Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Anselm von Canterbury
2.1. Leben und Werk
2.2. War Anselm Theologe oder Philosoph?
2.3. Der Gottesbeweis in Proslogion II/III
3. Der Universalienstreit
3.1. Thema und Ursprung des Universalienstreits
3.2. Position des Realismus
3.3. Position des Nominalismus
4. Anselm als Unviersalienrealist
4.1. Anselms Haltung im Universalienstreit
4.2. Denkmuster des Realismus im Gottesbeweis
5. Schluss
Bibliographie
1. Einleitung
Anselm von Canterbury hat um das Jahr 1080 in nur zwei Kapiteln seines Werkes „Proslogion“ einen Gottesbeweis aufgestellt, der Philosophie-geschichte geschrieben hat. Philosophen wie Décartes[1], Leibniz[2], Kant[3] oder Hegel[4] haben es sich zur Aufgabe gemacht, ihn zu bestätigen oder zu widerlegen. In der folgenden Arbeit möchte ich den von Kant „ontologisch“ genannten Gottesbeweis Anselms rekonstruieren und in seiner Zeit und seinem theologischen Umfeld verorten. Dabei werde ich mich weniger mit der formal-logischen Struktur des Arguments auseinandersetzen, sondern die philosophischen, zeit- und umwelt-bedingten Denkmuster dahinter zu erkennen versuchen.
Anselm, dessen Wirken vor allem die zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts umfasste, lebte in einer Zeit, in der nach vielen Jahrhunderten relativ starrer Überlieferung theologischer Glaubensinhalte durch das Mönchstum wieder neue intellektuelle Impulse vom Klerus ausgingen. Er erlebte zwei der grössten theologischen Auseinandersetzungen des Mittelalters, den Investiturstreit und den Universalienstreit, und beteiligte sich aktiv an beiden Debatten. Während der Investiturstreit, bei dem es um den Anspruch von kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten auf die Amtseinsetzung von Geistlichen ging, eher das Handeln Anselms prägte, hatte der Universalienstreit, bei dem das Verhältnis zwischen allgemeinen Begriffen und der Wirklichkeit diskutiert wurde, starken Einfluss auf sein philosophisches Denken. Ob dieser Einfluss so stark war, dass er sich auch im Gottesbeweis niederschlug, soll Gegenstand der folgenden Untersuchung sein.
Unumstritten ist, dass Anselm trotz seiner Originalität wie alle Denker ein Kind seiner Zeit war. Sein Umfeld und die aktuellen theologisch-philosophischen Diskurse, an denen er teilnahm, prägten sein Weltbild und waren immer Teil der bewussten oder unbewussten Prämissen seiner Argumentation. Ich werde deshalb im ersten Teil meiner Arbeit auf Anselms Leben, Werk und Denken eingehen, bevor ich den Gottesbeweis rekonstruiere, und mich im zweiten Teil mit dem Grundproblem und den Positionen des Universalienstreits auseinandersetzen, welche Anselm prägten und welche er prägte. In einem dritten Teil werde ich dann versuchen, die verschiedenen Puzzlesteine zusammenzufügen und die aus Anselms philosophisch-theologischer Disposition hervorgehenden Denkvoraussetzungen im ontologischen Gottesbeweis nachzuweisen.
2. Anselm
2.1. Leben und Werk
Anselm von Canterbury kam 1033 in Aosta als Sohn eines Lombarden und einer Burgunderin aus niederem Adel zur Welt. Da sein Vater eine politische Karriere für ihn geplant hatte, konnte er sich erst im Alter von dreiundzwanzig Jahren und nach einem familiären Streit von Zuhause lösen und entsprechend seinem Wissensdurst eine dreijährige Bildungswanderschaft durch Frankreich antreten. Der herausragende Ruf seines späteren Lehrers Lanfranc zog ihn schliesslich in die Benediktiner-Abtei von Le Bec, in die er 1060 eintrat. In den dreissig Jahren, die er im Amt des Priors und später des Abts in Le Bec verbrachte, entwickelte er eine intensive schriftstellerische Tätigkeit und schrieb seine wichtigsten philosophischen Werke. 1093 trat er die Nachfolge von Lanfranc als Erzbischof von Canterbury an, wurde jedoch wegen seiner unnachgiebigen Haltung im englischen Investiturstreit zweimal ins Exil geschickt. 1109 starb er in England, 1494 wurde er von der katholischen Kirche heilig gesprochen.
