wigmann 1920 den musiklosen „Absoluten Tanz“, bei dem Atmung und Herzschlag den Rhythmus angeben. Schönheit und Repräsentation gelten als gehaltlos, Authentizität, Individualität beim Ausdruck und Kreativität sind maßgebend (Dahms 2001:157, vgl. Müller-Speer 1995:125ff).

Auch heute noch steht die bloße Übernahme fremder Bewegungsmuster in „Modern Dance“-Workshops und -Lehrgängen für Laien und Profis z.B. bei den jährlich stattfindenden „Sommertanzprojekten“ in Köln oder Erfurt an zweiter Stelle. Nur „beim kreativen Tanzen entfaltet das Individuum seine individuelle Symbolsprache“ betont auch Peter-Bolaender (1989:333) und erwirbt eine Körperbewusstheit, die den Aufbau von Handlungsfähigkeit intendiert. In der modernen Tanzpädagogik wird der Ausdruck daher selbst zum Thema.

2.8 Jazzdance

„Mit der neuzeitlichen Tanz-, Bewegungs- und Sportentwicklung vollzieht sich ein Prozess, in dessen Verlauf die Bewegungsformen gewissermaßen um ihrer selbst willen vorantreiben werden: Zum einen als Sicherung des menschlich-gesellschaftlichen Bewegungspotentials, zum anderen als Einbindung der Bewegung in den Kontext individueller Selbstfindung und -gestaltung“ (Hubert 1993:112f).

In den USA und in Deutschland beginnen die Tänzer, mit den Bewegungsmitteln des postmodernen Sports diese Ziele in eigens entwickelten Tanzformen zu realisieren. Dazu zählt auch der Jazz Dance, eine aus dem afro-amerikanischen Raum stammende Bewegungserscheinung, die im frühen 20. Jahrhundert in Europa erste Interessenten findet. Bei Wessel-Therhorn ist nachzulesen, dass die Geschichte des Jazz Dance jedoch schon mit der Ankunft der ersten afrikanischen Sklaven, deren Tänze und Rhythmen, in Amerika beginnt (2004:12). Anfangs sind die eigenen Gesetze des afrikanischen Tanzes dem damaligen Tanzverständnis fremd. Doch mit zunehmender Anerkennung vermischen sich weiße und schwarze Tanztechniken.

Den großen Durchbruch des schwarzen Tanzes auf der Bühne erreichte 1940 der farbigen Tänzerin Katherine Dunham. Sie konnte 1936 aufgrund eines Stipendiums 18 Monate die Tänze der Eingeborenen in der Karibik und auf Jamaika studieren, um sie dann in den Jahren darauf in New York und Chicago in ihren Tänzen einzusetzen. Jedoch verstand sie es, diese Tanzformen westlichem Verständnis und deren Theatralik anzupassen (Schmidt 2002:176f).

1959 wird der Jazz Dance erstmalig an der Sommerakademie in Krefeld unterrichtet. Nicht nur Wessel-Therhorn betont, dass der Stil im Jazz Dance, der sich auch heute noch im steten Wandel befindet, von jedem kreativen und anspruchsvollen Lehrer eigens kreiert wird (2004:9;11;13). Auch Müller-Speer charakterisiert den Jazz Dance als vielfältige Tanzform, deren Schwerpunktsetzungen aus den bunten Elementen des klassisch-akademischen Tanzes, Afro-Jazz, Steptanz u.a. übernommen werden können (1995:157).

Aber ganz gleich welche Erscheinungsform er annimmt, kommt der Jazz Dance im Gegensatz zum klassischen Ballett aus dem Bauch heraus und strebt zum Boden. Die Tanzfähigkeit von Farbigen, deren gebeugte Körperhaltung und klarem Maß an Lösung und Spannung, kann vielfach als angeboren vorausgesetzt werden, da sie in einer rhythmisch geprägten Lebenswelt aufwachsen. Besonders die isolierten „Pelvis-Motionen“ im Jazz Dance werden jedoch von europäischen Anfängern oft als lächerlich empfunden und nur zaghaft ausgeführt. Zu den wesentlichsten Grundphänomenen des Jazz Dances zählt dennoch die Isolation einzelner Bewegungszentren, wie der Kopf, der Brustkorb oder das Becken. Im fortgeschrittenen Tanztraining wird versucht, mit polyzentrischen Bewegungen dem Grundgesetz des afroamerikanischen Tanzes näher zu kommen. Das fordert vom Übungsleiter einen bewussten Aufbau der Bewegungsschulung „vom Leichten zum Schweren“ sowie wiederholtes Üben.

Heute gehört der Jazz Dance neben dem Modern Dance zum Ausbildungsstandard eines Tänzers. Und auch das Interesse von Tanzvereinen und Volkshochschulen wächst zunehmend. Zu internationalen Tanzwerkstätten und Sommertanzprojekten (Erfurt, Köln) wird Jazz Dance Berufstänzern und Amateuren in Form von Lehrgängen und Workshops vermittelt.

3 Das Wesen der Tanzpädagogik

Um einen möglichst uneingeschränkten Einblick in die Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen von Erziehung und Bildung mittels des Tanzes zu bekommen, soll hierbei von der Betrachtung des Tanzes als Lehr- und Lerngehalt ausgegangen werden.

