Interessenverbände und ihr Einfluss auf die Gesundheitspolitik

Lobbyarbeit zum Wohle des Patienten?


Diploma Thesis, 2004

76 Pages, Grade: Sehr Gut


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die geschichtliche Entwicklung des Gesundheitswesens und die Entstehung der Verbände
2.1 Die Ursprünge des Verbandswesens zu Beginn des 20. Jahrhunderts
2.2 Das erste Krankenversicherungsgesetz
2.3 Der Leipziger Verband entsteht
2.4 Reichsversicherungsordnung
2.5 I. Weltkrieg und Restauration
2.6 Weimarer Republik und Weltwirtschaftskrise
2.7 Notverordnung
2.8 Wachsender Einfluss der Nationalsozialisten
2.9 Nationalsozialismus
2.10 Nachkriegsperiode
2.10.1 Wiederaufbau des Verbandswesens
2.10.2 Einheitsversicherung
2.11 Das Verbandswesen in der jungen Bundesrepublik Deutschland
2.12 Der Gesundheitsmarkt heute

3 Die Gesundheitspolitik
3.1 Definition
3.2 Ziele der Gesundheitspolitik

4 Schwachstellen im Gesundheitsmarkt
4.1 Nulltarifmentalität der Nachfrageseite
4.2 Macht der Anbieter
4.2.1 Krankenhäuser
4.2.2 Ärzte
4.2.3 Pharmaindustrie
4.3 Strukturprobleme
4.3.1 Selbstverwaltung
4.3.2 Finanzierung und Versorgung
4.3.3 Sektorale Trennung

5 Interessenverbände und Akteure in der Gesundheitspolitik
5.1 Öffentlich rechtliche Interessenvertretung
5.1.1 Krankenkassen
5.1.2 Die kassenärztlichen/kassenzahnärztlichen Vereinigungen
5.1.3 Die Kammern der Heilberufe
5.2 Freie Interessenverbände
5.2.1 Apothekerverbände
5.2.2 Ärzteverbände
5.2.3 Krankenhausverbände
5.2.4 Pharmaverbände
5.2.5 Arbeitnehmerverbände
5.2.6 Sozialverbände
5.2.7 Patientenverbände

6 Lobbyarbeit
6.1 Grundlegende Definition
6.2 Gesellschaftliche Rolle der Lobbyarbeit

7 Einflussnahme
7.1 Voraussetzungen für eine effektive Einflussnahme
7.1.1 Mitgliederstärke
7.1.2 Finanzkraft
7.1.3 Organisationsfähigkeit, Zerreißfestigkeit und Konfliktfähigkeit
7.1.4 Privilegierte Machtchancen
7.1.5 Exklusive Informationen
7.2 Methoden der Einflussnahme
7.2.1 Verhandlungen
7.2.2 Überzeugungsarbeit
7.2.3 Druckausübung
7.3 Zielgruppen der Interessenvertreter im gesundheitspolitischen Entscheidungsprozess
7.3.1 Parteien
7.3.2 Parlament
7.3.3 Ministerialbürokratie
7.3.4 Der Bundeskanzler
7.3.5 Öffentliche Meinung

8 Interessenverbände, Staat und Gemeinwohl
8.1 Ältere Verbändeforschung - Verbändepluralismus
8.2 Neuere Verbändeforschung – Korporatismus
8.3 Transparenzstrategie
8.4 Verbände und Gemeinwohl

9 Abschließende Betrachtung

II Abkürzungsverzeichnis

III Literaturverzeichnis

IV Anhang

1 Einleitung

"Wenn du dir die Macht im Staate sichern willst, dann fange damit im Gesundheitswesen an.“[1]

(Präsident der Bundesärztekammer (1978 bis 1999), Karsten Vilmar, sinngemäß nach Lenin)

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit den im Gesundheitssystem agierenden Interessenverbänden, dem Einfluss, den sie auf die Gesundheitspolitik ausüben, und der Fragestellung, inwiefern sich diese Lobbyarbeit auf das Patientenwohl auswirkt. Bei dem deutschen Gesundheitsmarkt handelt es sich um einen Markt, der durch ein enormes Wachstum geprägt ist. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung in der gesetzlichen Krankenversicherung freiwillig- oder pflichtversichert ist. Unsere Gesellschaft wird immer älter und ist deshalb in Zukunft vermehrt auf die Leistungen des Gesundheitswesens angewiesen. Des Weiteren stellt das Gesundheitssystem einen großen Arbeitsmarkt mit vielen Millionen Beschäftigten dar und ist eine „ewige Reformbaustelle“, die durch einige strukturelle Mängel gekennzeichnet ist. Dies alles sind Ansatzpunkte für mächtige organisierte Gruppen, die im Gesundheitswesen aktiv sind und versuchen ihre Interessen gegenüber dem System und der Politik durchzusetzen. Das Scheitern vieler notwendiger Reformen ist nicht allein auf die knappen finanziellen Mittel zurückzuführen, sondern auch auf die erfolgreichen Eingriffe bestimmter Interessenverbände. Bei der Lobbyarbeit spielt sich vieles im Verborgenen ab und wird deshalb von der Öffentlichkeit nicht immer wahrgenommen. Weil es kaum ersichtlich ist, ob es bei der Einflussnahme immer sozial gerecht zugeht, ist es mein besonderes Anliegen, dem geneigten Rezipienten evident zu machen, dass es sich hierbei um die Durchsetzung von Partikularinteressen handelt, die dem Patientenwohl abträglich sind. Viele Interessenverbände geben bei ihren Interventionen vor, das Gemeinwohl[2] zu vertreten, doch ob dieses wirklich immer im Vordergrund steht, soll hier eingehend analysiert werden. Dazu erachte ich es als notwendig, zuerst einmal die geschichtliche Entwicklung der sozialen Krankenversicherung und der maßgeblichen Verbände aufzuzeigen. Dies ist wichtig, damit der interessierte Leser die heutigen Probleme im Gesundheitswesen sowie die Struktur und Arbeitsweise der in der Gesundheitspolitik agierenden Interessenverbände besser nachvollziehen kann. Auf die Verbände in der ehemaligen DDR gehe ich nicht ein, da dies den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Danach erfolgt die Erläuterung, wie Gesundheitspolitik in Deutschland definiert wird, welche Zielsetzungen mit ihr verbunden sind und wie diese Ziele erreicht werden sollen. Die immanenten Probleme des Gesundheitsmarktes werden einer Betrachtung unterzogen, darunter die sektorale Trennung von ambulanter und stationärer Versorgung, die im Laufe der Geschichte immer wieder für Dissens zwischen niedergelassenen und angestellten Ärzten gesorgt hat. Aber auch die Probleme der Patienten und die Macht der Anbieter, insbesondere die der pharmazeutischen Industrie und die der Ärzte wird herausgearbeitet. Ein wichtiger Bestandteil der vorgelegten Arbeit ist die Definition der Gesundheitspolitik seitens der Akteure und Interessenverbände, wobei ich zwischen öffentlich rechtlichen und freien Interessenverbänden unterscheiden werde. Danach wird der Begriff Lobbyismus definiert und seine gesellschaftliche Rolle in der Öffentlichkeit dargelegt. Von wesentlicher Bedeutung sind die Voraussetzungen, die vorliegen müssen, damit die Interessenverbände wirkungsvoll Einfluss auf die Gesundheitspolitik nehmen können. Die Methoden, die bei der Durchsetzung von Interessen verwendet werden, sind ebenso elementar für diese Arbeit wie die Adressaten, die beeinflusst werden sollen, wobei ungesetzliche Praktiken, wie zum Beispiel Bestechung, kein Thema dieser Arbeit sind. Bei den Adressaten stellt u. a. die personelle Verflechtung zwischen Interessenvertretern und Politikern ein Problem dar. Außer Acht gelassen wird an dieser Stelle die Lobbyarbeit im Europäischen Parlament, die in Zukunft zwar immer wichtiger werden wird, aber ebenfalls den gesetzten Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Viele Autoren haben sich in der Vergangenheit mit der Gemeinwohlverträglichkeit der Verbände auseinandergesetzt und versucht adäquate Lösungen im gesellschaftlichen Umgang mit den Verbänden zu finden. Zu nennen sind zum Beispiel die Pluralismusdebatte, die Korporatismusdebatte und die Transparenzstrategie, die von mir auch erörtert werden. Nachdem dies alles dargelegt wurde, wird untersucht, wie sich der Einfluss bestimmter Interessengruppen und deren Lobbyarbeit auf das Patientenwohl auswirken und wie er sich im Laufe der Geschichte verändert hat.

