Filmpreis für Richard Wagner - Eine zeitgemäße Betrachtung seines Theaters


Mémoire (de fin d'études), 2005

113 Pages, Note: Mit Auszeichnung bestanden


Extrait


Inhalt

Einleitung

Illusionen

Grenzen des Live-Theaters

Sehen und Hören

Rausch der Sinne

Filmische Dramaturgie

Plastische Musik

Ein Filmfestspiel

Anmerkungen

Literatur

Ton- u. Bildmaterial

Einleitung

Am liebsten wäre Richard Wagner „unsinnig alt“ geworden und dann gemeinsam mit seiner Frau Cosima „in seinem Stübchen“ auf einem eigens dafür eingerichteten Sofa „an der Euthanasie“[1] gestorben. Dazu kam es jedoch nicht. Auch seinen mehrfach geäußerten Vorsatz „94 Jahre alt zu werden“[2] konnte er nicht einlösen, noch brachte er seine Familie in seiner „Todesstunde zum Lachen“[3], wie er es sich einmal im Scherz triumphierend vorgestellt hatte.

Keine zwei Monate vor seinem plötzlichen, aber nicht ganz unerwarteten Tod im Alter von 69 Jahren hatte sich der schon länger von regelmäßigen Herzanfällen heimgesuchte Wagner „noch etwa zehn rüstige Lebensjahre“[4] gegeben, welche er, wie schon das vergangene Jahrzehnt, darauf verwenden wollte, seinem „Kunstwerk der Zukunft“ die nächste und zugleich fernere Zukunft zu sichern. Als Wagner schließlich im Januar 1883 seinen Tod in Venedig fand, hatte er zwar auf dem Papier sein Lebenswerk vollendet, darüber hinaus war es jedoch lange noch nicht abgeschlossen. Auch ein paar weitere Jahre hätten ihn allerdings nicht aus dem Dilemma zwischen Wunsch und Wirklichkeit befreien können, in das ihn sein künstlerischer Anspruch geführt hatte. Er hätte tatsächlich „unsinnig alt“ werden müssen, um auch nur einen Schritt auf dem Weg zu einem Ziel weiterzukommen, welches außerhalb der Möglichkeiten des 19. Jahrhunderts lag. Schon früh war sich Wagner darüber im klaren gewesen, dass das bisherige Theater innerhalb des gegebenen Rahmens am Ende seiner Entwicklung angelangt war. Mit prophetischen Gaben hatte das weniger zu tun als mit der typischen Affinität des genialischen Künstlers zum Konjunktiv: die Phantasie kennt immer eine bessere Wirklichkeit und an Einbildungskraft mangelte es Wagner wahrlich nicht. Mehr noch, er verfügte über die Fähigkeit und Energie, um das Wünschenswerte innerhalb der Mittel seiner Zeit auch möglich zu machen. Wie wir heute wissen, fand das, was Wagner unter dem Begriff „Gesamtkunstwerk“ zusammengefasst und ein halbes Leben lang wortreich gepredigt hatte, durch das Kino schließlich seine Erfüllung. Tatsächlich entspricht der Film in einigen wesentlichen Eigenschaften dem von Wagner beschworenen neuen Theater. Was Wagner freilich nicht ahnte ist, dass in diesem neuen Medium Schauspiel und Musiktheater verschmolzen sein würden und, dass dort somit kein Platz für seine Werke wäre. Ein Verzicht auf die Worttonsprache, wie ihn das flächige Bild im Kino unserer Tage erzwingt, wäre Wagner niemals in den Sinn gekommen. Tatsächlich fehlt dem eigentlichen „Theater der Zukunft“ vor allem die Tiefe des Bühnenraums, um mit dem von ihm erdachten Theater kompatibel zu sein. Das „Kunstwerk der Zukunft“ in der von Wagner gewünschten Dimension ist nicht zuletzt deshalb Utopie geblieben. Das könnte sich jedoch ab sofort ändern. Inzwischen ist das Potenzial, welches dem Film in seiner gegenwärtigen Form innewohnt, weitgehend ausgereizt. Am Erfolg sich bereits jetzt eröffnender grundsätzlicher Neuerungen in der Welt des Kinos besteht daher kein Zweifel. In der Tat sieht es so aus, als würde der Film der Zukunft auch einige entscheidende bisher der Theaterbühne vorbehaltene Möglichkeiten besitzen. Dies könnte zu einer Renaissance des „singenden Menschen“ führen, welcher sich mit dem gegenwärtigen Film kaum verträgt. - Wagners Lebenstraum würde in Erfüllung gehen und die bisher mit seinem Namen verbundene Tragödie einer zukunftsweisenden Idee, die sich von ihrer Vergangenheit loslöste, hätte ein Happy End gefunden. Zwar wird Wagner für alle Zeiten unzeitgemäß bleiben, dennoch wäre für ihn eine Popularität ähnlich derjenigen Shakespeares denkbar, die heute vor allem dem Erfolg einiger gelungener Filme und Verfilmungen zu danken ist. Viele Anzeichen deuten daraufhin, dass sich für den räumlichen (dreidimensionalen) Film, welcher der Theaterbühne näher ist als der konventionelle Film, ein Durchbruch anbahnt. Die mit dem 3D-Film bisher verbundenen Schwierigkeiten sind dank einiger neuerer technischer Entwicklungen beherrschbar geworden. Prinzipiell ist es daher heute möglich, die Trennung der klassischen Bühne vom Film aufzuheben und dadurch beide gleichermaßen zu revolutionieren. Am Beginn des 21. Jahrhunderts hat es daher mit dem vielbeschworenen filmischen Element im Werk des kleinen großen Mannes aus Leipzig sehr viel mehr auf sich, als man bisher annehmen konnte.