Tanzpädagogik eröffnet dem Menschen eine Möglichkeit, „Kultur als die ´zweite Natur´ des Menschen zu erfahren“ und zu gestalten (Geißler 1983:138). Hier deutet sich auch die besondere Modalität der körper-leiblichen tänzerischen Interaktion an. Der tanzende Körper ist gleichsam Vermittler, Hervorbringer und Erleidender im tänzerischen Handeln (vgl. Müller-Speer 1995:260).

Haselbach (1991:9) definiert Tanzerziehung als Zusammenführung von Inhalten der Leibeserziehung und der ästhetischen Erziehung. Das Ausdrucksmedium der Tanzerziehung ist die Bewegung des menschlichen Körpers, die entwickelt und differenziert werden soll. Außerdem vermittle die Tanzerziehung die ästhetischen und kommunikativen Aspekte des Tanzes. Hierbei sei noch anzumerken, dass der Begriff Tanzerziehung für diese Arbeit mit dem Begriff der Tanzpädagogik gleichzusetzen ist, auch wenn er von den Begriffen des Tanzunterrichtes und Tanzausbildung abgegrenzt wird. Die genaue differenzierte Betrachtungsweise kann jedoch aufgrund des Umfangs hier nicht gewährleistet werden.

Tanzpädagogik bzw. Tanzerziehung wird hauptsächlich in allgemein bildenden Institutionen wie Kindergärten, Schulen, Vereinen, Fitness- und Tanzstudios und speziellen Tanzschulen gezielt eingesetzt. Dabei soll sie den Hintergrund verschiedener Erwartungen und primärer Motivationen sowohl beim Lehrenden als auch beim Lernenden berücksichtigen und reflektieren. Tanzpädagogik hat als zweite Aufgabe, dem auf Expression verwiesenen Menschen, „dem auf so vielen […] Gebieten die Chance schöpferischen Gestaltens gegeben ist, auch die Bewegung im Tanz als gestaltbares Material nahe zu bringen“ (Lex und Padilla 1988:14). Tanzpädagogik soll die körperlichen Anteile der Person in ihrer Interaktion mit der Welt besonders berücksichtigen und deren bildende Gehalte aufschließen (vgl. Gebhard 1978:130f, Müller-Speer 1995:296).

3.1 Körperlichkeit und Emotionalität in Erziehung und Bildung

Mit der optimistischen Sichtweise der Möglichkeiten von Erziehung und Bildung in der Bundesrepublik der frühen 70er Jahre geht eine Ausrichtung auf pragmatisch nutzbare Informationsvermittlung einher. Wissen wird mit gesellschaftlichem Status und Macht auf eine Ebene gestellt. Die Erkenntnis, dass die gesellschaftlichen und individuellen Gegebenheiten nicht beliebig veränderbar sind, endet im Bildungspessimismus der 80er Jahre (Geißler 1983:25f). Durch die Vernachlässigung der Körperlichkeit und Emotionalität in vielen Bereichen von Erziehung und Bildung wird eine Neu- bzw. Rückbesinnung auf Ganzheitlichkeit gefordert (Geißler 1983:53). Zweckfreie Bildungsinhalte, zu denen der Tanz zählt, bedienen sich einer unbestimmbaren, undefinierbaren und indirekt beschreibbaren Verwendung im pädagogischen Feld.

„Ein zeitgemäßes Allgemeinbildungskonzept muss daher Lernbereiche, Lernangebote und immer auch Lernanforderungen enthalten, die […] Zugänge zu unterschiedlichen Möglichkeiten menschlichen Selbst- und Weltverständnissen und zu kulturellen Aktivitäten […] öffnen – von der subjektiven Seite aus gesehen: zur Vielzahl möglicher, relativ frei wählbarer individueller Interessenschwerpunkte“ (Klafki 1985:25, vgl. Geißler 1983:23; 27).

Neben den sensomotorischen Zielsetzungen werden nun auch wahrnehmungsbezogene, kognitive und affektive Zielpositionen gleichberechtigt berücksichtigt. Wie sich diese einzelnen Anteile im Lernprozess auswirken, wird im Kapitel 8 genauer betrachtet. Fest steht, dass rein sprachliche Lernprozesse „gesamthistorisch und in der individuellen Lerngenese […] immer rückgebunden sind an konkretere Formen der handelnden Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit“ (Klafki 1985:236, vgl. Geißler 1983:21). Deshalb erscheint es angemessen, „das Repertoire von Aneignungs-, Auseinandersetzungs- und Ausdrucksformen über das Medium Sprache hinaus zu erweitern, gezielt fort[zu]führen […] und (zu) erproben“ (Klafki 1985:237). Tanzpädagogische Veranstaltungen können, wie Badry hervorhebt, sowohl einen ausgleichenden und ergänzenden als auch einen erweiternden und unterstützenden Charakter haben (1992:135).

Die ergänzende Bedeutung tänzerischer Lernprozesse wird umso mehr deutlich, wenn Klafki (1983:236) weiter beschreibt, dass von Kindern und Erwachsenen gefordert werde, dass sie „über relativ lange Lernphasen hinweg aufmerksam an rein […] sprachlich vollzogenen Lehr-Lern-Prozessen teilzunehmen“ haben. Im Hinblick auf die „Sozialisationsbedingungen einer hochtechnisierten Gesellschaft“, gekennzeichnet durch eine verkehrs- und signalreiche Umwelt, in der sich der Mensch bewegen und orientieren müsse, und durch ein reiches optisches und akustisches Medienangebot, hätten sich jedoch Rezeptionsgewohnheiten ausgebildet, die nicht primär verbaler Art seien. Tänzerische Handlungen können innerhalb dieser Veränderungen die Lernmöglichkeiten des Einzelnen über das verbale Lernen hinaus erweitern. In einzelnen Enklaven ist es vor allen Dingen Kindern und Jugendlichen möglich, Lernerfahrungen mit ihren eigenen schöpferischen und leiblichen Kräften zu machen, die relativ frei von äußeren Notwendigkeiten und Grenzen sind – die daher auch als zweckfrei bewertet werden können.