2 Die geschichtliche Entwicklung des Gesundheitswesens und die Entstehung der Verbände

2.1 Die Ursprünge des Verbandswesens zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Die Anfänge des Verbandswesens reichen bis in das Mittelalter zurück. Man denke dabei an das Zunftwesen im Handwerk[3] und an die Organisationen der Mediziner, die sich in Gilden und Collegia Medica zusammenschlossen; die Collegia Medica sind als Vorgänger der Ärztekammern zu betrachten.[4] Interessenverbände wie wir sie kennen, entwickelten sich jedoch erst mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. In der Vergangenheit haben bestimmte Systeme keine freie Verbandsbildung zugelassen, somit hing die Gründung der heutigen Verbände eng mit dem Übergang zu einer pluralistischen Demokratie und der Auflösung des Ständesystems zusammen. Den Anfang machten die Gewerkschaften im Jahr 1848. Dies ging einher mit der immer weiter fortschreitenden Industrialisierung und der revolutionären Entwicklung dieser Jahre.[5] Darauf folgten die ersten von den Landesregierungen eingesetzten Ärztekammern ab dem Jahr 1865. Die damalige Zielsetzung war unter anderem, die eigenen Interessen dem Staat gegenüber zu vertreten. Acht Jahre später folgte dann mit dem Deutschen Ärztevereinsbund die erste freiwillige Organisation der Mediziner mit der Absicht, eine stärkere Vertretung ihrer Interessen zu schaffen.[6] Der „Centralverband deutscher Industrieller“ wurde als erster Spitzenverband der Industrie zur Beeinflussung der wirtschaftlichen Gesetzgebung im Jahr 1876 gegründet.[7]

2.2 Das erste Krankenversicherungsgesetz

Am 15. Juni 1883 wurde das „Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter“ vom Reichstag verabschiedet. Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) war geboren und mit ihr die einheitliche Versicherungspflicht für bestimmte Personengruppen. Die Versicherungspflicht betraf Arbeiter, die gegen Lohn in bestimmten Betrieben des Handwerks, der Gewerbe und der Industrie beschäftigt waren. Unter diese Betriebe fielen u. a. Bergwerke, Fabriken, Eisenbahnbetriebe und Werften. Der Staat ließ die Möglichkeit offen, sich von der Mitgliedschaft zu befreien, wenn man vorher bereits einer Hilfskasse[8] angehörte. Dadurch entstanden die Ersatzkassen, da diese die gesetzlichen Krankenkassen „ersetzen“ konnten.[9] Im Jahre 1885 gehörten bereits 20% aller Versicherungspflichtigen einer Hilfskasse an. Der Staat versuchte diese Kassenart immer wieder zu schwächen, weil sie weitgehend von Gewerkschaftsmitgliedern und Sozialdemokraten besetzt waren. Die Mitglieder der Hilfskassen sollten in die GKV wechseln.[10]

Die sozialpolitische Intention des Gesetzgebers zur Einführung der GKV bestand darin, dass der von diesem Gesetz erfasste, hilfsbedürftige Personenkreis im Krankheitsfall durch Krankengeld vor Armut geschützt und die ärztliche Versorgung sichergestellt werden sollte. Der Mensch als Produktionsfaktor wurde angesichts der zunehmenden Industrialisierung immer kostbarer.[11] Allerdings kamen zwei Jahre später nur ca. 10 Prozent der Bevölkerung durch die gesetzliche Versicherung in den Genuss dieser Leistungen[12], da die Ärzteschaft und die geringe Anzahl zahlungsfähiger Patienten ihre Privilegien verteidigten.[13]

Hiermit begannen die massiven Konflikte zwischen den Interessenvertretungen der Ärzte und den Krankenkassen, da sich nun der „zahlende Dritte“ zwischen Arzt und Patient drängte und die Arzt – Patient – Beziehung kontrollierte; sei es bei der Honorierung, der Arztwahl oder der Behandlungsweise. Die Ärzte sahen dadurch ihren Status quo gefährdet.[14]

