Seit Beginn der 1990er Jahre erlebt Lateinamerika eine kaum für möglich gehaltene neue Integrationsdynamik. Die weltweiten Regionalisierungstendenzen innerhalb einer zunehmend globalisierten Weltordnung haben offensichtlich auch diese Region erfasst. Als das bisher erfolgreichste und ehrgeizigste Integrationsprojekt in Lateinamerika gilt dabei der Mercosur. Während es aktuell zahlreiche Beispiele für regionale Zusammenschlüsse gibt, handelt es sich hier um einen Kooperationsansatz, dessen verpflichtender Charakter und dessen ordnungspolitischer Umfang wohl nur noch von der Integration Europas überboten werden. Zwar ist etwa die NAFTA bedeutender bezüglich ihrer Wirtschaftskraft, jedoch ist ihre Integrationsintensität erheblich geringer. Letzteres gilt auch für die zahlreichen übrigen lateinamerikanischen Integrationsprojekte, ebenso wie für die asiatische ASEAN oder die afrikanische SADC bzw. ECOWAS.
Aufgrund der enormen globalen Bedeutung derartiger Prozesse setzen sich die unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen mit dem Thema Integration auseinander. Das Forschungsinteresse ist dabei ebenso vielseitig wie die Disziplinen selbst. Es liegt auf der Hand, dass z.B. die Wirtschaftswissenschaften bemüht sind, die ökonomischen Implikationen der Regionalisierungsprozesse zu untersuchen und auszuwerten, etwa um Handlungsempfehlungen an Politik und Unternehmen geben zu können. Aber auch innerhalb der Sozialwissenschaften beschäftigt sich nicht zuletzt die Politikwissenschaft mit dem Phänomen integrativer Entwicklungen. Hier wurde eine Reihe divergierender Theorien erarbeitet und diskutiert, deren Anspruch es war und ist, Integrationsprozesse zu erklären. Das ideale empirische Betätigungsfeld bot dabei in jüngerer Vergangenheit nahezu ausschließlich der europäische Einigungsprozess, dessen „idealtypischer“ Verlauf den Nährboden für die theoretische Entwicklung darstellte. Dies hatte zur Folge, dass anderen Integrationsprojekten relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde und dass diese vor allen Dingen in der Theorieentwicklung kaum Berücksichtigung fanden.
Inhaltsverzeichnis
- A. EINLEITUNG.
- B. THEORETISCHE GRUNDLAGEN FÜR DIE ANALYSE DES MERCOSUR
- 1. Der Neofunktionalismus.
- 1.1 Die ursprüngliche Formulierung des Neofunktionalismus bei Haas
- 1.2 Die Erweiterung der neofunktionalistischen Perspektive.
- 1.3 Weitere Differenzierung des Neofunktionalismus . .
- 1.3.1 Erste Korrekturen: Leon N. Lindberg und Ernst B. Haas .
- 1.3.2 Grundlegende Revisionen des Neofunktionalismus
- 1.3.2.1 Philippe Schmitter: Akteursstrategien und Entscheidungszyklen
- 1.3.2.2 Das Modell von Lindberg / Scheingold. . . .
- 1.3.2.3 Joseph S. Nye: Prozessmechanismen und Integrationsbedingungen
- 1.3.3 Resümee zu den neofunktionalistischen Differenzierungen
- 1.4 Die Renaissance des Neofunktionalismus . .
- 1.5 Zusammenfassung der neofunktionalistischen Theorie
- 2. Der Intergouvernementalismus...
- 2.1 Die Formulierung des Intergouvernementalismus bei Hoffmann
- 2.1.1 Die zentrale Rolle der Nationalstaaten
- 2.1.2 Hoffmanns Kritik am funktionalistischen Erklärungsmodell
- 2.1.3 Logic of Diversity als dynamisches Element ... .
- 2.1.4 Resümee zum Intergouvernementalismus bei Hoffmann..
- 2.2 Der liberale Intergouvernementalismus Moravcsiks . . .
- 2.2.1 Grundsätzliche Prämissen und Intergovernmental Institutionalism
- 2.2.2 Die Erweiterung des Ansatzes
- 2.2.3 Resümee zum Intergouvernementalismus bei Moravcsik.
- 2.3 Zusammenfassung der intergouvernementalistischen Theorie..
