Zu: Hermann Broch: "Die Schlafwandler"

Text und Bild - Objekt und Wahrnehmung - Realität oder Imagination


Trabajo, 2006

29 Páginas, Calificación: 1,7


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1. Hermann Broch und die Schlafwandler
1.1 Text und Bild
1.2 Verschwommene Bilder

2. Der Titel als Bild: Die Schlafwandler
2.1 Fokalisierung als erzählerisches Mittel in Die Schlafwandler
2.2 Visuelle Elemente im Text

3. Erlebnisse im Kaiserpanorama
3.1 Szenenaufbau
3.2 Handelnde Personen und Fokalisierung
3.3 Die Wahrnehmung und das Chaos

4. Verschiedene Bilder
4.1 Ansichtskarten
4.2 Amerika-Bilder
4.3 Gesicht und Landschaft

5. Der Wertezerfall in der Brochschen Erzählpraxis

6. Literatur

1. Hermann Broch und die Schlafwandler

Sonderbar erscheint der Titel Die Schlafwandler für einen Roman Hermann Brochs, der doch von realistischen Gedanken und Themenkreisen handelt. Dennoch soll sich im Verlauf dieser Arbeit immer mehr herauskristallisieren, wie gerade dieser Titel in einen solchen Roman eingepasst ist und ihn treffend überschreibt. „Dieser Roman hat zur Voraussetzung, daß die Literatur mit jenen menschlichen Problemen sich zu befassen hat, die einesteils von der Wissenschaft ausgeschieden werden, weil sie einer rationalen Behandlung überhaupt nicht zugänglich sind und nur mehr einem absterbenden philosophischen Feuilletonismus ein Scheinleben führen, andererseits mit jenen Problemen, deren Erfassung die Wissenschaft in ihrem langsameren, exakteren Fortschritt noch nicht erreicht hat“[1]. Dieses kurze Kommentar Hermann Brochs zu seinem Roman, gibt dem Leser vor, bei der Lektüre der Schlafwandler hinter die äußere Handlung zu blicken und die Probleme herauszufiltern, die für das Rationale nicht erfassbar sind. Dennoch befindet sich Broch ganz bewusst im Gegensatz zum psychologisierenden Roman seines Vorbildes James Joyce. Die Schlafwandler sollen eben nicht psychologisieren, sondern sich von der Psychologie frei machen. Broch strebt den erkenntnistheoretischen Roman an, der auf erkenntnistheoretische Grundlagen und Wertlogik zurückgeht. Besonders die Einbeziehung Zerfall der Werte in den Roman zeigt den Gegensatz zu Joyce.[2]

Die Schlafwander sind ein derart komplexes Netzwerk aus den Gedanken und Erfahrungen Brochs, dass es unmöglich erscheint, den Text auch nur annähernd auszuschöpfen. Dass Broch im Laufe der Zeit immer stärker, „unter anderem im Nachfeld der Polemik zwischen affirmativer und kritischer Brochforschung, in den Sog der Tendenzliteratur und des roman à thése geraten ist“[3], erscheint mir absurd. Betrachtet man nur die Erzählstruktur und die verwendeten Bilder etwas genauer, ohne das Hauptaugenmerk auf den Zerfall der Werte zu richten, ergibt sich eine unendliche Fülle von Interpretationsmöglichkeiten.

Durch die Kommentare, die Broch selbst zu seinem Roman abgibt, eröffnen sich wiederum neue Möglichkeiten für den Rezipienten. Da der Leser um die Intention Brochs weiß, bleibt es ihm selbst überlassen, sich auf den Gedankenwegen Brochs mit- und weiterzubewegen, oder diese Gedanken links liegen zu lassen und eigene Bilder und Erfahrungen in den Roman hinein zu tragen. Gerade die Aktualität der Schlafwandler macht Broch heute sehr interessant. Die Vielfalt an Bildern, die den Menschen heute im Vergleich zu Brochs Lebzeiten regelrecht bestürmt, gibt Anlass zum Nachdenken. Broch, der die Phase beginnender Bildervielfalt selbst erlebt hat, führt die Veränderungen menschlichen Lebens durch die Bilderflut in vielen Textstellen des Romans Die Schlafwandler vorzüglich vor Augen.