Mit der Umgestaltung des Krankenversicherungsgesetzes im April 1892 wurden die Kassen dazu ermächtigt, festlegen zu können, dass die ärztliche Behandlung ihrer Versicherten nur durch bestimmte Ärzte sicherzustellen sei. Sie konnten somit Ärzte als Angestellte einstellen oder mit freiberuflichen Ärzten Verträge abschließen, die Kassenzulassung der Ärzte war damit geschaffen. Im Jahr 1894 steigerte sich die Macht der Kassen gegenüber den Ärzten durch die Gründung des „Zentralverbandes der Ortskrankenkassen“. Und mit der fortwährenden Erweiterung der Versicherungspflicht betrug die Zahl der Versicherten im Jahr 1895 schon 16,5% der Bevölkerung.[15]

2.3 Der Leipziger Verband entsteht

Als Reaktion der Ärzte bildeten sich in der Folgezeit viele wirtschaftliche Interessenverbände[16], die sich im Jahr 1900 aufgrund der Aufforderung des Leipziger Arztes Hermann Hartmann zum „Verband der Ärzte Deutschlands zur Wahrung ihrer wirtschaftlichen Interessen“ zusammenschlossen; in der Kurzform wurde er allgemein „Leipziger Verband“ genannt.[17]

Der Leipziger Verband verstand sich als wirtschaftliche Interessenvertretung der freien Ärzte und versuchte die Interessen seiner Mitglieder mit immer rigoroseren Maßnahmen durchzusetzen.[18] Damit war ein Kampfverband nach dem Vorbild britischer Gewerkschaften entstanden. Hartmanns Ziele und die Methoden, mit denen er diese durchsetzen wollte, wurden von ihm in einem offenen Brief im Ärztlichen Vereinsblatt vom 25. Juli 1900 klargestellt. In diesem Brief schreibt er über das mangelnde Verständnis der Behörden für die Angelegenheiten der Ärzte, die schlechte Bezahlung und die unangemessene Behandlung seitens der Kassenvorstände. Um diese Missstände zu beseitigen ruft er die Ärzte auf, eine Organisation, in die kein Staat hineinreden könne, und eine „Strike“ – Kasse zu gründen, wobei man hier sogar in der Schreibweise den britischen Einfluss erkennen kann. Des Weiteren schreibt er: „Bis jetzt haben wir Ärzte bei unseren Kämpfen nur immer auf die Standeswürde und Standesehre gepocht – ich sage Ihnen, Geld, Geld ist die Hauptsache. Verlangen wir für unsere schwere und aufreibende, entsagungsvolle Arbeit eine anständige Entlohnung, fort mit den Dienstmanntaxen, dann wird die Standeswürde und Standesehre am besten gewahrt. Deshalb rufe ich aus: Ärzte ganz Deutschlands, organisiert euch!“[19]

In der Hoffnung, die Streitigkeiten zwischen Ärzten und Kken zu relativieren, intendierte der Gesetzgeber eine Regelung zu treffen, die das ermöglichen würde. Alle Hoffnungen ruhten somit auf der Reichsversicherungsordnung (RVO), die ursprünglich im Jahre 1911 verabschiedet werden sollte.[20]

2.4 Reichsversicherungsordnung

Im Jahr 1911 wurde der Entwurf der RVO erstellt, was zu erheblichen Protestaktionen seitens der Interessenvertretungen der Ärzte führte, da die RVO die Stellung der Mediziner angeblich schwächte. Die Versicherungspflichtgrenze sollte ansteigen, womit die Anzahl der Versicherten auf ca. 30 Prozent angestiegen wäre. Dadurch wäre das Geschäft mit den Privatpatienten weiter geschrumpft. Die RVO, die außerdem das Kassenarztrecht neu regelte, sollte am 01.01.1914 in Kraft treten, was allerdings in der geplanten Form nicht geschah, da die Ärzte auf einem außerordentlichen Ärztetag am 26.10.1913 in Berlin einen unbefristeten, absoluten Ärztestreik beschlossen.[21] Der Streik hatte zum Ziel, Einfluss auf das Kassenarztrecht auszuüben. Die niedergelassenen Ärzte kündigten zu diesem Zweck ihre Zulassung zum 1. Januar 1914 und die Krankenhausärzte solidarisierten sich in großer Zahl mit ihnen. Aufgrund dessen kam es am 23. Dezember 1913 unter Vermittlung der Regierung zum Abschluss eines Zusatzvertrages zur RVO, dem so genannten Berliner Abkommen. Die Kassen durften nun nicht mehr allein bestimmen, welche Ärzte sie zur Versorgung ihrer Versicherten einsetzen wollten; die Verbände der Kassenärzte hatten nun ein gleichberechtigtes Mitwirkungsrecht. Zusätzlich wurde ein festes Verhältnis von Arzt zu Versicherten von 1:1.350 eingeführt. Damit hatten die ärztlichen Interessenverbände mit staatlicher Hilfe, ein erstes durchschlagendes Ergebnis im Kampf gegen die Kassen errungen.[22]

Das Berliner Abkommen war allerdings auf zehn Jahre terminiert. Da die Vergütung der ärztlichen Leistungen nicht in dem Abkommen durch die Sozialpartner geregelt war, kam es immer wieder zu Dissensen zwischen den Verbänden und den Kassen.[23]

2.5 I. Weltkrieg und Restauration

Triesch und Ockenfels zufolge führte der I. Weltkrieg[24] zu einer Stärkung der Verbände, bedingt durch die Erfordernisse der Kriegswirtschaft, da zu deren Sicherung die Gewerkschaften offiziell anerkannt wurden und in den Fabriken Komitees der Arbeiter und Angestellten aufkamen. Unter den damaligen Gesamtverhältnissen näherten sich auch Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen einander an.[25] Auch zwischen den Beteiligten des Gesundheitswesens herrschte in dieser Zeit relative Ruhe, da Kriegsgeschehen das ganze öffentliche Leben bestimmte und viele Ärzte an die Front beordert wurden. Durch die schon während des I. Weltkrieges einsetzende Inflation, ausgelöst durch die gewaltigen Kriegskosten, wurden die Krankenkassen an den Rand des Ruins getrieben. Auch die Volksgesundheit hatte sich aufgrund des Krieges erheblich verschlechtert; man denke dabei an kriegsbedingte Krankheiten wie Tuberkulose und Syphilis.[26]