Obwohl Anselm nicht selten als „Vater der Scholastik“ bezeichnet wird und viele seiner Denkansätze als ursprünglich gelten, stand er in einem Traditionszusammenhang und war nicht ohne Vorgänger. Bezeichnender-weise war es jedoch nicht sein Lehrer Lanfranc, dem er in seinem Denken folgte, sondern dessen Kontrahent Berengar von Tours (gest. 1088). Berengar vertrat im Gegensatz zu Lanfranc die Ansicht, dass die aristotelisch-boethianische Dialektik (formale Logik) auf alle Glaubensinhalte, insbesondere auf die Eucharistielehre, angewendet werden sollte.[5] Er wurde im Verlauf der Auseinandersetzung mehrfach verurteilt und zum Widerruf gezwungen. Im kirchlich-gesellschaftlichen Wandel, der sich im 11. Jahrhundert vollzog und in einer langsamen Verschiebung der Wissenszentren von ländlichen Klöstern in städtische Kathedralschulen äusserte, sah sich das bisherige Mönchswissen jedoch Fragen und „einem neuen Kriterium der Rationalität gegenübergestellt“[6], das sich zumindest teilweise durchsetzte. Anselm ging es darum, wie Berengar „sola ratione“ die Lehren des Christentums zu beweisen. Die Methode, die Berengar für die Eucharistie verwendet hatte, wurde von Anselm leicht abgeschwächt auf die gesamte christliche Lehre angewandt.[7] Dies bedeutete im 11. Jh. ein ungewöhnliches Zugeständnis an die Philosophie, da der Logik zum ersten Mal ein immanenter Wert verliehen wurde.[8]
Anselms Werk ist denn auch vom Versuch geprägt, alle Sphären des Glaubens nach dem berühmt gewordenen Motto „Fides quaerens intellectum“ (P 7) – der Glaube, der nach Einsicht sucht – rational zu durchdringen[9]. In seinem christologischen Hauptwerk „Cur Deus Homo?“ entwickelt er die Satisfaktionslehre, die später zur Grundlage der Reformation wird, während er im „Monologion“ und „Proslogion“ über das Wesen Gottes meditiert und den Gottesbeweis formuliert. In „De Veritate“ setzt er sich mit den Begriffen der Wahrheit und Gerechtigkeit auseinander.
2.2. War Anselm Theologe oder Philosoph?
„Obgleich jene Ungläubigen deshalb nach Gründen fragen, weil sie nicht glauben, wir dagegen, weil wir glauben, so ist es doch ein- und dasselbe, wonach wir fragen.“ (CDH II, 50[10])
Auseinandersetzungen mit Denkern des Mittelalters sind stets von der Skepsis geprägt, es mit Theologen, und nicht mit Philosophen zu tun zu haben. Ich persönlich bin nicht der Ansicht, dass die theologische Durchdringung der antiken und mittelalterlichen Texte ihrem philosophischen Gehalt einen Abbruch tut. Trotzdem möchte ich Anselms diesbezügliche Denkvoraussetzung untersuchen, da er seinen Gottesbeweis mit dem Anspruch vorbringt, keine theologischen Prämissen dafür zu benötigen.
Da es zu Anselms Zeit keine klare Trennung der beiden Disziplinen gab, ist es evident, dass sein Werk sowohl von der Philosophie als auch von der Theologie durchdrungen ist. Weniger klar ist es, ob Anselm ein philosophisch denkender Theologe oder ein theologisch geprägter Philosoph war.