1.1 Text und Bild

Bilder, die in Texten integriert werden, können unterschiedlicher Art sein. Meist findet man sie als auffallende Metaphern, die eine große Bandbreite verstärkender, ironisierender bis hin zu grotesker Funktion im Text einnehmen. Eine weitere Form der Textgestaltung, in der das Bild eine hervorgehobene Rolle spielt, ist der Vergleich. Hier werden komplexe Vorgänge vereinfacht, indem der Schriftsteller mit Hilfe eines Bildes einen Vergleich zieht und damit die eigentliche Intention für den Rezipienten aufbereitet und in dessen Verstehenskreis projiziert. Die reine Form der Verwendung von Vergleichen ist in den biblischen Gleichnissen zu finden und einfach zu bestimmen: „Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem…“[4] Nach wie folgt immer das Bild und es dient immer der näheren Bestimmung und Erklärung für den noch ungebildeten Leser bzw. Hörer. Derartige sprachliche Bilder und Vergleiche spielen in Brochs Roman Die Schlafwandler nur eine untergeordnete Rolle, denn er sieht in seiner Zeit einen Niedergang der Schriftkultur, der durch die neuen Medien entsteht und glaubt, mit neuen Erzählformen reagieren zu müssen. Radio und Kino – der Ton aus der Maschine und die Bilderflut, die den Menschen einzufangen beginnt, sind für ihn Ursachen des Intellektualitätsverlustes, der sich insbesondere in der Schriftkultur zeigt.[5] Die Bilder die Broch in den Schlafwandlern verwendet, sind „zuallererst Bestandteil der fiktionalen Wirklichkeit, in der die Figuren des Romans agieren.“[6]

Broch erreicht dadurch eine große Fülle von narrativen Möglichkeiten, die es dem Leser schwer machen, dem Text angemessen zu folgen. Ähnlich einer heutigen Filmsequenz strömt im Text die Kulisse aus Einrichtungsgegenständen, handelnden Personen, Statisten, scheinbar Unwesentlichem wie eine Flut am Rezipienten vorbei, fließt in ihn hinein, löst Erinnerungen aus, lässt wieder vergessen, wiederholt sich, erscheint eigenartig und verflüchtigt sich schließlich wieder. Ein Beispiel dieser ständig sich bewegenden Bilderwelt findet sich im Esch bei einer Gewerkschaftsversammlung.[7] Das Wirtshaus, in dem die Versammlung stattfindet, ist klein. Dennoch stehen vor dem Eingang „einige Schutzleute, musterten die Hineingehenden, und die gaben sich den Anschein, die Wächter nicht zu bemerken.“[8] Das kleine Haus, das von den Schutzleuten bewacht ist, fällt dem Leser nicht gleich in den Blick, denn das Wort Versammlung lässt den Rezipienten sofort auf eine größere Veranstaltung schließen. Die Textstelle, die schließlich im Tumult endet[9], ist an Ironie kaum zu überbieten. Ein völlig unerhebliches Treffen in dem Saal eines kleinen Wirtshauses, wird von Schutzleuten überwacht und die Versammlung schließlich aufgelöst. Auch das Wort Saal überliest sich leicht. Unter dem Wort Saal versteht der Leser eigentlich einen großen Versammlungsraum. Dieser große Versammlungsraum soll aber ausgerechnet in einem kleinen Wirtshaus sein? Die Präsenz von Schutzleuten deutet auf eine brisante Massenveranstaltung hin, die gewaltsam enden könnte. Diese soll wiederum in einem kleinen Wirtshaus stattfinden? Die Gegenüberstellung von groß und klein in Verbindung mit der Ausstattung in Form der Bildnisse des Kaisers, des Großherzogs von Baden und des Königs von Württemberg als Präsenz der höchsten Regierung, macht sowohl die sich Versammelnden als auch die niederere staatliche Gewalt in Form der Schutzleute lächerlich. Das Besondere hierin ist, dass es Broch gelingt, die Szene anfangs unerheblich zu schildern und der Rezipient dazu geneigt ist, die Ironie komplett zu überlesen, da er selbst von der über ihn hineinbrechenden literarischen Bilderflut überwältigt ist, denn der Erzähler fokalisiert in dieser Szene kaum. Es erscheint eher so, als würde der Leser selbst an der Versammlung teilnehmen und sich als Neuling typisch unstrukturiert und sich ständig umherbewegend, plötzlich Kontaktpersonen wahrnehmend, Situationen erkennend und schnell vergessend, wiederfinden.