Aus diesen Verhältnissen heraus planten Gewerkschaften und Sozialdemokratie die Umwandlung der GKV in eine staatliche Volksversorgung, wodurch sich die Beziehungen zwischen den Akteuren wieder verschlechterten.[27]

Nach dem Krieg setzte eine Ärzteschwemme ein, weil viele von den Schlachtfeldern zurückkamen, darunter zahlreiche Mediziner, die während des Krieges eine verkürzte Ausbildung erhielten. Hinzu kamen die Ärzte, die aus den einstigen deutschen Gebieten umgesiedelt wurden und somit die Lage weiter anspannten. Die Ärzteschaft geriet dadurch zunehmend unter Konkurrenzdruck. Viele der neu Hinzugekommenen erhielten keine Kassenzulassung und gerieten deshalb in Existenznot, da der pflichtversicherte Personenkreis immer weiter anstieg.[28]

2.6 Weimarer Republik und Weltwirtschaftskrise

Am 6. Februar 1919 trat die Nationalversammlung in Weimar zusammen und gab dem deutschen Volk die erste demokratische Verfassung: die Weimarer Republik entstand.[29] Der Reichstag wurde als parlamentarische Körperschaft anerkannt und damit auch Ansprechpartner der Interessenverbände. Gewerkschaften und Arbeitgeber bildeten den Reichswirtschaftsrat, der an der wirtschafts- und sozialpolitischen Willensbildung mitwirken und die Interessen der Berufsverbände und Arbeitnehmer mit einbringen sollte.[30]

Die veränderte Lage ermutigte die Ärzte unter Führung des Leipziger Verbandes im Jahre 1920 eine Honorarerhöhung von 50 Prozent zu fordern. Damit war eine neue Auseinandersetzung entstanden: Die Ärzte kündigten Streiks und die Auflösung des Berliner Vertrages an. Der Staat musste erneut schlichtend eingreifen.[31]

Die Auseinandersetzungen hielten auch danach weiter an. „Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten die Kämpfe 1923, als das Berliner Abkommen auslief, die Kassen (...) zusammenzubrechen drohten, und den Ärzten auf dem Verordnungsweg auferlegt wurde, die wirtschaftlichen Verhältnisse der Krankenkassen zu berücksichtigen. Es kam zu einem „Generalstreik“[32] der Ärzte, der von November 1923 bis Januar 1924 dauerte und die Kassen schließlich veranlasste (...) Ambulatorien einzurichten“.[33]

Die besagten Ambulatorien, in denen die Patienten von angestellten Ärzten ambulant versorgt wurden, waren direkt den Kassen angegliedert. Die Mediziner sahen darin eine Bedrohung ihrer Berufsfreiheit, da die Ambulatorien eine Alternative zum Kassenarztsystem darstellten.[34]

In den nächsten Jahren ging es mit der Wirtschaft wieder bergauf, da aufgrund der Einführung einer neuen Währung und drastischer Sparmaßnahmen 1924 die Wende gelang. Die nachfolgenden ruhigen Jahre wurden jäh durch den „Schwarzen Freitag“ beendet. Mit den tragischen Kurseinbrüchen an der New Yorker Börse am 25. Oktober 1929 wurde die Weltwirtschaftskrise eingeleitet. Die Folgen waren Massenarbeitslosigkeit, Verknappung des Geldes, der Wirtschaftsaufschwung wurde unterbrochen und die allgemeine Sympathie mit radikalen Parteien nahm zu.[35]

2.7 Notverordnung

Die schon genannten Sparmaßnahmen richteten sich überwiegend auf die Verminderung sozialer Leistungen, wie von den Unternehmerverbänden gefordert wurde. Die dadurch entstandenen Konflikte zwischen Ärzten und Kassen konnten nur durch einige Notverordnungen, welche in den Jahren von 1930 bis 1932 erlassen wurden, geschlichtet werden. Ziel dieser Sparmaßnahmen war es, die Lohnnebenkosten zu senken. Dies schlug sich bei den Versicherten in einer Verringerung des Krankengeldes, der Einführung einer Krankenscheingebühr sowie einer Selbstbeteiligung an Arzneimitteln nieder. Einhergehend gewann der Reichsausschuss für die Interessenverbände der Ärzte und der Krankenkassen zunehmend an Bedeutung. Der Kampf zwischen Kassen und Ärzten zeigte sich besonders deutlich in der Verordnung vom 8. Dezember 1931. Die Notverordnung beinhaltete die Einführung der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) als Körperschaften des öffentlichen Rechts. Bezeichnend hierbei ist, dass der jeweilige Vorstand des Hartmannbundes - der Leipziger Verband wurde nach dem Tod des Gründers, 1924, in Hartmannbund umbenannt[36] -, der örtlichen KV vorstand. Des Weiteren wurde eine Pauschalvergütung für die Ärzte vereinbart, die von den Kken an die KVen zu entrichten war, wobei diese die Sicherstellung einer wirtschaftlichen Behandlung zusicherten. Das Arzt-Patienten Verhältnis wurde auf 1:600 vereinbart und die Zulassung der Ärzte regelten nun überwiegend die KVen.[37] Vor dem oben genannten Hintergrund stimmte der Hartmannbund der Notverordnung zu, da die Absenkung der Verhältniszahl gleichzeitig die Kassenzulassung vieler junger Ärzte bedeutete und mit der Einführung der Einzelleistungsvergütung sogar eine grundlegende Forderung des Hartmannbundes durchgesetzt wurde. Durch die Vorverhandlungen zur Notverordnung war eine neue Austauschbeziehung entstanden.[38]

Diese neue Form des Umgangs miteinander darf aber nicht darüber hinweg täuschen, dass die Rivalität zwischen Kassen und der Medizinerschaft auch weiterhin bestand.

2.8 Wachsender Einfluss der Nationalsozialisten

Die schwelende Angst der freien Ärzte vor einer Proletarisierung bestand weiterhin. Deshalb begrüßten die meisten Ärzte die ansteigende Agitation der Faschisten gegen die Kassen.[39] Das Resultat dieser Hetze gegen die Kassen war eine „zunehmende Faschisierung des Ärztestandes“, bedauerte Rauskolb und stellt weiterhin fest, dass die „(...) Tatsache, daß ein Berufsstand mit einem im besonderen Sinne humanen Berufsinhalt die Ziele des Faschismus, die im schärfsten Gegensatz zu den internalisierten ethischen Vorstellungen und Normen standen, akzeptiere, war nicht nur auf allgemeine gesellschaftliche Gründe zurückzuführen.“[40] Hinzu kamen die Diskussionen über eine medizinische Lösung gesellschaftlicher Probleme und die zunehmende Verbreitung sozialdarwinistischer Vorstellungen welche mit der „Entsorgung lebensunwerten Lebens“ endeten.[41] Aber nicht nur für die Ärzteverbände, sondern auch für die Sozialversicherung brachen mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933[42] harte Zeiten an.