Dies ist der Anlass zur Entstehung der hiermit erstmals vorliegenden gründlichen Auseinandersetzung mit Wagners Nähe zum Film. Die in dieser Arbeit gewonnenen neuen Einsichten (wie sie immer dann möglich werden, wenn die Zeit veränderte Umstände herbeiführt oder wenn ein Sachverhalt in einem bisher noch nicht berücksichtigten Zusammenhang betrachtet wird), beschreiben Wagner als einen Künstler, der vor allem einem inneren Gesetz gehorchte und weniger durch äußere Umstände geprägt war, als es historisch orientierten Studien recht sein kann. Nicht alles, was hierbei zu Tage tritt, trägt zur Erweiterung bisheriger Sichtweisen bei. Aber vieles erscheint in dem über das Theater hinausgehenden Rahmen in einem anderen Licht. Manches, was an Wagners Vorstellung von einem idealem Theater bisher nur schwer nachvollziehbar war, ergibt plötzlich einen Sinn und so manche Ungereimtheit löst sich auf.

In Wagners Schriften, Briefen und, nicht zu unterschätzen, in den Tagebüchern seiner Frau Cosima finden sich zahlreiche Belege für die von ihm empfundene Notwendigkeit filmischer Ausdrucksmöglichkeiten für das Theater. Jeder noch so geringe Aspekt der von ihm angestrebten Neuerungen wird in diesen Dokumenten, die insgesamt sehr viel umfangreicher sind als die gesammelten Werke der meisten eigentlichen Schriftsteller, in erschöpfender Weise dargestellt. Wagner war erkennbar kein Mann der vielen Fragezeichen. Nebulöse Antworten waren ihm lieber als offene Fragen. Viele seiner mitunter recht mühsamen Formulierungen entpuppen sich gerade im Kontext der vorliegenden Arbeit als wertvolle Zeugnisse, weil in ihnen die Anstrengung zum Ausdruck kommt, etwas sagen zu wollen, was zu seiner Zeit noch nicht präzise formuliert werden konnte. In solchen Passagen wird klar, dass die größte Bedeutung seiner kunsttheoretischen Äußerungen weniger in den Ausführungen selbst liegt als in Wagners untrüglichem Instinkt für die richtigen Fragen. Denn diese sind es letztendlich, welche die Kluft zwischen ihm und dem Film überbrücken.

Dem gegenüber stehen seine Bühnenwerke, bei denen es zwischen dem auch im Theater spürbaren filmischen Element und dem über das Theater hinausgehenden filmischen Anspruch zu unterscheiden gilt, wie er am deutlichsten im „Ring des Nibelungen“ erkennbar wird. Aus naheliegenden Gründen konzentrieren sich die folgenden Kapitel in erster Linie auf diejenigen Werke Wagners, welche seit dem Beginn der Arbeit am „Ring“ entstanden. Selbst hier aber sind nicht alle von gleicher Relevanz. Es ist daher wichtig, festzustellen, dass Wagners allgemeine Tendenz sich jeweils aus den Anforderungen seiner Werke herleitet und nicht umgekehrt, diese sich nach einer Tendenz richten. Ihre Unterschiedlichkeit ist dafür der beste Beweis.