Diese vielfältige Darstellung von Szenen, die auch durchaus ganz anderes interpretiert werden können, zeigt wie Broch mit seinen neuen narratologischen Elementen spielerisch ins menschliche Unterbewusste des Lesers gelangt, ohne dabei einen psychologisierenden Roman nach dem Vorbild von Joyce zu verfassen. Ebendiese erzählerische Vielfalt bereitet oftmals Probleme und führt auch in der akademischen Welt zu häufigen und vielfältigen Diskussionen. Thomas Eicher fordert daher für die Lektüre der Schlafwandler in drei Punkten: „1.) Kleinere Texteinheiten werden beschrieben, Deutungsmöglichkeiten als Nachvollzug der Sinnpluralität einander gegenübergestellt. 2.) Die werkimmanente Bedeutungskonstitution als Ergebnis von Bezugnahmen der Trilogie und Romanteile untereinander bildet das primäre Reservoir an Interpretationen, historische Bezüge des Textes deren Erweiterung. 3.) Selbstdeutungen des Autors sowie thematische oder formal-sprachliche Parallelstellen aus anderen Texten Brochs werden nicht als Beweismittel der Argumentation herangezogen, sondern allenfalls, wo dies als Ergänzung hilfreich erscheint, am Rande vermerkt.“[10] Diesen Forderungen soll auch diese Arbeit folgen, um die Fülle der Deutungsmöglichkeiten zu erhalten und zu erweitern.

1.2 Verschwommene Bilder

Bilder sind trotz ihrer besseren Veranschaulichung von abstraktem Text nicht unbedingt eindeutig. Ganz im Gegenteil kann eine große Bildervielfalt irritieren und den Leser verunsichern. Die Abhängigkeit der Bilder von der Wahrnehmung und der Person des Betrachters führt Broch eindrucksvoll in vielen Szenen vor. Hugenau, der nüchterne Mensch wird einige Male von Broch als Betrachter vorgestellt. In einem Frisörladen setzt sich Hugenau vor den Spiegel und betrachtet sich. Die Beschreibung dessen, was er sieht ist nicht überraschend angesichts des Titels dieses Romanteils Hugenau und die Sachlichkeit: „Man hätte ihn für einen Honoratioren des Ortes halten können. Die Haare waren jetzt wunschgemäß geschoren, kurz, solid und deutsch. Auf der Kuppe blieb ein schmaler Streifen längerer Haare zur Errichtung eines Scheitels.“[11] Schmucklos und trocken sieht sich Hugenau selbst. Sein persönliches Schönheitsempfinden ist der Zweckmäßigkeit gewichen.

Hugenau hält sich nicht für schön, sondern überlegt, dass er für einen „Honoratioren des Ortes“ gehalten werden könnte. Die gleiche Empfindungslosigkeit des Protagonisten wird noch stärker vorgeführt, als Hugenau während des Rasierens eine Lotionswerbung entdeckt. „An der Wand gab es ein stark dekolletiertes, Mädchen, darunter war >>Lotion Houbigant<< zu lesen.“[12] Hugenau nimmt das Mädchen natürlich wahr und entdeckt auch, dass es stark dekolletiert ist. Umso überraschender seine Reaktion. Die erotischen Reize des Mädchens, die der Protagonist sehr wohl erkennt, scheinen an ihm vorüberzugleiten und sein Bewusstsein nur zu streifen. Das Ziel, dass die Werbung mit Hilfe der Reize des Mädchens Männer zum Kauf des Artikels locken soll, wird bei Hugenau total verfehlt – dennoch „befahl er ››Eine Lotion Houbigant‹‹“[13]. Nicht die Werbung ist der Auslöser seiner plötzlichen Kaufbegierde. Sie wird Hugenaus Inspirationsquelle für seinen persönlichen Zweck: „wir haben ja Zeit. Und um die Angelegenheit noch weiter hinauszuzögern, befahl er ››Eine Lotion Houbigant‹‹.“[14]

Die Verschwommenheit der Bilder in den Schlafwandlern stellt sich nicht in einer Form von Unklarheit dar, sondern in der Diskrepanz zwischen Leser und Protagonisten. Die Wahrnehmungen des Lesers gehen meist knapp an den erzählten Wahrnehmungen der Personen vorbei und erzeugen so ein unwirkliches Gefüge aus Handlung, Protagonist und Rezipient.

Auch Esch hat eine besondere Art der Wahrnehmung von Bildern, die in gewisser Weise der Hugenaus gleicht. Als Esch sich bewusst wird, der Liebhaber Mutter Hentjens zu sein, entdeckt er gedankenversunken bei einem Spaziergang einen Buchladen. In dessen Schaufenster sieht er „ein Bild der Freiheitsstatue, golden auf grünes Leinen gepresst; darunter der Titel ››Amerika heute und morgen‹‹.“[15] Instinktiv tritt er ein und wundert sich über sein Benehmen selbst, da er in seinem Leben bisher erst wenige Bücher gekauft hatte. Ebenso schnell kauft er das Buch, ohne sich wirklich bewusst zu sein, was er da tut. „Er wäre gerne länger verweilt, um zu plaudern, aber da ihn niemand beachtete, zahlte er das Buch und hatte ein Paket in der Hand, mit dem er nichts anzufangen wußte.“[16] An Esch geht ebenso wie an Hugenau das Primäre am wahrgenommenen Bild vorbei. So wie Hugenau die erotischen Reize des Mädchens nicht wirklich wahrnimmt, so nimmt Esch den Werbesinn des Buches im Schaufenster nicht wahr.