Die genaue Ausgestaltung von Tanzbewegungen, Tanzhandlungen und Tanzangeboten für alle Altersklassen wird jedoch wesentlich durch die Schwerpunktsetzungen der Lehrenden mitbestimmt und anhand eines Geflechts von Richt- und Feinzielen festgelegt.

3.2 Ziele und Bildungsinhalte der Tanzpädagogik

Zur besseren Übersicht sollen die Zielrichtungen tanzpädagogischen Handelns in vier Bereiche, die miteinander in Wechselwirkung stehen, zusammengefasst werden. Diese Einteilung findet ihre Entsprechung in der Betrachtung des Tanzes unter seinen Vermittlerfunktionen. Diese Zielbereiche sind:

- Sachorientierter Bereich

- Subjektiv-emotionaler Bereich

- Sozialer Bereich

- Kognitiver Bereich

3.2.1 Sachorientierter Bereich

Der erste Zielschwerpunkt ergibt sich, wenn Tanz als Thema und Sache im Vordergrund des Lernprozesses steht. Allgemeines Ziel in diesem Zielkomplex ist es, dass der Lernende in tanzpädagogischen Veranstaltungen zu tanzgerechten Bewegungsäußerungen befähigt, wird sowie das notwendige Tanzwissen erwirbt. Tanz aktualisiert sich nur dann, wenn sich der Körper des Tanzenden bewegt, d.h. wenn er seine aktuellen Raumpositionen aufgibt oder verändert, ohne dass ein einheitlicher Bewegungsablauf beschrieben wird (Feldenkrais 1978:56). Tanzpädagogik regt den Tanzenden zur Auseinandersetzung mit der (tänzerischen) Sachwelt, die durch das subjektive Empfinden, den körperlichen Bedingtheiten und der Stellung im Raum mitbestimmt wird, an (vgl. Peter-Bolaender 1992:230f).

Als Aufgabe und Ziel für die Tanzpädagogik formuliert Wigman (1963:109, vgl. Lex und Padilla 1988:12), dass der „bewegte Körper zum feinnervig, vibrierenden und meisterlich beherrschten Instrument des Tanzes“ zu formen sei. Förderung und Erhalt von Muskelkraft, Schnellkraft, Gleichgewicht, der Spreizfähigkeit und der Koordinationsfähigkeit werden im Wachstumsprozess des Körpers angestrebt.

Eine gute Tanzbewegung kommt dann zustande, wenn „willkürliche Kontrolle und die automatische Reaktion des Körpers auf die Schwerkraft nicht gegeneinandergeraten, sondern […] zusammenwirken und einander beim Ausführen […] so helfen, dass es aussieht, als würde diese von einem einzigen Zentrum aus gelenkt“ (Feldenkrais 1978:122).

Durch Tanzveräußerungen kann die Bewegungsfähigkeit erhalten und verbessert werden. Bei Kindern und Jugendlichen sei jedoch darauf zu achten, dass sie nicht überfordert werden. Besonders bei Kleinkindern muss bei Balance erfordernden Bewegungen wie Drehungen berücksichtigt werden, dass der Gleichgewichtssinn im Alter von vier Jahren noch nicht voll ausgeprägt ist. Auch die Hüftrotation bei Erwachsenen, die für den klassisch-akademischen Tanz Voraussetzung ist, kann aus anatomischen Gründen nur noch minimal verändert werden. Aufwärmübungen, Kraft- und Konditionstraining und das Üben von Schrittfolgen zielen ebenso darauf ab, eine verbesserte Ausführung des Schrittgutes zu ermöglichen. Dabei fördert die rhythmische Gestaltung der Bewegung die Fähigkeit, einen Bewegungsablauf in ein musikalisches Zeitmaß einzupassen. „Eine vom Rhythmus geprägte Bewegungsfolge [kann] nur dann ihre volle Vitalität entfalten […], wenn sie entsprechende dynamische Impulse enthält“ (Lex und Padilla 1988:17). Tanzen dann mehrere Kinder zusammen oder meistern sie alle gleich bleibende Bewegungsabläufe, setzt dies voraus, dass sie gelernt haben, sich im Rhythmus und Dynamik aufeinander abzustimmen (vgl. Bergmann 2006:55). Dabei fördert besonders die Dynamik die Motivation und die Konzentration der Kinder. Außerdem ist bei Lex und Padilla nachzulesen, dass die Form einer Bewegung sowie die geometrischen Gruppierungsmöglichkeiten wesentlich dazu beitragen, dieser Gestalt zu geben. „Ohne Form keine klare erkennbare Tanzgestalt – kein Ruhepunkt im Fluss der Bewegung, denn nur sie schafft sichtbare Konturen“ (1988:18).

