Eine Interpretation von Thomas Brüssigs „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“


Seminar Paper, 2005

38 Pages, Grade: 2,0


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. Vorwort

2. Literarische Form und Struktur
2.1. Romanstruktur
2.2. Episodische Struktur des Romans

3. Erzähler und Erzählstruktur
3.1. Fokularisierung
3.2. Stellung des Erzählers zum Geschehen

4. Erzählte Zeit und Erzählgeschwindigkeit
4.1.Erzählgeschwindigkeit
4.2. Erzählte Zeit

5. Sprache
5.1. Satzbau
5.2. Umgangs- und Jugendsprache
5.3. Dialekt und Hochdeutsch
5.4. DDR-Wortschatz und Superlativ
5.5. Sprache des Erzählers

6. Motivation, Motivik und Intertextualität
6.1. Motivation
6.2. Motivik und Intertextualität
6.2.1. Motivkomplex Ost-West-Problematik
6.2.2. Motivkomplex “Wunsch nach Westkontakt“
6.2.2.1. Westmusik
6.2.3. Figurengebundene Motivik
6.2.3.1. Motivkomplex Familie Kuppisch

7. Analyse wichtiger “Stellen“ im Roman
7.1. Die Unmöglichkeit der Kritik
7.2. Die Vollmondnacht
7.3. Die Wirkung der Sonnenallee
7.4. Das Wunder der Geburt
7.4.1. Allegorische Lesart der Geburts-Episode
7.5. Das Schlusswort

8. Resumee / Interpretationsansatz

9. Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Sekundärliteratur

1. Vorwort

Im Angesicht der momentanen politischen Diskussionen um Hartz IV, Montagsdemon­strationen etc. erlebte auch die Ost-West -Debatte erneut eine ungewöhnlich starke Brisanz. Fünfzehn Jahre nach dem Mauerfall wünscht sich jeder fünfte Deutsche die Mauer zurück – so heißt es einer Forsa- Umfrage der vergangenen Wochen zufolge.[1] Der Stinkefinger von Bernd Görgelein (ein arbeitsloser Ostdeutscher) gen Westen wird deutschlandweit zum Symbol der aufgeladenen Stimmung. Er spricht aus, was viele denken: „[I]n der DDR waren wir glücklicher. Wenn jemand die Mauer wieder aufbauen wollte, würde ich sagen: Ja“.[2] Da fragt man sich, was in den Köpfen der Menschen von statten geht, wenn sie einen solch absurden Wunsch äußern - wohin verschwand das kollektive Gedächtnis, wohin das Bedauern um eine Zeit der Diktatur, Mangelwirtschaft, Eingesperrtheit? Doch darin liegt das Problem – ein kollektiv – deutsches Gedächtnis zur DDR-Vergangenheit gibt es in dem Sinne nicht. Schließlich kam es nie zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der jüngsten deutschen Vergangenheit und v.a. dem individuellen Versagen in der DDR-Geschichte seitens der Ostdeutschen. Stattdessen gab es auf der einen Seite Ostalgie- Shows, in denen sich die Ossis selbst feierten und die DDR in knalligem Bunt erstrahlte, während auf der anderen Seite westdeutsche Late-Night-Moderatoren das Publikum mit klischeebeladenen Ossi-Witzen erfreuten. Von Vergangenheits-bewältigung keine Spur – auf beiden Seiten redete man sich die Zeit vor dem Mauerfall schön, man wurde nostalgisch. Genau an diesem Punkt, an dem Gedächtnis aufhört und Erinnerung anfängt, knüpft Brussigs Roman Am kürzeren Ende der Sonnenallee an. Der Stoff des Buches „war ursprünglich ein Filmstoff“, d.h. Brussig schrieb zunächst (gemeinsam mit Leander Haußmann) das Drehbuch zum Film Sonnenallee und entschloss sich, den Stoff erneut im Roman zu verarbeiten. Der Film folgte den „Intentionen des Regisseurs Leander Haußmann, der auf das Kultpotenzial des Stoffes setzte (mit musicalartigen Tanzeinlagen, stilisierten Kostümen usw.)“ wobei Brussig die Erzählung im Nachhinein schrieb, um „zu untersuchen, was Nostalgie eigentlich ist“.[3] Der Rückentext von Am kürzeren Ende der Sonnenallee macht dabei dringlich auf dieses Prinzip der Lektüre aufmerksam: „Glückliche Menschen haben ein schlechtes Gedächtnis und reiche Erinnerungen“ (S. 157).