In der Betrachtung außerhalb des engen Theaterrahmens zeigt sich, dass das größte Hindernis, welches zwischen Idee und Umsetzung des Gesamtkunstwerks liegt, das Theater selbst in seiner althergebrachten Form ist. Zweck und Ziel dieser Arbeit ist es daher, das Bild eines zeitgemäßen (Wagner-) Theaters zu entwerfen. Hierzu werden Funktionsweise und Wirkungsmechanismen des Wagnerschen Gesamtkunstwerks, wie auch entsprechende Analogien zum Film, erläutert und in der Gegenüberstellung mit neueren Erkenntnissen der Wahrnehmungspsychologie und Gehirnforschung in einen Bezug zur Gegenwart gebracht. Die dabei gewonnenen Einsichten werden schließlich abgeglichen mit dem, was nach dem letzten Stand der Technik bereits machbar ist oder in absehbarer Zeit machbar sein wird. Am Ende steht die Erkenntnis, dass am Beginn des 21. Jahrhunderts für Wagner gilt, was er selbst letztendlich geltend machte: die Zukunft ist heute.

Illusionen

Paris war das Hollywood des neunzehnten Jahrhunderts und die so genannte „Grand Opera“ der Vorläufer des Breitwandfilms. Internationalität, technische Perfektion und eine Überfülle an Mitteln konzentrierten sich hier, so wie sie heute dort zur Verfügung stehen. Und ähnlich, wie Hollywood gegenwärtig nicht in der Lage scheint, sich aus sich selbst heraus zu erneuern (hin zu einem vom Heimkino deutlich unterschiedenen Kinoerlebnis), blieb auch damals in Paris alles beim alten. Die Musik jedenfalls spielte bald woanders.