2.9 Nationalsozialismus

Die Gleichschaltung der Verbände war das erklärte Ziel der Nationalsozialisten, das sie kurz nach der Machtergreifung in die Tat umsetzten. Die Partei befahl und der Staat folgte. In diesem totalitären Staat waren freie Interessenverbände ebenso wenig gefragt wie sich selbst verwaltende Körperschaften des öffentlichen Rechts. Die Nationalsozialisten erreichten dies durch Austausch der Vorstände[43], wie dies bereits im März 1933 bei den Krankenkassen geschah; hier wurden staatliche Kommissare eingesetzt. Die Spitzenverbände der Kassen wurden im selben Monat der Aufsicht des Reichsarbeitsministers unterstellt und bei den Ortskrankenkassen wurden viele Angestellte wegen ihrer politischen Gesinnung – meist Sozialdemokraten und Gewerkschafter - „durch alte Kämpfer ersetzt.“[44]

Eine andere Vorgehensweise war die Zerschlagung und Überführung der Verbände in linientreue Organisationen. So wurden die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in die „Deutsche Arbeitsfront“ eingegliedert und die Wirtschaftsverbände teilweise in Gau-Wirtschaftskammern zusammengeschlossen.[45]

Einzig die Ärzteverbände wurden nicht durch Zwang gleichgeschaltet. Sie „schalteten sich (...) freiwillig gleich“[46], hebt Deppe hervor. Weiterhin führt er aus: „Die Gleichschaltung fand in Verhandlungen zwischen den beiden ärztlichen Spitzenorganisationen, dem „Deutschen Ärztevereinsbund“ und dem „Hartmannbund“ einerseits sowie dem „Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund“ andererseits, vom 21. - 24. März 1933 statt.“[47]. Diese freiwillige Gleichschaltung hatte laut Deppe mehrere Gründe: So nennt er zum Beispiel die „Schwächung der Kassenmacht“, an der speziell der Hartmannbund Interesse gehabt haben soll und die „Entjudung der Ärzteschaft“, die schon Gegenstand der Gleichschaltungsvereinbarung war. Allerdings wurden sowohl der „Hartmannbund“ als auch der „Deutsche Ärztevereinsbund“ aufgelöst und gingen in die neu geschaffene „Reichsärztekammer“ über.[48]

Es muss aber auch erwähnt werden, dass sich nicht alle Ärzte dem nationalsozialistischen System beugten; es gab auch Ärztinnen und Ärzte, die Widerstand leisteten. Es waren zwar nur Wenige, die als Mitglieder von Untergrundorganisationen agierten oder Verfolgten Hilfe leisteten, aber jeder Widerstand war zu dieser Zeit mit einer massiven Gefährdung des eigenen Lebens bedroht und erforderten Mut und Entschlossenheit.[49]

In der Zeit des Nationalsozialismus existierte somit kein freies Verbandswesen mehr. Dies sollte sich erst nach der bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai 1945[50] ändern.

2.10 Nachkriegsperiode

2.10.1 Wiederaufbau des Verbandswesens

Anknüpfend an das Weimarer Verbandswesen begann direkt nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ der Wiederaufbau des Interessensystems in Deutschland.[51]

Nach der bedingungslosen Kapitulation waren die finanziellen Mittel der GKV nicht mehr vorhanden, da ca. 90 % der in Staatsanleihen angelegten Rücklagen nach Ende des nationalsozialistischen Systems wertlos waren. Hinzu kamen, wie nach dem I. Weltkrieg, die Seuchengefahr und eine aufgrund der Kriegsfolgen verstärkten Inanspruchnahme der medizinischen Versorgung. Es stand der völlige Neuaufbau des gesamten Verbandswesens bevor.[52] Der erste Schritt dazu war die Entnazifizierung der Verbände.[53] Danach stellten die Kassen ihre zuvor zerschlagenen Strukturen wieder her.[54]

Bereits im Sommer 1945 wurden von den vier Besatzungsmächten[55] die ersten Parteien zugelassen. Den Anfang machten die Parteien, die schon im Dritten Reich Widerstand geleistet hatten: die KPD und die SPD. Hinzu kamen die FDP und CDU/CSU.[56] Es folgte der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) als Einheitsgewerkschaft und auf Arbeitgeberseite der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Diese Parteien und Verbände sind auch heute noch existent.[57]

Da die Alliierte Kontrollbehörde die Reichsärztekammer und die Kassenärztliche Vereinigung als „nazistische Organisationen“ zerschlagen hatte, mussten auch die Ärzte mit einem Neuaufbau ihrer Interessenvertretungen beginnen.[58] Es bildeten sich schnell neue und alte Verbände auf örtlicher Ebene. Auf Länderebene formierten sich die Ärztekammern auf freiwilliger Basis neu. Die erste Landesärztekammer als Körperschaft des öffentlichen Rechts wurde 1946 in Bayern gegründet und 1947 arbeiteten schließlich die Landesärztekammern in der „Arbeitsgemeinschaft der westdeutschen Ärztekammern“ zusammen. Diese Arbeitsgemeinschaft bildet den Grundstock der Bundesärztekammer.[59]

2.10.2 Einheitsversicherung

Anfang 1946 waren sich die vier Besatzungsmächte noch einig, eine Einheitsversicherung auf Länderebene einzuführen, die an die Vorstellungen der Sozialdemokraten und Gewerkschaften der Weimarer Republik anknüpfen sollte. In dieser Volksversicherung sollten alle Arbeiter und Angestellten pflichtversichert werden. Weiterhin war es beabsichtigt, die verschiedenen Versicherungszweige zusammenzulegen und einheitliche Landesversicherungsanstalten mit regionalen Zweigstellen zu gründen.[60]