Das übergeordnete Schema, nach dem der Roman funktioniert und verstanden werden soll, ist somit für jeden ersichtlich und deutlich formuliert. Inwieweit Text-, Darstellungs- sowie Bedeutungsebene zum Träger dieses Prinzips werden, untersucht die folgende Auseinandersetzung mit dem Primärtext. Dabei orientiert sich die Analyse an der literaturwissenschaftlichen Methode, die in Einführung in die Erzähltheorie von Martinez/Scheffel zugrunde gelegt wird.

2. Literarische Form und Struktur

2.1. Romanstruktur

Der 2001 in Frankfurt am Main erschienene Wenderoman Am kürzeren Ende der Sonnenallee von Thomas Brussig umfasst 151 Seiten und unterteilt sich in 14 Kapitel, die jeweils zwischen 3 und 24 Seiten lang sind. Die Kapitel sind nicht durchnummeriert und ein Inhaltsverzeichnis samt Kapitelauflistung fehlt ganz - hier deutet sich schon an, dass in der Lektüre Struktur eine untergeordnete Rolle spielt bzw. Struktur gar nicht erwünscht ist. Die im Roman stattfindende Vernetzung der Haupthandlung mit vielen in sich abgeschlossenen Teilhandlungen spricht ebenfalls für diesen Schluss. Als Haupthandlung ist dabei eindeutig die Liebesgeschichte zwischen Micha und Miriam auszumachen, die zwar oft unterbrochen wird und auch kapitelweise aussetzt, jedoch den Roman vom ersten bis zum letzten Kapitel durchzieht und die Grundlage darstellt, um welche sich die verschiedenen Nebenhandlungen ranken. Dazu gehört die Handlung um den verlorenen Pass einer BRD-Bürgerin, Michas Weg ins Rote Kloster und zurück, Wuschels Suche nach der Exile on Mainstreet und u.a. Bernds Armeeerlebnisse. Sie sind eher locker mit der Haupthandlung verbunden und treiben die Liebesgeschichte nicht wirklich voran. Manche Teilhandlungen, wie Michas leidenschaftliche Fehde mit dem ABV (durch die der Liebesbrief in den Todesstreifen gelangt und per Fahndungskontrolle einen Besuch bei Miriam verhindert) oder die westliche Hi-Fi-Anlage (welche zunächst in Ton oder Knete Erwähnung findet und schließlich im letzten Kapitel das gesamte Grenzgebiet inklusive Haupt- und Teilhandlungen kurzschließt) wirken hingegen dynamisch auf die Haupthandlung.

Das erste Kapitel des Romans stellt eine Art Vorrede dar, in der sich Micha als Hauptfigur und das kürzere Ende der Sonnenallee (daher auch der Titel) als Hauptschauplatz des Romans herauskristallisieren. In Churchills kalter Stumpen kommt es noch zu keiner Handlung – dementgegen erhält der Leser eine kurze Einführung in die Problematik der Erzählung. Nach Michas Ausmalungen zur Potsdamer Konferenz, seiner Verurteilung Churchills (vgl. S. 8) und Aussichtsplattform (vgl. S. 9) drängt sich der Ost-West-Konflikt auf und auch die Teilhandlung um „Mischa[s]“ (S. 9) Mutter und ihrem Bestreben, Micha aufs Rote Kloster zu schicken, finden hier andeutungsweise Erwähnung (vgl. S. 9). Schließlich führt das erste Kapitel unmittelbar an die (im zweiten Kapitel beginnende) Haupthandlung heran, indem Liebesbrief (vgl. S. 9) und Liebesgeschichte (vgl. S. 10) angeschnitten werden.