Esch kauft das Buch ohne etwas damit anfangen zu können. Hier steht er im krassen Gegensatz zu Hugenau, der hauptsächlich utilitaristisch denkt. Trotzdem nehmen beide den eigentlichen Werbesinn der betrachteten Objekte nicht wahr. Das objektive Bild des Buches im Schaufenster ist ein anderes als das Bild des Buches, das sich in Esch spiegelt, obwohl es ein und dasselbe Objekt ist. Bei beiden nehmen Bewusstsein und Unterbewusstsein getrennt voneinander wahr und provozieren Handlungen, die auf den Leser verträumt wirken müssen. Die leichte Abweichung zwischen dem real Gesehenen und dem real Gehandelten scheint ein Fehler im System zu sein, den Broch bewusst erschafft. Die Vorstellung des Actio-Reactio-Prinzipes ist gestört, denn der Reagierende scheint das Wahrgenommene nicht korrekt einordnen und entsprechend handeln zu können. Träumerisch, ja schlafwandlerisch leben und handeln die Romanpersonen.

[...]


[1] Hermann Brochs „Methodologischer Aspekt“, der für den Verleger des Romans vorgesehen war. in: Paul Michael Lützeler (Hg.): Hermann Broch. Kommentierte Werkausgabe, Bd.1, Hermann Broch: Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie, Suhrkamp Taschenbuch, 1994, S.719.

[2] Vgl.: Durzak, Manfred: Hermann Broch, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbeck b. Hamburg, 2001, S.74f.

[3] Martens, Gunther: Beobachtungen der Moderne in Hermann Brochs die Die Schlafwandler und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Rhetorische und Narratologische Aspekte von Interdiskusivität, Wilhelm Fink Verlag, München, 2006, S.50.

[4] Vgl: Mt 18,23; Mt 20,1; Lk 13,18; Lk13,20 etc.

[5] Eicher, Thomas: Erzählte Visualität. Studien zum Verhältnis von Text und Bild in Hermann Brochs Romantrilogie Die Schlafwandler. Peter Lang, Frankfurt am Main, 1993, S.1.

[6] Eicher, Thomas: Erzählte Visualität, S.31.

[7] Lützeler, Paul Michael (Hg.): Hermann Broch. Kommentierte Werkausgabe, Bd.1, Hermann Broch: Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie, , Suhrkamp Taschenbuch, 1994, S.227.

[8] Lützeler, Paul Michael (Hg.): Hermann Broch. Kommentierte Werkausgabe, Bd.1, S.227.

[9] Vgl.: Ebd. S.228.

[10] Eicher, Thomas: Erzählte Visualität, S.24.

[11] Lützeler, Paul Michael (Hg.): Hermann Broch. Kommentierte Werkausgabe, Bd.1, S.396.

[12] Ebd.: S.397.

[13] Ebd.: S.397.

[14] Ebd.

[15] Ebd.: S.287.

[16] Ebd.

Final del extracto de 29 páginas

Detalles

Título
Zu: Hermann Broch: "Die Schlafwandler"
Subtítulo
Text und Bild - Objekt und Wahrnehmung - Realität oder Imagination
Universidad
University of Augsburg
Curso
Hermann Broch: Textethik und Kulturkritik
Calificación
1,7
Autor
Año
2006
Páginas
29
No. de catálogo
V67592
ISBN (Ebook)
9783638600132
ISBN (Libro)
9783638672153
Tamaño de fichero
517 KB
Idioma
Alemán
Notas
Textanalyse des bekannten Werkes von Hermann Broch ausgehend vom Titel. Das Spiel mit der Realität im Text. Bilder im Text und ihre Verwendung. Wer nimmt was, wie wahr. Das komplexe Verhältnis zwischen der Psyche des Lesers und der, der Figuren - und das Dritte: die Wahrnehmung, die zwischen Text und der eigenen Realität des Lesers entsteht.
Palabras clave
Hermann, Broch, Schlafwandler, Hermann, Broch, Textethik, Kulturkritik
Citar trabajo
Peter Kaimer (Autor), 2006, Zu: Hermann Broch: "Die Schlafwandler", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/67592

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Título: Zu: Hermann Broch: "Die Schlafwandler"



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