3.2.2 Subjektiv-emotionaler Bereich

Unter der Zielperspektive des subjektiv-emotionalen Bereichs steht die Erfahrung und Wahrnehmung an und mit dem eigenen Körper sowie das Sich-Einlassen auf emotionales Erleben, auf „innere“ Bewegungen und Stimmungen.

Bergmann verweist auf die Verbindung zwischen den Phänomenen „Tanz“ und „Spiel“. Tanz würde mit spielerischen Aktionen und rhythmisch geformten Bewegungen nachhaltiger gelernt und aufgenommen.

„Das Medium Tanz ermöglicht dem Tanzenden über die Selbsterfahrung hinaus den Schritt zur Selbst-Ausbildung und Selbstbildung zu tun, da er sich im tänzerisch gelenkten Spiel seiner eigenen Bewegung erst bewusst wird und dieses Bewusstsein im Tanz für sich werten kann“ (Bergmann:2006:54).

„Mittels Tanz soll der Mensch eine Förderung seiner Wahrnehmungsfähigkeit, seiner Kreativität, seiner Fähigkeiten zur Meditation und Imagination sowie eine Erweiterung seines Bewusstseins, insbesondere seines Selbstbewusstseins, erfahren“ (Peter-Bolaender 1992:222).

Mit der Ausbildung des Selbstbildes gehört auch die Vorstellung vom eigenen Körper, die es ermöglicht, ein Bild von sich selbst zu entwickeln.

Da sich diese angestrebten Feinziele durch die Begegnung mit Menschen begründen und die damit zusammenhängende sozio-kulturelle Eingebundenheit verantworten, muss das Kind oder der Erwachsene emotional bereit sein, sich mit seiner Person und der Umwelt tanzend auseinanderzusetzen. Mit dem Kontakt zu anderen Menschen erfährt der Tanzende seine Stärken und Schwächen, und zwar im Vergleich mit anderen.

Eine weitere Voraussetzung für die innere Vorstellung des eigenen Ichs ist die kinästhetische Wahrnehmungsfähigkeit, d.h. „Spannung und Entspannung der Muskeln und die Lage der einzelnen Glieder werden innerlich empfunden. […] Nur über das innere Bild lassen sich Konzentration und Geschlossenheit der Bewegungsform erreichen“ (Gaupp o.J.:18). Auch die Beobachtungsfähigkeit im visuellen Bereich, die bei Bewegungsgestaltungen für die Übernahme von Bewegungsmustern von Bedeutung ist, und die Wahrnehmungsfähigkeit im taktilen Bereich dienen der Sensibilisierung und der Aktualisierung der sachgerechten, d.h. tanzgerechten Schulung.

3.2.3 Sozialer Bereich

Innerhalb der Tanzpädagogik gehört die Entwicklung sozialen Verhaltens zu den Zielaspekten des sozialen Bereiches, dazu gehören die Rücksichtnahme und / oder die Fähigkeit, auf andere einzugehen und sich anderen anzupassen (vgl. Bergmann 2006:14). Dabei soll geschult werden, dass es möglich ist, tänzerisch zu kommunizieren. Dies kann im Gleichklang oder auch durch Nähe und Distanz erkannt werden. Die zwischenmenschlichen Kontakte ereignen sich somit auf nichtsprachlicher Weise, die je nach Bedarf durch verbale Kommunikation erweitert werden kann. In diesem Kontext sei auch darauf hinzuweisen, dass die möglich werdenden Beziehungserfahrungen unter den Lernenden von konstitutiver Bedeutung für die personale Entwicklung sind.

Personale Identität ermöglicht es dem Menschen, sich im gegebenen sozio-kulturellen Rahmen als Individuum zu behaupten, aber auch seiner Umwelt Rechnung zu tragen. Personale Identität als Bedingung für mündige Lebensgestaltung gestattet zudem dem Menschen „verantwortliches Entscheiden-Können durch begründetes Ja-oder-nein-sagenkönnen“ (Geißler 1983:46).

Die Identität des Menschen kann durch Bewegungserfahrungen unterstützt werden. Sinnliche Erfahrungen des eigenen Körpers, des Körperkontaktes zu anderen Personen und das reflexive Erleben der eigenen tänzerischen Handlungen während des Trainings und bei Auftritten sind solche identitätsstiftenden Erfahrungen, die Kindern und Jugendlichen im Tanzen möglich sind. In der Tatsache, dass beim Tanzhandeln immer auch die kognitive und emotionale Seite des Menschen mitbeteiligt ist, zeigt sich die ganzheitliche Bedeutung, die tanzpädagogischem Handeln für die Identitätsbildung des einzelnen zukommen kann. Das Wissen um den ganzheitlichen Charakter tänzerischen Lernens ist für die Einschätzung des „Belastungsprofils“ von Tanzaufgaben durch den Lehrer oder Trainer grundlegend (Kramer 1990:16)

Der bereits genannten Forderung nach Anpassung und Übernahme des Bewegungsmodus einer Gruppe steht die Fähigkeit, eine Gruppe zu leiten, zu verantworten und sich vor dieser zu präsentieren, gegenüber. Wechselnde soziale Rollen können innerhalb eines gruppendynamischen Prozesses wesentlich das Vertrauen untereinander forcieren.