Die Verdonnerten ist Ausgangspunkt für die wichtigen Handlungsstränge, die sich um Micha und seine Freunde drehen: die ABV-Fehde, der verloren gegangene BRD- Pass und natürlich Miriam und ihr Kussversprechen. Zudem erhält die Clique vom Spielplatz (die in Churchills kalter Stumpen schon genannt wurde) hier Namen.

Kapitel 3 bis 12 verfolgen diese Handlungsstränge sowie weitere Teilhandlungen, die erst später angelegt werden (etwa Onkel Heinz mit seinen Schmuggelaktionen oder die Gründung einer autonomen Gegenrepublik).

Leben und Sterben in der Sonnenallee schließt dann den Handlungsrahmen um Liebesbrief (welcher im Feuer endet), Liebesgeschichte (Miriam und Micha finden sich) und Onkel Heinz (der stirbt und per Zweckentfremdung einer Kaffeedose selbst zur Schmuggelware wird) und schließlich bekommen Mario und Elisabeth (denn sie hat nun einen Namen) ihr Kind.

Am Ende steht das Schlusswort des Erzählers, dass die inhaltliche Aussage des Romans auf den Punkt bringt, und mit dem sich diese Arbeit an anderer Stelle näher beschäftigt.

2.2. Episodische Struktur des Romans

In der Abfolge der Kapitel ist es kaum möglich, einen konsequent fortlaufenden Handlungsstrang zu finden, da sich Haupthandlung und Nebenhandlungen erst aus einer Vielzahl von Episoden zusammensetzen. Stattdessen sind alle Kapitel locker miteinander verbunden, indem der Anfang eines Kapitels einen Aspekt vom Vorherigen aufgreift. So geht es in Kapitel 4 um Michas Tanzschulerlebnisse und Fünfzig West zuwenig beginnt mit „Wuschel ging nicht zur Tanzschule“ (S. 51) worauf Wuschels Episode folgt, in der sich alles um eine Westplatte dreht (Exile on Mainstreet). Das nächste Kapitel knüpft daran an: „Micha hatte keine Westplatten“ (S. 59), eine Aussage, die nur dazu dient, die nächste Episode um Onkel Heinz einzuleiten. Auch innerhalb der Kapitel wird auf diese Weise Kohärenz zwischen den einzelnen Episoden erzeugt. Ein Name oder ein Sachverhalt regen den Erzähler zur nächsten Episode an – eine Art des Erzählens, die den Anschein erweckt, der Erzähler würde sich selbst an diese Geschichte erinnern und erst im Laufe des Erzählens die einzelnen Episoden hinzukommen.

Dieser Eindruck verstärkt sich dadurch, dass die Episoden oft gespickt sind mit Vorausdeutungen (Prolepsen), die immer wieder in der Handlung vorgreifen wenn der Erzähler Episoden mit deren Ergebnis einleitet (vgl. u.a. S. 85, 103, 121 sowie die Kapitelüberschrift Wie Deutschland nicht gevierteilt wurde) oder Hinweise auf Ereignisse gibt, welche erst in einem der folgenden Kapitel geschildert werden (vgl. u.a. S. 9, 16, 57). Es kommt ebenso vor, dass ein Kapitel mit einer Vorausdeutung fürs nächste Kapitel schließt (vgl. S. 83). Abgesehen von Vorausdeutungen tragen zudem auch Rückblicke (vgl. S. 7-8, 16, 78-79) dazu bei, dass Handlungsstränge ergänzt oder erweitert werden, eine chronologische Kontinuität jener aber zurückbleibt. Das episodische Erzählen führt, wie man sieht, summa summarum zur Diskontinuität des Romans.