Lange nachdem der junge Richard Wagner in Paris Klinken und seine Frau Dielen geputzt hatte, fand sich in Gestalt des märchenköniglichen Wagner-Verehrers Ludwig II. endlich der Mann, der bereit war in die Zukunft zu investieren. Diese Zukunft trug den Namen Wagner. Denn Wagner lebte für die Zeit nach Wagner. Sein allumfassender, grenzüberschreitender und schrankenloser Gestaltungswillen kennt unter seinesgleichen keinen Vergleich. Eher muss man ihn wie einen großen Feldherren betrachten, für den Zeit und Raum keine relevanten Größen sind. Kompromisse kamen für ihn nicht in Frage. In seiner Autobiographie ist zu lesen: „Ich blieb unerschüttert bei dem Vorsatze, meine Nibelungen-Dramen in der Weise auszuführen, als ob das heutige Operntheater gar nicht bestünde, dagegen das von mir gedachte ideale Theater ganz notwendig dereinst mir erstehen würde.“[5] Er war überzeugt davon, dass die Zukunft ein neues Medium dramatischer Darstellung hervorbringen würde und er war überzeugt, die wichtigsten Eigenschaften dieses Mediums zu kennen: „Von meinem Standpunkte als Künstler der Gegenwart aus entwerfe ich aber Grundzüge, »des Kunstwerkes der Zukunft«, und zwar in Beziehungen auf eine Form, die nur der künstlerische Trieb eben jenes Lebens der Zukunft sich selbst bilden dürfte.“[6] Diese neue Form stellte er sich vor wie das Tor zu einer anderen Welt. Die Menschen würden durch das Kunstwerk der Zukunft in eine „ideale Traumwelt“ versetzt, könnten der Welt durch „hellsehend machenden Zauber“, „bewussten Wahn“ und „edle Täuschung“ entfliehen. Am Beginn eines neuen, wissenschaftlich-technischen Zeitalters stehend, welches dem Menschen eine Illusion nach der anderen nahm, war er sich sicher, zu wissen, was zukünftige Menschen noch mehr brauchen würden als die Menschen der Gegenwart: Illusionen. Doch auch die Einsamkeit des großen Mannes, der keine Illusionen zu verlieren hat, weil seine Größe gerade darin besteht, das Wesen der Welt unverschleiert zu erkennen, trug das Ihrige dazu bei: „Der ungewöhnliche, große Mensch befindet sich gewissermaßen täglich in der Lage, in welcher der gewöhnliche sofort am Leben verzweifelt. [...] Dennoch müßte in ihm die Sehnsucht, dieser Welt gänzlich den Rücken zu wenden, nothwendig und unabweislich zwingend anwachsen, wenn es nicht auch für ihn, wie für den in steter Sorge dahinlebenden gemeinen Menschen, eine gewisse Zerstreuung, eine periodische völlige Abwendung von dem, sonst ihm stets gegenwärtigen Ernste der Welt gäbe. Was für den gemeinen Menschen Unterhaltung und Vergnügen ist, muß für ihn, nur eben in der ihm entsprechenden edlen Form, ebenfalls vorhanden sein; und was ihm diese Abwendung, diese edle Täuschung, möglich macht, muß wiederum ein Werk jenes Menschen erlösenden Wahnes sein, der überall da seine Wunder verrichtet, wo die normale Anschauungsweise des Individuums sich nicht weiter zu helfen weiß. Dieser Wahn muß in diesem Falle aber vollkommen aufrichtig sein; er muß sich von vornherein als Täuschung bekennen, um von Demjenigen willig aufgenommen zu werden, der wirklich nach zerstreuender Täuschung, in dem von mir gemeinten großen und ernsten Sinne, verlangt. Das vorgeführte Wahngebilde darf nie Veranlassung geben, den Ernst des Lebens durch einen möglichen Streit über seine Wirklichkeit und beweisbare Thatsächlichkeit anzuregen oder zurückzurufen, wie dieß das religiöse Dogma thut: sondern seine eigenste Kraft muß es gerade dadurch ausüben, daß es den bewußten Wahn an die Stelle der Realität setzt. [...] Die Nichtigkeit der Welt, hier ist sie offen, harmlos, wie unter Lächeln zugestanden: denn, daß wir uns willig täuschen wollten, führte uns dahin, ohne alle Täuschung die Wirklichkeit der Welt zu erkennen.“[7] Als Wagner mehr als zwanzig Jahre nach dem Beginn seiner Arbeit am „Ring des Nibelungen“ die Vollendung desselben in greifbare Nähe rücken sah, schien ihm auch die Zukunft plötzlich zum Greifen nahe. Er griff mit der ihm eigenen Entschlossenheit zu und legte auf einem grünen Hügel in der fränkischen Provinz den Grundstein zu einem Theater nach seinen Vorstellungen. Damit begann jenes Kapitel im Leben Wagners, welches ihn den Nachgeborenen als einen Vorreiter des Films erscheinen ließ. Das war er wohl in gewisser Weise auch und doch hätte er künstlerisch mit dem Film nicht viel anzufangen gewusst. Dies liegt vor allem an der eingeschränkten Wiederholbarkeit. Die meisten Filme sind nicht dafür gemacht, mehrmals angeschaut zu werden und selbst der beste Film erschöpft sich in seiner Wirkung bei häufiger Betrachtung. Das hat nur zum Teil mit der Art der Handlung zu tun, sondern vor allem auch damit, dass Bilder besonders gut im Gedächtnis haften bleiben. Dem auf Dauer und allgemeine Gültigkeit angelegten, sich selbst erneuernden Kunstwerk, steht dieser Aspekt des gegenwärtigen Films entgegen. Würde man allerdings annehmen, das Wagnersche Gesamtkunstwerk und der Film näherten sich demselben Ziel, nur aus entgegengesetzter Richtung, das eine aus dem „Geist der Musik“ heraus, der andere vom Bild ausgehend, so ließe sich dem Filmischen bei Wagner eine andere Qualität abgewinnen als der Hinweis auf Gemeinsamkeiten. Daraus ergäbe sich ganz von selbst die Frage, ob und in welcher Form eine Zusammenführung Wagners mit dem Film jenem Ziel näher kommen könnte, für das Wagner sich ein Wagner-Theater baute, welches man seinerzeit für das Theater der Zukunft hielt.