„Eine verantwortungsvolle Tanzerziehung wird es nicht versäumen, gleichwertig neben der Einzelarbeit, durch die der Lernende alles über seine eigene Bewegungsnatur erfährt, die Anpassung an Partner und Gruppe zu stellen, um einer zu starken oder gar ausschließlichen Konzentration auf die eigene Person entgegenzuwirken“ (Lex und Padilla 1988:18).

Aber auch Kritikfähigkeit und Konkurrenzfähigkeit sollen im Tanzen erworben werden. Der Tanzende wird im Unterricht in die Lage versetzt, einen Tanz oder eine Bewegung weitestgehend objektiv zu beurteilen und durch soziales Lernen den Mangel an Gemeinschaftsfähigkeit (vgl. Kapitel 5) in unserer heutigen Gesellschaft auszugleichen.

In wettbewerbsähnlichen Situationen, z.B. beim Konkurrieren um einen bestimmten Platz in einer Tanzgruppe, sollen Lernende „die Fähigkeit entwickeln, trotz möglicher Erfolgserlebnisse und Frustrationen den gemeinsamen tänzerischen Plan weiterzuverfolgen“ (Müller-Speer 1995:300).

Dabei müssen sie lernen, andere nicht zu behindern oder zu stören, aber trotzdem noch genügend Raum für ihre eigenen Bewegungen zu finden. Werden in Gruppenprozessen konstruktive Kritiken geübt, können solche Reflexionen sich gegebenenfalls auch auf das Verhalten im Alltag positiv auswirken.

3.2.4 Kognitiver Bereich

Zur Förderung des kognitiven Bereiches innerhalb der Tanzpädagogik sollen die Schüler die Tanzerscheinungen, die durch unsere Gesellschaft geformt und deren Bedingungen ausgesetzt sind, unterscheiden lernen.

„Tanzhandeln ereignet sich auf dem Hintergrund der im Verlauf der Kulturentwicklung in symbolischer Interaktion gewachsenen Tanz- und Bewegungstraditionen, denn diese stellen das veränderbare und erhaltenswerte Potential für Tanzschaffen dar“ (Müller-Speer 1995:301).

Durch die schöpferische Auseinandersetzung mit den verschiedenen Erscheinungsformen wird die Kreativität gefördert sowie standardisierte Formen kritisch betrachtet, auf unsere heutige Zeit bezogen oder einfach übernommen. Ungeprobte Möglichkeiten können gewagt, neue Beispiele gesucht und eine Vielzahl der Aufgabe entsprechender Lösungen hervorgebracht werden. Dadurch wird nicht nur die tänzerische Leistung anerkannt, sondern auch die Expression, die Gestaltungskraft und die Originalität. Es ist im Lernprozess wichtig zu erfahren, dass sich ein Kind oder ein Jugendlicher, unabhängig von der Könnensstufe, fremdes Tanzgut aneignet und mit eigenen tänzerischen Mitteln wieder neu gestalten kann.

„Tänze mit Formgebung, wie Volkstänze, bieten als Lehrmaterial Formmodelle an, die es dem einzelnen ermöglichen, Regeln und Gesetzmäßigkeiten des Umgangs mit tänzerischen Gestaltungskriterien handelnd zu erfahren […] [und] anzupassen“ (Müller-Speer 1995:302).

Um Konzentration, Reaktion und Gedächtnis zu schulen, bedarf es eines Trainings, welches auf akustische und visuelle Zeichen ausgelegt ist. Wenn auf einen Reiz reagiert wird, entsteht eine Bewegungsantwort. Diese Bewegungsumsetzung muss aber vom Leiter oder Trainer vorher klar strukturiert thematisiert werden; es sei denn, die Stunde wird mit dem Thema Improvisation überschrieben (vgl. Kapitel 9).

Das akustische, visuelle und motorische Gedächtnis arbeiten interagierend bei jedem Tanz zusammen. Dabei wird die Erinnerung an Bewegungsfolgen durch die Verbindung mit der Musik, die damit einhergehende Vermittlung von Zeit und Rhythmusgefühl und durch bestimmte Anordnungen im Raum erreicht. Außerdem kommen besonders bei der tänzerischen Gestaltung Reflexionsfähigkeit, Vorstellungsfähigkeit, Flexibilität, Kombinationsfähigkeit und Handlungskompetenz zum Ausdruck.

Zusammenfassend versucht Tanzpädagogik den Tanzinteressierten in der Fülle von Freizeitangeboten eine Form handelnden Umgangs mit der Alltagswelt zur Verfügung zu stellen. Dabei kann er den Hintergrund der eigenen gewählten Tanzrichtung mit Hilfe historischer Gegebenheiten und Eindrücke kennen lernen und so „die von ihm geforderten Bewegungen erweitern und anders verstehen“ (Müller-Speer 1995:306). Eine Auseinandersetzung mit den verschiedensten Bewegungsansätzen kann dem Profi aber auch dem Laien eine Möglichkeit bieten, sich der sozio-kulturellen Entwicklung im Tanz zu stellen und ihren eigenen Standpunkt zu bestimmten Tanzformen kritisch einzuordnen.