3. Erzähler und Erzählstruktur

3.1. Fokularisierung

Die Erzählung ist weder dem dramatischen, noch dem narrativen Modus eindeutig zuzuordnen. Der Roman lebt sowohl von Erzählbericht (narrativ) als auch direkter Figurenrede (dramatisch), Indirekter Rede und Erlebter Rede (beides zwischen narrativ und dramatisch). Dementsprechend gehen Nullfokularisierung (Erzählbericht, direkte Figurenrede und Indirekte Rede) und Interne Fokularisierung (Erlebte Rede) einher.

Merkmale der Nullfokularisierung zeigen sich, wenn der Erzähler nicht nur Vergangenheit sondern auch die Gegenwart der Figuren überschaut und ihnen somit an Wissen voraus ist: Er weiß, dass „heute alle Welt CD´s [benutzt]“ (S. 57), Günther „immer noch das Wägelchen mit dem Sauerstoff hinter sich her [zieht]“ (S. 125) und was Herr Kuppisch im Nachhinein über die DDR sagt (vgl. S. 89). Zudem machen die vielen Prolepsen und die Verwendung des epischen Präteritums (3. Person Prät.) - mit Ausnahme der eben genannten Stellen - den Leser darauf aufmerksam, dass es sich hier um einen späteren Zeitpunkt des Erzählens handelt und der Erzähler eine klare (zeitliche) Distanz zum Wahrnehmungsstandpunkt der erlebenden Figur hat. Der Erzähler überblickt außerdem auch Gedanken, Vorstellungen und Gefühle der Protagonisten und gibt diese per Bewusstseinsbericht oder Gedankenzitat wider: „Micha konnte sich die Szene gut vorstellen“ (S. 16), „[Onkel Heinz] fürchtete, daß er mit einer Keksrolle […] erwischt wird“ (S. 59) und „Frau Kuppisch dachte: Ja, ja, melde du mal ruhig weiter, was wir für ´ne sozialistische Familie sind“ (S. 67). Besonders häufig nimmt der Erzähler natürlich Bezug auf das Innenleben der Figur, um die sich die jeweilige Episode gerade dreht.

Trotz Übersicht des Erzählers über Gegenwart und Gedanken der Figuren ist es schwierig von einer reinen Form der Nullfokularisierung zu sprechen, da sich der Erzähler oft eng an die Begriffe und Ausdrucksformen der erzählten Welt und seiner Figuren hält. Ein weiterer Aspekt, der gegen Nullfokularisierung spricht, ergibt sich im Weiteren dadurch, dass - mit Ausnahme der kurzen Ausflüge in die Gegenwart - die Erzählung nicht über die Wahrnehmung der in den Episoden betroffenen Figuren hinausgeht.

[...]


[1] Vgl. Hunfeld, Frauke: Unser geteiltes Land. In: Stern Nr. 38 (2004). S. 52.

[2] Hunfeld, Frauke: Unser geteiltes Land. In: Stern Nr. 38 (2004). S.47.

[3] Brussig, Thomas: Wir sind nostalgisch, weil wir Menschen sind. www.thomasbrussig.de/publizistik/ sehnsucht.htm

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Details

Title
Eine Interpretation von Thomas Brüssigs „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“
College
University of Rostock
Course
Grundkurs Einführung in die Literaturwissenschaft SS 2003
Grade
2,0
Author
Year
2005
Pages
38
Catalog Number
V67581
ISBN (eBook)
9783638603966
ISBN (Book)
9783656229438
File size
601 KB
Language
German
Keywords
Eine, Interpretation, Thomas, Brüssigs, Sonnenallee, Grundkurs, Einführung, Literaturwissenschaft
Quote paper
Susan Dankert (Author), 2005, Eine Interpretation von Thomas Brüssigs „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/67581

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