Der Gesetzesentwurf scheiterte wie schon 1919 am Widerstand der Ärzte, der privaten Versicherungswirtschaft und der Arbeitgeber. Die Motivation der Ärzte am hergebrachten System festzuhalten, lag darin begründet, dass es mit der Einführung einer Versicherungspflicht für die gesamte Bevölkerung keine Privatpatienten mehr geben würde. Außerdem kam ihnen der Kassenpluralismus entgegen, da sich ihre Interessen besser einer Vielzahl von Kassen, als nur einem Versicherungsträger gegenüber durchsetzen ließen. Da Gewerkschaften und SPD dafür eintraten, die Versicherten mit niedrigeren Beiträgen zu entlasten, stellten sich auch die Arbeitgeberverbände gegen diesen Gesetzesentwurf, weil sie die Mindereinnahmen tragen sollten. Unterstützt wurden Arbeitgeber und Ärzte von den konservativen und liberalen Parteien, die im Jahr 1949 die erste deutsche Regierung stellten. Die Regierungskoalition bestand aus CDU/CSU, FDP und DP. In den Koalitionsverhandlungen wurde beschlossen, am alten System der Weimarer Republik festzuhalten; die politische Entscheidung war gegen die Einheitsversicherung gefallen.[61] Wie Rosewitz und Webber betonen, war zum wiederholten Mal „eine politische Entscheidung zugunsten der niedergelassenen Ärzteschaft ausgefallen.“[62]

In den Jahren 1948/49 bauten auch die Ärzte ihre freien Standesorganisationen wieder auf. Es entstand der Marburger Bund als Interessenverband der Krankenhausärzte[63] und als Verband der niedergelassenen Ärzte der Hartmannbund.[64] Mit Gründung dieser Interessenverbände hatten sich die Ärzte erneut Instrumentarien geschaffen, die sie in die Lage versetzten, ihre Interessen in den fünfziger Jahren erfolgreich vertreten zu können.[65]

2.11 Das Verbandswesen in der jungen Bundesrepublik Deutschland

Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz (GG) für die Bundesrepublik Deutschland verkündet und fast zeitgleich, am 7.Oktober 1949, die Deutsche Demokratische Republik ausgerufen.[66]

Nun wurde auch die Selbstverwaltung der GKV durch das 1951 in Kraft getretene Selbstverwaltungsgesetz neu geregelt. Das historisch gewachsene Vertreterverhältnis von zwei Dritteln Versicherter zu einem Drittel Arbeitgeber wurde von der Regierungsmehrheit der Parteien CDU/CSU und FDP gegen die Oppositionsstimmen von SPD und KPD in ein paritätisches Verhältnis geändert. Dadurch wurde die Selbstverwaltung der GKV stärker entpolitisiert und die Arbeitgeber konnten ihren Einfluss weiter auf Kosten der Arbeitnehmer vergrößern.[67] Die Selbstverwaltung des Ärzteberufes regelte das ab 19.August 1955 verabschiedete Gesetz über das Kassenarztrecht. Die KVen der Bundesländer traten an die Stelle der Reichs–KVen und auf Bundesebene wurden diese von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) vertreten. Diese Körperschaften des öffentlichen Rechts und die Bundesverbände der Kken sollten von nun an zur Sicherstellung der ärztlichen Versorgung der Versicherten wieder zusammenarbeiten.[68]

Durch das neue Kassenarztrecht „hatte die Ärzteschaft (...) das Angebotsmonopol für die ambulante ärztliche Versorgung sowie dessen wirtschaftliche Kontrolle wieder fest in eigener Hand“[69], hebt Deppe hervor.

Damit waren die Grundstrukturen des Gesundheitswesens, die wir auch heute noch vorfinden, geschaffen.

2.12 Der Gesundheitsmarkt heute

Heutzutage ist der Gesundheitsmarkt in Deutschland nicht nur ein bedeutender Wirtschaftsfaktor, sondern auch eine Wachstumsbranche und ein dynamischer Arbeitsmarkt. Die Ausgaben für Gesundheit betrugen im Jahr 1992 umgerechnet 163,2 Mrd. Euro. Dies machte, gemessen am Bruttosozialprodukt, 10,1 Prozent in dem genannten Jahr aus. Bis zum Jahr 2002 stiegen die Ausgaben um 71 Mrd. Euro auf 11,1 Prozent[70] des BIP[71]. Hieran ist die gesetzliche Krankenversicherung mit knapp 57 Prozent[72] beteiligt. Gab im Jahr 1992 jeder Einwohner durchschnittlich noch umgerechnet 2.020 Euro für seine Gesundheit aus, so steigerten sich die pro Kopf Ausgaben bis zum Jahr 2002 um mehr als 40 Prozent, auf 2.840 Euro[73].

Des Weiteren ist fast jeder neunte Beschäftigte im Gesundheitswesen tätig. Damit ist dieser Markt mit 4,175 Millionen Bediensteten, einer der größten Arbeitgeber in Deutschland.[74] Die Pharmaindustrie erwirtschaftete im Jahr 2002 einen Transferüberschuss von 7,4 Mrd. Euro. In der Medizinproduktindustrie werden mit über 100.000 Mitarbeitern jedes Jahr Werte von ca. 14 Mrd. Euro geschaffen. Außerdem wird die gesamtwirtschaftliche Bedeutung aufgrund der demografischen Entwicklung weiter steigen, da immer mehr ältere Menschen medizinische und pflegerische Leistungen in Anspruch nehmen werden.[75]

3 Die Gesundheitspolitik

3.1 Definition

Unter dem Begriff Gesundheitspolitik sind alle gesetzgeberischen Maßnahmen, verbandlichen Aktivitäten und staatlichen Einrichtungen zusammengefasst, die dazu beitragen, die Volksgesundheit zu erhalten und zu verbessern. Die wichtigsten Akteure der Gesundheitspolitik sind die politischen Parteien und insbesondere die Bundesregierung, die Krankenkassen und ihre Verbände, die Ärzte- und Apothekerverbände, die Verbände der Krankenhausträger und die der pharmazeutischen Industrie.[76]

Aus dieser grundlegenden Definition des Begriffs der Gesundheitspolitik kann man schon entnehmen, welche Position der eigentlich Betroffene – der Patient bzw. der Versicherte – in der gesundheitspolitischen Willensbildung einnimmt. Der Patient ist das schwächste Glied in diesem Prozess. Warum das so ist, wird noch eingehend erörtert.[77]