3.3 Methodik und Vermittlungsformen der Tanzpädagogik

Methodische Entscheidungen sind mehr als nur funktionalistische Überlegungen, sie haben Einfluss auf die erzieherischen und bildnerischen Abläufe einer Vermittlungssituation. Gebhard fordert, dass der Schwerpunkt der Bedeutung des Tanzes z.B. in der Schule weniger in der Vermittlung des Tanzes als in der Erziehungsaufgabe des Lehrenden gesucht werden müsse (1978:176). Dabei tritt der Lehrer als Rolle des Erziehers und Vorbildes auf (vgl. TrautmannVoigt 1990:351), der die tänzerischen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse seiner Schüler am Schuljahresende bewerten muss. Bei kommerziellen Lehrangeboten, wie professionellen Ausbildungen und Workshops, gibt der Trainer und Leiter als Fachmann und Examinator sein tänzerisches Wissen weiter und vermittelt damit auch „Arbeitstugenden“ wie Durchhaltevermögen, soziale Erfahrungen und Einstellungen für ein angemessenes Selbstbewusstsein (Geißler 1983:47f;73f;89).

Dem erziehenden Unterricht wird von Geißler einer hohen Bedeutung beigemessen, denn die Erziehungseinflüsse des Lehrers passieren im Rahmen der Tanzaneignung (1983:320). Unter diesem Blickwinkel wird deutlich, dass die Förderung der persönlichen Entwicklung des Heranwachsenden oberste Priorität in der Methodik und Vermittlung des Tanzes bekommen muss.

Im Kapitel 2 wurde erwähnt, dass Curt Sachs bereits 1933 eine Systematik im Tanz entwickelt, die u.a. bildfreie und bildhafte Tänze unterscheidet. Die Gliederung soll an dieser Stelle wieder aufgenommen werden, um deren Vor- und Nachteile in der Vermittlung und der methodische Möglichkeiten genauer zu betrachten.

Bildhafte Tänze sind stets an eine Form gebunden und werden daher auch von Müller-Speer als formgebunden bezeichnet (1995:321). Die Vermittlung formgebundener Tänze fördert durch das Zurückgreifen auf die Vorgabe von Bewegungssequenzen die körperlichen Möglichkeiten, die Gestaltung dieser so gut wie möglich einem Ideal anzupassen. Trainingssysteme, die zur Bewegungsschulung entwickelt wurden, haben vielfach den Charakter eines Rituals, zu dem auch bestimmte Kleidung oder Musik gehören.

Die monotone, einheitliche Bewegungserfahrung im formgebundenen Tanz kann ein Gemeinschaftsgefühl innerhalb einer Gruppe fördern. Die Tanzgruppe greift aus einem gemeinsamen verinnerlichten Schritt- und Kombinationsfundus und erhält damit einen klaren Orientierungspunkt im Hinblick auf das Lernziel. Mittels des Frontalunterrichtes kann ein Lehrer einfach und in relativ kurzer Zeit seinen Schülern Tanzbewegungen vermitteln, indem er Bewegungsaufgaben vormacht und erklärt. So kommt es vor, dass bei kommerziellen Workshops Gruppenstärken von 50 Personen und mehr keine Seltenheit sind. Hier ist es möglich, den Personen das Lernen zu ermöglichen, deren Tanzleistung dem Standard der Gesamtgruppe entsprechen. In Kleingruppen hat der Lehrer die Aufgabe, die körperlichen Voraussetzungen der Tanzenden genau zu kennen und seine Methodik ihnen anzupassen. Die Methode des vorgegebenen, reproduktiven Bewegungslernens birgt aber auch Gefahren in sich. So steht neben den selten gewürdigten individuellen Leistungsfortschritten in großen Gruppen die mechanische, immer am Perfekten bemühte ausgeführte Bewegung, die ohne jegliches Innenleben erscheint.

Stellvertretend für das in die Verantwortung des Tanzenden unter Anleitung des Lehrenden gestellte produktive Üben, dem formfreien Tanz, äußert sich Peter-Bolaender in Verbindung zu ihrem entwickelten Konzept der „integrativen Tanz- und Bewegungserziehung“:

„Die Betonung der Improvisation im Rahmen der Bewegungserziehung soll und kann dem mechanischen Tun und Bewegen entgegenwirken und das Lernen von innen heraus fördern […]. Diese Wertschätzung der Improvisation ist grundlegend für meine Konzeption der Körperarbeit im Rahmen eines integralen Ansatzes der Tanzpädagogik. Jedoch muss dieser Pol der Bewegungsfindung parallel zur strukturierten […] Körperarbeit verlaufen“ (1992:221f, vgl. Haselbach 1984:5ff, TrautmannVoigt 1990:154;172ff).

So kann es bei ungeübten Schülern und Laien passieren, dass durch die mangelnde Bewegungserfahrung und der monotonen Aktualisierung von ausgewählten Schrittkombinationen die Phantasie und die Freude am Tanzen verloren geht.

„Bewegungsschulung in Form von Improvisation und Komposition, die die freie individuelle Lösung eines Bewegungsthemas zum Ziel hat, wird der Konturlosigkeit im Allgemeinen nur dann entgehen, wenn sie durch klar umrissene Aufgaben aus dem jeweils zu erarbeitenden Bereich abgegrenzt wird“ (Lex und Padilla 1988:15f).

Ein positiver Aspekt beim freien Vorgehen ist die wesentlich sichere Beherrschung und intensivere Durchführung des Bewegungsgutes durch selbst entwickelte Schrittfolgen und Kombinationen. Vom Trainer und Lehrer erwartet der Tanzende eine gute Beobachtungsfähigkeit, das Zurücksetzen eigener Vorlieben und eine klare Hilfestellung, damit der Übende sich weiter orientieren und entwickeln kann.