Die Kirche war die Gesellschaft, das Dogma war Gesetz. Aus zahlreichen Bemerkungen in seinen Schriften geht jedoch hervor, dass Anselms Glaube in keiner Weise geheuchelt war. Er wagte es, Fragen zu stellen, blieb jedoch stets im Rahmen, den ihm der Glaube vorgab. Davon zeugen auch Zitate aus dem „Proslogion“, das in der Form eines Gebets verfasst ist:
„[…] so verfasste ich eben darüber und über einiges andere die vorliegende kleine Schrift, und zwar in der Rolle von jemandem, der seinen Geist zur Betrachtung Gottes zu erheben und das zu verstehen sucht, was er glaubt.“ (P 7)
„[…] lehre mein Herz, wo und wie es Dich suchen soll, wo und wie es Dich finden soll.“ (P 15)
„Ja, um Dich zu schauen bin ich erschaffen worden – doch noch habe ich nicht getan, wozu ich erschaffen wurde.“ (P 17)
„Lass mich Dich voller Liebe finden und Dich lieben, indem ich Dich finde.“ (P 21)
Glaube kam für Anselm immer zuerst und war nicht bloss das Resultat der Einsicht in ein Argument. Es war ihm klar, dass aus rationalen Argumenten kein Glauben erwachsen würde. Im Gegenteil, der Glauben war die Vorbedingung zur Einsicht, und beides ein Geschenk Gottes.[11] Wissen war gut, aber nicht um seiner selbst willen.[12]
Dennoch bewegte sich Anselm in seinen Methoden und seinem Denken stets innerhalb der von Boethius’ Schriften geprägten Dialektik[13], welche von seinem Lehrer Lanfranc und vielen seiner Zeitgenossen als „Verrat an den Spezifika des Glaubens“[14] betrachtet wurde. Demgegenüber war Anselm überzeugt, dass „der Wille Gottes niemals unvernünftig“ (CDH II, 59)[15] sei und die Wahrheit des Christentums mit der Logik und streng rationalen Konstruktionen bewiesen werden könne.[16] Die Dialektik sollte den Inhalten der christlichen Lehre eine logisch kohärente Form geben und dem christlichen Glauben eine universelle Geltung verschaffen.[17]
Trotz der Tiefe seiner Überzeugungen fand sich Anselm scheinbar in einem ständigen Widerstreit mit sich selbst, denn er hielt es für nötig, sein philosophisches Denken vor sich selbst (oder vor seinen Lesern) zu rechtfertigen und zu relativieren:
„Ich versuche nicht, Herr, Deine Tiefe zu durchdringen, denn keineswegs messe ich meinen Verstand mit ihr; doch ein wenig will ich Deine Wahrheit verstehen, die mein Herz glaubt und liebt. Ich suche ja auch nicht zu verstehen, um zu glauben, sondern glaube, um zu verstehen. Denn auch das glaube ich: Wenn ich nicht glaube, werde ich nicht verstehen.“ (P 21)
„Da ich einsehe, dass zwischen Glauben und Schau die Einsicht, die wir in diesem Leben gewinnen können, ein Mittleres darstellt, bin ich der Meinung, dass, je mehr jemand zu jener Einsicht fortschreitet, er um so mehr sich jener Schau nähert, nach der wir alle seufzen.“ (CDH II, 40)[18]
Diese Zitate zeigen, dass Anselm zwischen Glauben und Einsicht zu unterscheiden vermochte und wusste, dass er sich angesichts der kirchlichen Justiz auf einer Gratwanderung befand. In seinem persönlichen Glauben und Denken war er Theologe, in seiner Methode jedoch ein Philosoph, der konsequent aus dem reinen Denken heraus zu argumentieren verstand.
2.3. Der Gottesbeweis in Proslogion II/III
„Da ich sah, dass die Schrift [Monologion] aus einer Verkettung vieler Argumente zusammengesetzt ist, begann ich mich zu fragen, ob sich nicht vielleicht ein Argument finden lasse, das keines anderen als seiner allein bedürfe, um sich zu beweisen, und das allein genüge, um sicherzustellen, dass Gott wahrhaft ist und dass er das höchste Gut ist […].“ (P 7)
Dies war Absicht und Ausgangspunkt von Anselms Überlegungen im Proslogion: Um den Gott, an den er glaubte, näher zu erfassen, wollte er das eine Argument für die Existenz Gottes finden, das nur seiner selbst bedarf und allein auf dem Denken beruht. Obwohl er inhaltlich mit Tradition und Kirchenvätern immer in Übereinstimmung blieb, war es ihm wichtig, in seiner Beweisführung ohne sie auszukommen. In Schönbergers Worten: „Die Evidenz des Beweisresultates soll dadurch erreicht werden, dass keine inhaltlichen Voraussetzungen gemacht werden.“[19] Anselm hatte für einzelne Elemente seines Arguments Vorlagen bei früheren Denkern und richtete sich nach der dialektischen Methode, die Berengar bei der Eucharistielehre angewandt hatte. Doch sowohl die Konstruktion und Zusammenfügung des Beweises als auch die äusserliche Form und „Verpackung“, mit deren Hilfe sein Werk kirchliche Anerkennung fand, war sein eigener, mit viel Mühe erarbeiteter Verdienst.[20]
Ich werde im Folgenden versuchen, Anselms Argumentation Schritt für Schritt nachzuvollziehen und zu erläutern.