3.2 Ziele der Gesundheitspolitik

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) legte 1986 erstmals eine einheitliche Definition des Gesundheitsbegriffs fest. Die Gesundheit sei nicht nur „der Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“ sondern auch „das Freisein von Krankheiten und Gebrechen.“ Außerdem gehöre es zu den Menschenrechten einen bestmöglichen Gesundheitszustand zu erlangen, ungeachtet „der Rasse, der Religion, des politischen Bekenntnisses, der wirtschaftlichen oder sozialen Stellung.“[78]

Aus dieser Definition lassen sich nicht nur die Vermeidung und Behandlung von Krankheit sowie die Verhinderung eines frühen Todes, sondern auch ein umfassendes Wohlbefinden der gesamten Bevölkerung als gesundheitspolitisches Ziel ableiten. Nach dieser sehr weit gefassten, wenn auch wünschenswerten Auslegung des Gesundheitsbegriffes ist so gut wie jeder Mensch als krank zu bezeichnen; jedes Gesundheitssystem dieser Welt wäre überfordert, dieser Auslegung gerecht zu werden. Daher müssen andere Definitionen gefunden werden.

In einem Gutachten, welches an die hohen Standards der WHO anknüpft, das 1995 der damalige Gesundheitsminister Horst Seehofer beim Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen in Auftrag gab, wurden die gesundheitspolitischen Ziele in einem „Mehr-Ebenen-System“ wie folgt festgelegt:

1. Auf der individuellen Ebene werden folgende Ziele vorgegeben:

Wiederherstellung der körperlichen und psychischen Funktionstüchtigkeit sowie Verhütung, Heilung und Linderung von Krankheit, die Vermeidung des Todes, die Gewährleistung der Verfügbarkeit von Leistungen, die Wahrung der menschlichen Würde und die Stärkung der gesundheitlichen Kompetenz kranker und gesunder Menschen.

2. Ziele der Nebenbedingungsebene sind:

Ausrichtung der Versorgung an den Präferenzen der Bürger, Erhaltung der persönlichen Freiheit, einzelwirtschaftliche Effizienz und Wahrung der Solidarität.

3. Als Ziele der Vorrangebene sind u. a. die Erfüllung der Versorgungsbedürfnisse einzelner Bevölkerungsgruppen zu nennen, in erster Linie betrifft dies chronisch Kranke.[79]

Allerdings bleibt auch die Umschreibung dieser Gesundheitsziele vage und ist nur als ordnender Rahmen für die Politik zu sehen. Auch wird in diesem Gutachten kein System genannt, durch welches diese Ziele zu verwirklichen wären.

[...]


[1] Entnommen aus: Jantzer, M. „Komplizen in der Politik“ Wiesbaden 2003, S. 131

[2] Anm. d. Autors: Da die Mehrheit der Deutschen gesetzlich krankenversichert ist, wird der Begriff „Patientenwohl“ im Folgenden mit dem „Gemeinwohl“ gleichgesetzt.

[3] Vgl.: Triesch, G / Ockenfels W „Interessenverbände in Deutschland“ München 1995, S. 37 f

[4] Vgl.: Rauskolb, C. „Lobby in Weiß“ Frankfurt / Köln 1976, S. 106

[5] Vgl.: Triesch, G. / Ockenfels, W. „Interessenverbände in Deutschland“ München 1995, S. 37 f

[6] Vgl.: Rauskolb, C. „Lobby in Weiß“ Frankfurt / Köln 1976, S. 106 f

[7] Vgl.: Triesch, G. / Ockenfels, W. „Interessenverbände in Deutschland“ München 1995, S. 40

[8] Am 9.2.1849 wurde den Berufsverbänden gestattet - neben den Gesellen- und Gemeindekassen mit Versicherungspflicht -, eigene „freie“ Hilfskassen zu gründen; Vgl.: Deppe., Frankfurt am Main 1987, S.12

[9] Vgl.: Deppe, H.-U. „Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar“ Frankfurt am Main 1987, S.14

[10] Vgl.: Rosewitz, B. / Webber, D. „Reformversuche (...)“ Frankfurt am Main1990, S. 16 f

[11] Vgl.: Rauskolb, C. „Lobby in Weiß“ Frankfurt / Köln 1976, S. 95

[12] Vgl.: Deppe, H.-U. „Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar“ Frankfurt am Main 1987, S.14

[13] Vgl.: Rauskolb, C. „Lobby in Weiß“ Frankfurt / Köln 1976, S. 95

[14] Vgl.: ebd., S. 109

[15] Vgl.: Deppe, H.-U. „Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar“ Frankfurt am Main 1987, S.18ff

[16] Vgl.: Deppe, H.-U. „Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar“ Frankfurt am Main 1987, S.18 ff

[17] Vgl., o. V.: Hartmannbund „Geschichte“ Bonn 2003 S. 1

[18] Vgl.: Rosewitz, B. / Webber, D. „Reformversuche (...)“ Frankfurt am Main / New York 1990, S. 16

[19] Entnommen aus: Groser, M. „Gemeinwohl und Ärzteinteressen“, S. 56; Ursprünglich nach Schadewald, 75 Jahre Hartmannbund. Ein Kapitel Deutscher Sozialpolitik., Bonn 1975, S. 32

[20] Vgl.: Rosewitz, B. / Webber, D. „Reformversuche (...)“ Frankfurt am Main / New York 1990, S. 17

[21] Vgl.: Rauskolb, C. „Lobby in Weiß“ Frankfurt / Köln 1976, S. 122

[22] Vgl.: Deppe, H.-U. „Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar“ Frankfurt am Main 1987, S. 21

[23] Vgl.: Rauskolb, C. „Lobby in Weiß“ Frankfurt / Köln 1976, S. 123

[24] Dauer: 1914 bis 1918

[25] Vgl.: Triesch, G. / Ockenfels, W. „Interessenverbände in Deutschland “ München 1995, S. 41

[26] Vgl.: Deppe, H.-U. „Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar“ Frankfurt am Main 1987, S. 21 f

[27] Vgl.: Rauskolb, C. „Lobby in Weiß“ Frankfurt / Köln 1976, S. 123

[28] Vgl.: Deppe, H.-U. „Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar“ Frankfurt am Main 1987, S. 25 f

[29] Vgl.: Mai, M. „Deutsche Geschichte“ Weinheim und Basel 1999, S.121

[30] Vgl.: Triesch, G. / Ockenfels, W. „Interessenverbände in Deutschland“ München 1995, S. 41