„Die wache Bereitschaft des Lehrenden, auch seiner eigenen Veranlagung ferner liegende, aber von der Persönlichkeit des Lernenden überzeugend getragene Lösungen zu akzeptieren und zu fördern, bringt dem Lernenden im Laufe der Zeit zu einer immer engeren Beziehung zum Tanz, der auf diese Weise zu ´seinem´ Tanz werden kann“ (Lex und Padilla 1988:16)

Wichtig, so betont Kramer, sei das „in jedem Fall isoliert“ erprobte Vorgehen, bevor ein Trainer die produktive Methodik „in einem komplexen Aufgabenzusammenhang“ von seinen Tanzbegeisterten fordert (1990:18).

Eine Synthese von produktiver und reproduktiver Tanzaneignung kann mit Hilfe von technischen Basisbewegungen oder Grundbewegungen wie Gehen, Hüpfen, Drehen oder Springen erreicht werden, denn sie sind austauschbar, jederzeit einsetzbar und bilden einen Grundstein für alle Tanzformen (Lex und Padilla 1988:17). Die Entscheidung zwischen beiden Vermittlungsformen hängt immer von der Gegebenheit der Zielgruppe ab. Kramer geht sogar soweit, verallgemeinernd zu behaupten, dass die „Fähigkeit zu spielerischen Umgang mit gekonnten Bewegungen (Improvisation) […] sich mit zunehmenden Alter“ verliere (1990:18).

Mit dem Heranwachsen und der zunehmenden Eigenständigkeit des Lernenden ändern sich auch die Aufgaben des Lehrers bzw. Pädagogen. Bei Kindern und Jugendlichen liegt seine Aufgabe verstärkt in der Freisetzung seiner Fähigkeiten zur Auseinandersetzung mit dem Gegenstand. Bei erwachsenen Tänzern geht es eher darum, „animativ“ einen Bildungsgehalt zu präsentieren und bereitzustellen, so dass seine direkte Einwirkung in den Hintergrund rückt. „Die Beziehung zwischen dem [Pädagogen] und dem zu Erziehenden bzw. sich Bildenden wird über die Aufgabe gestiftet, d.h. über etwas, das bedacht, […] beurteilt, begriffen, besprochen und auch getan werden muss“ (Badry 1992:143). Tanzpädagogik macht sich das Phänomen Tanz als Mittler nutzbar. Der Lerngehalt gehört neben dem Lehrenden und Lernenden zu den drei Bestimmungsgrößen pädagogischer Lehr-Lernsituationen – auch in der Erlebnispädagogik.

4 Das Wesen der Erlebnispädagogik

Sportpädagogische Arbeit in allgemeinbildenden und erzieherischen Einrichtungen versucht durch Selbstgestaltungsprozesse des Individuums das Potential für die Persönlichkeitsbildung zu fordern und zu fördern und möchte durch selbstgesteuertes Lernen zur Identitätsfindung beitragen. Sie knüpft damit für Trainer, Übungsleiter, Lehrer, Professoren und Sozialpädagogen, die in ihren Institutionen insbesonders Heranwachsende in der Erziehung und Bildung zu lebenslangem Sporttreiben motivieren sollten, an ein Lernziel, das nicht mit einer Veränderung der Persönlichkeit einhergehen soll, sondern mit einer „Modifizierung in Form von Verstärkung funktionaler Verhaltensweisen“ (vgl. Scholz 2005:15) in bestimmten Anforderungssituationen. Beispielsweise spiele in der Arbeit mit eigenen Grenzen besonders der Coping-Prozess, also der „Prozess der konstruktiven Anpassung“, wie Olbrich (1985:9) ihn beschreibt, eine wichtige Rolle. Der Mensch entwickelt in besonderen Situationen Bewältigungsstrategien, die ihn aus seinem inneren Gleichgewicht bringen. Die Äquilibration geschieht durch „Assimilation von hinzukommenden oder veränderten Elementen sowie (…) Akkomodation der personspezifischen Strukturen oder Programme“ (Olbrich 1985:11).

Solche Anforderungssituationen und Entwicklungsaufgaben werden durch Bewegungen begriffen und erlebt. Kinder und Jugendliche machen in freier, selbstbestimmter Bewegung unbewusste Erfahrungen mit ihrem eigenen Körper und werden mit Angst und Vertrauen konfrontiert. „Kinderwelt: Bewegungswelt“ (Ehni 1982:5) – so definiert auch Ehni die Lebenswelt von Kindern. Erlebnisse und das Eingehen eines subjektiven oder objektiven Wagnisses können ein raum(er)greifendes Instrument von Körper- und Welterfahrung werden und Kompetenzen im Hinblick auf kind- und jugendgemäßes Verhalten aufbauen. Ist Bewegung für die kindliche Entwicklung wichtig, kann man sie auch in der Entwicklung des Heranwachsenden und Erwachsenen als bedeutsamen Faktor festmachen. Bewegung ist „Eigentätigkeit“ und damit „materielle Grundlage der Erkenntnistätigkeit“ (Rolff 1992:155).

Betrachtet man den Sport aus der Sicht der hier vorgestellten sportpädagogischen Arbeit mit der Sinnorientierung Tanz und Erlebnis, so rückt die Notwendigkeit des Praxisbezuges immer mehr in den Mittelpunkt. Im tradierten Entwicklungszusammenhang der Institution Schule wurde diesem Bedürfnis bis jetzt nur vage entsprochen.