„[…] gib mir, […] dass ich verstehe, dass Du bist, wie wir es glauben, und dass Du das bist, was wir glauben. Und zwar glauben wir, dass Du etwas bist, über das hinaus nichts Grösseres gedacht werden kann.“ (P 21/23)
In dieser Formel, die Gott definiert und eine für Anselm „mühsam errungene Konstruktion“[21] darstellt, ist bereits sein ganzer Beweis enthalten, wie im Verlauf der Argumentation deutlich werden wird.[22] Vorerst ist es entscheidend, dass die Definition Gottes als „etwas, über das hinaus nichts Grösseres gedacht werden kann“ sowohl von Gläubigen als auch von Anders- oder Nichtgläubigen akzeptiert werden kann. Sie hat keinen biblischen, theologischen oder dogmatischen Unterbau und ist in keiner Weise spezifiziert oder konkretisiert. Ähnliche Ausdrücke der Gottesdefinition finden sich jedoch bereits bei mehreren antiken Philosophen. Cicero schreibt, dass nichts „grossartiger“ ist „als das göttliche Wesen“[23]. Seneca stimmt zu: „Auf solche Weise wird [Gott] seine Grösse zugeschrieben, dass nichts Grösseres ausgedacht werden kann.“[24] Gemäss Augustin ist „nichts […] grösser als der göttliche Wille“[25], und Boethius stellt fest: „Denn da sich nichts ausdenken lässt, was besser wäre als Gott, wer könnte dann zweifeln, dass das, darüber hinaus nichts besser ist, gut ist?“[26] Die Definition Anselms kann folglich sowohl auf christliche als auch auf „heidnische“ Autoritäten verweisen und ist nicht an eine spezifische Religion gebunden.
[...]
[1] Vgl. Henrich 1960, S. 10-22
[2] Vgl. Henrich 1960, S. 45-55
[3] Vgl. Henrich 1960, S. 137-188
[4] Vgl. Henrich 1960, S. 189-218
[5] Vgl. Flasch 2000, S. 202
[6] Flasch 2000, S. 205
[7] Vgl. Flasch 2000, S. 205
[8] Vgl. Kobusch 2000, S. 43
[9] Vgl. Schönberger 2004, S. 19
[10] Zitiert nach: Schönberger 2004, S. 27
[11] Vgl. Schönberger 2004, S. 12, 25, 27, 29
[12] Vgl. Schönberger 2004, S. 23
[13] Vgl. Mojsisch 1989, S. 42
[14] Schönberger 2004, S. 12
[15] Zitiert nach: Schönberger 2004, S. 31
[16] Vgl. Flasch 2000, S. 206f
[17] Vgl. Schönberger 2004, S. 12
[18] Zitiert nach: Schönberger 2004, S. 27
[19] Schönberger 2004, S. 76
[20] Vgl. Flasch 2000, S. 206
[21] Mojsisch 1989, S. 17
[22] Vgl. Kobusch 2000, S. 45
[23] De natura deorum II, 77, zitiert nach: Schönberger 2004, S. 77
[24] Naturales quaestiones I, praef., 13, zitiert nach: Schönberger 2004, S. 77
[25] De diversis quaestionibus LXXXIII, q. 28, zitiert nach: Schönberger 2004, S. 77
[26] De consideratione V 7,15, zitiert nach Schönberger 2004, S. 77