- C. THEORETISCHES ANALYSERASTER:
- 1. Wesentliche Erklärungsmuster des Neofunktionalismus. .
- 1.1 Technisch-funktionale Zusammenarbeit als Ursprung von Integration
- 1.2 Die Akteure des Integrationsprozesses im Sog funktionaler Sachzwänge
- 1.3 Gemeinschaftliche Institutionen und nationale Eliten als Integrationsgestalter..
- 1.4 Spill-over als dynamisches Element im Integrationsprozess.
- 2. Wesentliche Erklärungsmuster des Intergouvernementalismus
- 2.1 Institutionelle Strukturen: Zwischenstaatliche Verhandlungen statt Supranationalismus ...
- 2.2 Nationale Interessen, Macht und Souveränität als bestimmende Größen.
- 2.3 Die Nationalstaaten als entscheidende Akteure.
- 2.4 Integration als innenpolitisches Instrument . .
- 2.5 Inner- und zwischenstaatliche Verhandlungen als Erklärungsmodell
- 3. Zusammenfassende Darstellung des Analyserasters.
- D. NEOFUNKTIONALISTISCHE UND INTERGOUVERNEMENTALISTISCHE
- 1. Neofunktionalistische Elemente im Mercosur . .
- 1.1 Technisch-funktionale Zusammenarbeit als Ursprung von Integration?
- 1.2 Die Akteure des Integrationsprozesses im Sog funktionaler Sachzwänge
- 1.2.1 Der Globalisierungsprozess als Weichensteller
- 1.2.2 Transnationale Vernetzungen im Wirtschaftssektor
- 1.2.3 Sackgasse Importsubstitution . . .
- 1.2.4 Die Verschuldungskrisen der 1980er Jahren
- 1.2.5 Die brasilianische Finanzkrise von 1999 und ihre Folgen
- 1.2.6 Das Vertragswerk des Mercosur.
- 1.2.7 Resümee.
- 1.3 Gemeinschaftliche Institutionen und nationale Eliten als Integrationsgestalter.
- 1.3.1 Supranationale Institutionen als Katalysator im Integrationsprozess
- 1.3.1.1 Supranationale Strukturen im Mercosur..
- 1.3.1.2 Einfluss gemeinschaftlicher Institutionen auf den Integrationsprozess.
- 1.3.2 Nationale Eliten als relevante Akteure im Mercosur
- 1.3.2.1 Die Verbände im Mercosur-Prozess
- 1.3.2.2 Die Parteien im Mercosur-Prozess.
- 1.3.3 Resümee.
- 1.4 Spill-over als dynamisches Element im Mercosur-Prozess.
- 1.4.1 Spill-over auf institutioneller Ebene.
- 1.4.2 Bürgerintegration als potentieller spill-over
- 1.4.3 Gemeinsame Strukturpolitik als Folge von spill-over.
- 1.4.4 Weitere Beispiele möglicher spill-over..
- 1.4.5 Resümee...
- 1.5 Zusammenfassung der neofunktionalistischen Elemente im Mercosur
- 2. Intergouvernementalistische Elemente im Mercosur..\n
- 2.1 Institutionelle Strukturen des Mercosur: Zwischenstaatliche Verhandlung statt.\nSupranationalismus . .
- 2.2 Nationale Interessen, Macht und Souveränität als bestimmende Größen im\nMercosur-Prozess
- 2.2.1 Nationalstaatliche Interessen als ausschlaggebende Größe.
- 2.2.1.1 Integration als strategische Allianzbildung
- 2.2.1.2 Die Bedeutung von nationalen Interessen in bi- und multilateralen\nVerhandlungen . . . . .
- 2.2.1.3 Noch immer Rivalen: Brasilianisch-argentinische Handelskonflikte.
- 2.2.1.4 Der argentinisch-uruguayische „Zellulosekrieg“
- 2.2.2 Nationalstaatliche Macht als bestimmender Faktor..
- 2.2.2.1 Der Mercosur als machtpolitisches Instrument Brasiliens.
- 2.2.2.2 Verhandlungsmacht als Triebfeder der Integration. .
- 2.2.2.3 Die Bedeutung relativer Machtverhältnisse im Mercosur-Prozess
- 2.2.3 Souveränität als oberste Priorität.