„Es bedarf pädagogischer Situationen, in denen die Heranwachsenden moralisches Verhalten und sittliches Handeln praktisch trainieren, in relativer Offenheit eigene Schwächen reflektieren und Leistungspotenzen wahrnehmen können. […] Allein mit intellektuell-kognitiven Methoden und Didaktiken der Unterrichtsgestaltung lassen sich weder ernsthafte Handlungsmotivationen in komplexen Situationen, noch [altersgemäßer] Transfer von Wertüberzeugungen und Einstellungen […] realisieren“ (Fischer 1999:10).

Man geht davon aus, der Schüler lerne das Lernen und nicht das Handeln. Dies ist auch heute noch aktuell; wir leben mehr denn je in einer Kultur, die reich an Informationen, aber arm an Erfahrungen ist. Daher wird eine erlebnispädagogisch-akzentuierte Schulgestaltung und Freizeit von Pädagogen und Wissenschaftlern gefordert, die Schlüsselqualifikationen wie Kooperations- und Teamfähigkeit, Grenzerfahrung, Selbstverantwortung, Initiative und Selbstständigkeit in den Vordergrund stellen.

Durch die Leitsätze „Learning by doing“ und „Lernen durch Kopf, Herz und Hand“ versteht sich die Erlebnispädagogik als ganzheitliches Bildungskonzept, alternativer Ersatz und gesellschaftskritische Kompensationspädagogik (Fischer 1999:12). Sie will „innere Spannungen und Defizite an Erlebnissen aus ´erster Hand´ kompensieren. Es geht um emotionale Spannungen, die sich in den ´reizüberfluteten´ Alltags- und Berufsroutinen einstellen, aber nicht automatisch abgebaut werden können“ (ebd. S. 260). Erlebnispädagogik ist eine der Basisgrundlagen des Hahn´schen Erziehungskonzeptes ab dem Jahre 1920 und den daraus entstandenen Outward Bounds. Der Stellenwert des Erlebnisses bei der Vermittlung von Erfahrungen, Methoden und Wissen ist jedoch keine neue Erkenntnis. Bereits Rousseau, Vordenker der Erlebnispädagogik und französischer Philosoph, empfiehlt in den 70er Jahren Handlung und Erfahrung als Unterrichtsprinzip und ermahnt die Lehrer:

„Und denkt daran, dass ihr in allen Fächern mehr durch Handlungen als durch Worte belehren müsst. Denn Kinder vergessen leicht, was sie gesagt haben und was man ihnen gesagt hat, aber nicht, was sie getan haben und was man ihnen tat“ (Rousseau:1975:80).

Erkenntnistheoretische Wurzeln liegen also in der Zusammenführung Rousseauscher Staats- und Gesellschaftsphilosophie, reformpädagogischer Ideen und pragmatischer Gedanken, die an dieser Stelle rekonstruiert werden sollen. Durch die folgende Betrachtung erfährt die Sinnorientierung „Erlebnis“ einerseits eine Legitimation aus soziologischer, gesellschaftspolitischer, erzieherischer und lernpsychologischer Sicht, andererseits auch eine Konkretisierung hinsichtlich ihrer Ziele, Aufgaben und Vermittlung. Dieses theoretische Verständnis von Erlebnispädagogik wird wesentliche Bedingung für das Gelingen von erlebnispädagogischen Vorhaben im Tanzbereich sein.

4.1 Theoriegeschichtliche Rekonstruktion

Anfang des 20. Jahrhunderts entwickeln sich in Deutschland große Monopolindustrien, die kaum noch gefühlsbetonte Individualität und gesellschaftliche Vielfalt zulassen. Die veränderten sozialen Muster erfordern Neuorientierungen im Bildungs- und Erziehungswesen. Durch ständig wachsende Studentenzahlen, mit zunehmenden Einrichtungen von öffentlichen Schulen und Fortbildungsschulen begründet (Fischer 1999:85), werden Studienrichtungen und Fächerkombinationen erweitert. Mit diesen institutsgeschichtlichen Entwicklungen deutet sich an, dass sich die Aufgaben der öffentlichen Erziehung grundsätzlich erweitert haben. So müssen u.a. Lehrpläne und Praxisbereiche überarbeitet werden. Kunst und Kultur erhalten immer mehr öffentliche Aufmerksamkeit. Während dieser funktionalistischen und rationalistischen Entwicklungen entstehen idealistische Bestrebungen nach einer Lebens- und Kulturreform, die in reformpädagogischen Bewegungen ihren Ausdruck finden (Fischer 1999:84f).

[...]

Excerpt out of 132 pages

Details

Title
Tanzpädagogik: Tanz als Erfahrungs-, Lern- und Gestaltungsraum
College
http://www.uni-jena.de/  (Institut für Sportwissenschaften)
Grade
1,0
Author
Year
2006
Pages
132
Catalog Number
V65747
ISBN (eBook)
9783638582490
ISBN (Book)
9783638709996
File size
2242 KB
Language
German
Keywords
Tanz, Erfahrungs-, Lern-, Gestaltungsraum, Möglichkeiten, Berücksichtigung, Bildungsinhalte, Tanzpädagogik
Quote paper
Christiane Helbig (Author), 2006, Tanzpädagogik: Tanz als Erfahrungs-, Lern- und Gestaltungsraum, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/65747

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