[31] Vgl.: Rauskolb, C. „Lobby in Weiß“ Frankfurt / Köln 1976, S. 123

[32] Anm. d. Autors: im Original in Anführungszeichen

[33] Deppe, H.-U. „Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar“ Frankfurt am Main 1987, S. 25

[34] Vgl.: Deppe, H.-U. „Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar“ Frankfurt am Main 1987, S. 25

[35] Vgl.: Mai, M. „Deutsche Geschichte“ Weinheim und Basel 1999, S.121

[36] Vgl., o. V.: Hartmannbund, „Geschichte“ Bonn 2003 S. 1

[37] Vgl.: Deppe, H.-U. „Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar“ Frankfurt am Main 1987, S. 26

[38] Vgl.: Groser, M. „Gemeinwohl und Ärzteinteressen“ Gütersloh 1992, S. 64

[39] Vgl.: Deppe, H.-U. „Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar“ Frankfurt am Main 1987, S. 27

[40] Rauskolb, C. „Lobby in Weiß “ Frankfurt / Köln 1976

[41] Vgl.: Deppe, H.-U. „Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar“ Frankfurt am Main 1987, S. 27

[42] Vgl.: Mai, M. „Deutsche Geschichte“ Weinheim und Basel 1999, S.122

[43] Vgl.: Triesch, G. / Ockenfels, W. „Interessenverbände in Deutschland “ München 1995, S. 42

[44] Deppe, H.-U. „Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar“ Frankfurt am Main 1987, S. 27

[45] Vgl.: Triesch, G. / Ockenfels, W. „Interessenverbände in Deutschland“ München 1995, S. 42

[46] Deppe, H.-U. „Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar“ Frankfurt am Main 1987, S. 28

[47] Ebd., S. 29

[48] Vgl.: ebd., S. 30

[49] Vgl.: Deppe, H.-U. „Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar“ Frankfurt am Main 1987, S. 34 f

[50] Vgl.: Mai, M. „Deutsche Geschichte“ Weinheim und Basel 1999, S.140

[51] Vgl.: Ullmann, H.-P. „Interessenverbände in Deutschland“, S. 228

[52] Vgl.: Deppe, H.-U. „Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar“ Frankfurt am Main 1987, S. 35

[53] Vgl.: Triesch, G. / Ockenfels, W. „Interessenverbände in Deutschland“ München 1995, S. 42

[54] Vgl.: Deppe, H.-U. „Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar“ Frankfurt am Main 1987, S. 35

[55] Anm. d. Autors: Deutschland wurde nach Kriegsende in vier Besatzungszonen eingeteilt, die unter amerikanischer, britischer, französischer und russischer Aufsicht standen.

[56] Vgl.: Mai, M. „Deutsche Geschichte“ Weinheim und Basel 1999, S.147

[57] Vgl.: Triesch, G. / Ockenfels, W. „Interessenverbände in Deutschland“ München 1995, S. 42

[58] Vgl.: Rauskolb, C. „Lobby in Weiß“ Frankfurt / Köln 1976, S. 141

[59] Vgl.: Deppe, H.-U. „Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar“ Frankfurt am Main 1987, S. 35

[60] Vgl.: ebd., S. 35

[61] Vgl.: Rosewitz, B. / Webber, D. „Reformversuche (...)“ Frankfurt am Main / New York 1990 / Webber, S 22

[62] Ebd., S 21 f

[63] Vgl.: Marburger Bund, „Der MB stellt sich vor“ Berlin 2004, S. 1

[64] Vgl.: Hartmannbund, „Geschichte“ Bonn 2003 S. 2

[65] Vgl.: Deppe, H.-U. „Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar“ Frankfurt am Main 1987, S. 35

[66] Vgl.: Mai, M. „Deutsche Geschichte“ Weinheim und Basel 1999, S.151

[67] Vgl.: Deppe, H.-U. „Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar“ Frankfurt am Main 1987, S. 35

[68] Vgl.: Rauskolb, C. „Lobby in Weiß“ Frankfurt / Köln 1976, S. 141

[69] Deppe, H.-U. „Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar“ Frankfurt am Main 1987, S. 38

[70] Siehe Abb. 1 „Gesundheitsausgaben Anteil am BIP“, im Anhang

[71] Anm. d. Autors: Da der Index umgestellt wurde, kommt es zu leichten Abweichungen.

[72] Siehe Abb. 2 „Gesundheitsausgaben nach Ausgabenträgern“, im Anhang

[73] Siehe Abb. 3 „Entwicklung der Gesundheitsausgaben je Einwohner“, im Anhang

[74] Siehe Abb. 4 „Gesundheitspersonal nach Einrichtungen“, im Anhang

[75] Vgl., o. V.: e.balance „Wirtschaftsfaktor und Jobmaschine Gesundheitswesen“ o. O. 2003, S. 1

[76] Vgl.: Schubert / Klein „Das Politlexikon“ Bonn 2001

[77] Siehe Kapitel 5.2.7, S. 30 der vorgelegten Arbeit

[78] World Health Organisation (WHO), Ottawa-Charta, 21.11.1986

[79] Vgl., o. V.: Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, „Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung 2000“ Baden-Baden 1995, S. 15 ff

Excerpt out of 76 pages

Details

Title
Interessenverbände und ihr Einfluss auf die Gesundheitspolitik
Subtitle
Lobbyarbeit zum Wohle des Patienten?
College
Federal University of Applied Administrative Sciences Berlin  (Sozialversicherung, Abteilung Knappschaftsversicherung)
Grade
Sehr Gut
Author
Year
2004
Pages
76
Catalog Number
V67163
ISBN (eBook)
9783638585361
ISBN (Book)
9783638711418
File size
677 KB
Language
German
Keywords
Interessenverbände, Einfluss, Gesundheitspolitik
Quote paper
Diplom-Verwaltungswirt Torsten Haas (Author), 2004, Interessenverbände und ihr Einfluss auf die Gesundheitspolitik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/67163

Comments

  • Miriam Räker on 4/3/2011

    Der Preis des Buches ist leider mit der inhaltlichen Qualität der Arbeit nicht gerechtfertigt. Ich bin sehr unzufrieden mit meiner Kaufentscheidung!

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Title: Interessenverbände und ihr Einfluss auf die Gesundheitspolitik



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