- 2.2.3.1 Gemeinschaftsorgane und Souveränitätstransfer als kalkulierte\nHandlungen der Nationalstaaten
- 2.2.3.2 Brasilien als Verfechter nationalstaatlicher Souveränität.
- 2.2.4 Resümee.
- 2.3 Die Nationalstaaten als entscheidende Akteure im Mercosur.
- 2.3.1 Der Einfluss von gemeinschaftlichen Institutionen.
- 2.3.2 Die Nationalstaaten als entscheidende Gestalter
- 2.4 Der Mercosur als innenpolitisches Instrument
- 2.5 Inner- und zwischenstaatliche Verhandlungen als Erklärungsmodell\nfür die Entwicklung des Mercosur
- 2.6 Zusammenfassung der intergouvernementalistischen Elemente im Mercosur.\n
- 3. Ergebnisse der Untersuchung
- 3.1 Der Mercosur: Ergebnis funktionaler Sachzwänge?.\n
- 3.2 Der Mercosur: Spielball nationaler Regierungen?.\n
- 3.3 Fazit..
- Die Anfänge des Mercosur und die Rolle der Globalisierung
- Die Bedeutung von nationalen Interessen und Macht im Integrationsprozess
- Die Rolle supranationaler Institutionen und nationaler Eliten
- Die Dynamik des Spill-over im Mercosur-Prozess
- Der Mercosur als Ergebnis von funktionalen Sachzwängen oder als Spielball nationaler Regierungen
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Diplomarbeit befasst sich mit der Integration in Lateinamerika, genauer mit der Analyse des Mercosur-Prozesses. Ziel ist es, die Integration des Mercosur unter den Gesichtspunkten des Neofunktionalismus und des Intergouvernementalismus zu betrachten. Die Arbeit analysiert die Integration im Mercosur unter besonderer Berücksichtigung der neofunktionalistischen und intergouvernementalistischen Erklärungsansätze.
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in das Thema Integration in Lateinamerika ein und stellt den Mercosur als bedeutendstes Integrationsprojekt in der Region vor. Sie beleuchtet die Relevanz des Mercosur im globalen Kontext und hebt die Bedeutung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Integration hervor.
Das zweite Kapitel widmet sich den theoretischen Grundlagen des Neofunktionalismus und des Intergouvernementalismus. Der Neofunktionalismus wird in seiner ursprünglichen Formulierung bei Haas vorgestellt und seine Erweiterung sowie die verschiedenen Differenzierungen werden betrachtet. Anschließend wird der Intergouvernementalismus im Sinne Hoffmanns und Moravcsiks analysiert.
Kapitel C entwickelt ein theoretisches Analyseraster, das die wesentlichen Erklärungsmuster beider Theorien zusammenfasst und als Grundlage für die Analyse des Mercosur dient.
Kapitel D untersucht die neofunktionalistischen und intergouvernementalistischen Elemente im Mercosur-Prozess. Es wird zunächst die Frage nach der Rolle der technisch-funktionalen Zusammenarbeit als Ursprung von Integration im Mercosur betrachtet und die verschiedenen Akteure des Integrationsprozesses im Sog funktionaler Sachzwänge analysiert.
Der Abschnitt über die gemeinschaftlichen Institutionen und nationalen Eliten als Integrationsgestalter beleuchtet die Bedeutung supranationaler Institutionen im Mercosur und den Einfluss nationaler Eliten auf den Integrationsprozess. Anschließend wird das Konzept des Spill-over im Mercosur-Prozess untersucht.
Im zweiten Teil des Kapitels werden die intergouvernementalistischen Elemente im Mercosur-Prozess beleuchtet. Hierbei werden die Rolle nationaler Interessen, Macht und Souveränität sowie die Bedeutung nationaler Regierungen und inner- und zwischenstaatliche Verhandlungen als Erklärungsmodell für die Entwicklung des Mercosur analysiert.
Schlüsselwörter
Integration, Lateinamerika, Mercosur, Neofunktionalismus, Intergouvernementalismus, Globalisierung, Nationale Interessen, Macht, Souveränität, Supranationale Institutionen, Nationale Eliten, Spill-over, Gemeinsamer Markt des Südens, Mercado Común del Sur.
- Quote paper
- Anonym (Author), 2006, Integration in Lateinamerika. Neofunktionalistische und intergouvernementalistische Elemente im Mercosur, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/65990