Ein Jahrzehnt vor diesem Unternehmen hatte er sich noch damit bescheiden müssen, dem alten Theater eine neue Musik zu geben. Denn im Rahmen einer Reihe von Wagner selbst überwachter und daher von ihm als mustergültig bezeichneter Aufführungen im München der sechziger Jahre, gab es, trotz szenischer Sorgfalt, vor allem etwas zu hören. Mit „Tristan und Isolde“ und „Die Meistersinger von Nürnberg“ kamen zwei neue Werke zur Aufführung, die Wagners Ruf als Zukunftsmusiker festigten. Allerdings waren es unter den von Ludwig II. gesponserten „Musteraufführungen“ sämtlicher bis dahin fertig gestellter Werke Wagners eben jene beiden Neulinge, die nach allgemeiner Auffassung am ehesten auch sehenswert waren. Die erhaltenen Bühnenbildmodelle und gut dokumentierten Berichte der Münchener Aufführungen[8] belegen, dass die szenische Realisierung immer dort an deutliche Grenzen kam, wo „Fantasy“ im Spiel war. Es überrascht daher kaum, dass gerade „Tristan“ und „Meistersinger“, die durch ihre realistische Handlung eine Sonderstellung unter den Werken Wagners einnehmen, szenisch besonders überzeugen konnten. Das dürfte auch Wagner nicht entgangen sein. Hatte er gedanklich das herkömmliche Theater schon lange abgeschrieben, so nahm mit jeder weiteren Theatererfahrung die Idee eines völlig neuartigen und in der Besonderheit seines Aufbaus einzigartigen Theaterbaus konkretere Gestalt an. Nur dort nämlich würde er sein „Fantasy-Großprojekt“, den „Ring“, zum Leben erwecken können. Ganz im Geist späterer Zeiten war bei der Umsetzung Zweckmäßigkeit oberstes Gesetz. Die Anordnung des Raums ist dem Saal eines modernen Kinos ziemlich ähnlich, weil hier wie dort die freie, ungestörte und geradlinige Sicht maßgebend ist, mit dem Ziel, die Distanz zwischen Betrachter und Bild aufzuheben. Das Orchester, welches in jedem herkömmlichen Theater in einem Graben vor der Bühne untergebracht ist, wurde von Wagner unter die Bühne verbannt. Kein störendes Licht scheint nun mehr aus dem Graben herauf. Einzig eine schmale, nicht einsehbare Schallöffnung befindet sich zwischen Bühne und Zuschauerraum. Wagner hatte also den herkömmlichen Theatersaal in einen Quasi-Kinosaal verwandelt. Nur der Film war noch nicht gedreht, - genauer gesagt, er war noch nicht einmal erfunden. Das allerdings war nicht das Problem. Das eigentliche Missverhältnis war eher, dass Wagner zwar ein völlig neues Theater hatte, mitnichten aber eine neue Bühne.

Es war daher ein Sprung in eiskaltes Wasser, als Wagner in Bayreuth, energisch wie nie zuvor in der Geschichte des Theaters, versuchte, eine phantastische Geschichte vor den Augen und nicht nur in der Einbildung des Zuschauers Wirklichkeit werden zu lassen. Was erst hundert Jahre später George Lucas mit seiner „Star Wars“ - Trilogie gelang, ist auf dem Theater selbstverständlich unmöglich zu erreichen. Dennoch war auch das, was es letztendlich bei den ersten Aufführungen der Wagnerschen Trilogie zu sehen gab nicht minder auszeichnungswürdig. Die Eindrücke, welche der szenische Teil der Vorstellungen bei damaligen Berichterstattern aus Presse und Kulturleben hinterließ, geben darüber einigen Aufschluß:

„Wagners Vielseitigkeit, ohne Frage die glänzendste Seite seiner Begabung, lässt ihn zugleich mit dem Spezialtalent des Musikers, des Malers, des Textdichters und des Regisseurs arbeiten und erzielt oft durch die drei letzteren, was der erste allein nicht bewirkt hätte. Insbesondere die malerische Phantasie Wagners arbeitet rastlos in den Nibelungen, von ihr scheint der erste Anstoß ausgegangen zu so mancher Szene. Betrachtet man die Photographien der von Joseph Hoffmann so fantasievoll entworfenen Dekorationen, so gerät man unwillkürlich auf den Gedanken, es mögen Wagners Einbildungskraft zuerst solche Bilder aufgestiegen sein und dann die entsprechende Dichtung und Musik nachgezogen haben. So ist es gleich mit der ersten Szene des Vorspiels. Die im Rheine singenden und schwimmenden Rheintöchter [...] geben für sich ein Tableau, welches man gar nicht genug auf die Musik ansieht. Die Szene wirkte in Bayreuth umso günstiger, als die Dekoration und die von unten dirigierte Maschinerie der Schwimmenden vollständig gelungen war [...]. Niemals zuvor ist in einer Oper solche Häufung szenischer Wunder vorgekommen. [...] Wagner arbeitet überall auf den stärksten sinnlichen Eindruck hin, und das mit allen Mitteln [...] In den zahlreichen Nachtszenen beleuchtet grelles elektrisches Licht die Gestalt der Hauptperson, und farbige Dämpfe wallen ab und zu, jetzt zusammengeballt, dann sich teilend über die Bühne. Diese Dämpfe, die im Rheingold sogar die Stelle des Zwischenvorhangs vertreten, bilden eine Hauptmacht in Wagners neuem dramatischen Arsenal [...] Von da an ist nur noch ein Schritt zur künstlichen Einführung bestimmter Gerüche und Düfte auf die Szene [...] Alle modernen Fortschritte angewandter Naturwissenschaft hat sich Wagner dienstbar gemacht; mit Staunen haben wir die riesige Maschinerie, die Gasapparate, die Dampfmaschinen auf und unter der Bayreuther Bühne gesehen. Vor Erfindung des elektrischen Lichts konnten Wagners Nibelungen ebenso wenig komponiert werden, als ohne die Harfe und Basstuba.“[9]

„Es ist wahr, der hässliche Souffleurkasten stört uns hier nicht mehr, die Darsteller bleiben stets innerhalb des Bühnenrahmens, ohne je bis an die Rampen hervorzutreten[...]. Ferner sind ganz vortreffliche Beleuchtungsapparate zur Stelle, die hier und da einen gewissen Effekt, in einzelnen Fällen sogar eine ungemein frappierende Wirkung hervorbringen – indessen damit wären wirklich die großen szenischen Reformen zu Ende.“[10]

„Schier an ein Wunder grenzt es, wie die Rheintöchter so mitten im Wasser schwebend gehalten werden. Das ist ein Triumph der bühnentechnischen Illusion. [...] Die dritte Szene im Reiche Nibelheim ist packend. [...] alles vereinigt sich zu einem Gemälde von imposanter Wirkung. [...] Dieser erste Abend beweist schon zur Genüge, daß die Aufgabe in Bayreuth in vollendeter Weise gelöst ist. [...] Das ist die Kunst der Zukunft. Weder die Oper noch das Drama, auch das Lyrische nicht, werden jeh ähnliche Gemütserregungen hervorrufen können. [...] Die Walküre schließt mit einem zauberischen Gemälde, dessen Töne und Farben gleichermaßen Ohr wie Auge blenden. [...] Der zweiter Akt zeigt uns Alberich schlafend vor der Höhle, wo Fafner seinen berühmten Ring bewacht. Der Akt ist sehr geschickt gemacht und weist lebensvolle Szenen auf. Man findet darin das Gewagteste, was je im Theater geboten wurde. [...] Ein Männerchor, der in malerischer Gruppierung sich über herabliegende Felsen ausbreitet, zaubert Wirkungen, mächtiger als die irgendeiner Szene der drei vorangehenden Abende. [...] Das unsichtbare Orchester bedeutet unbestreitbar einen Gewinn, der in Zukunft überall nutzbar gemacht werden sollte und wohl auch werden wird [...].“[11]

„Und in der That hat Alles, was mit der Bühnentechnik zusammenhängt, seit dem Auftreten Wagners einen ungeahnten Aufschwung genommen – ob zum Segen der dramatischen Kunst, bleibe dahingestellt [...]. Daß der „Ring des Nibelungen“ bühnenfähig sei, war über jeden Zweifel erhaben; denn Wagner hatte ihn geschaffen, und Wagner verstand sich auf das Theater wie kein Anderer.“[12] Natürlich ging nicht alles glatt bei diesen Aufführungen. Manche Dinge, insbesondere der Weltuntergangsschluss der „Götterdämmerung“ misslangen sogar völlig. Und wie auch heute noch in Bayreuth üblich, sollten daher im Folgejahr Korrekturen angebracht werden. Seinem Regieassistenten verkündete Wagner lapidar: „Nächstes Jahr machen wir alles anders“[13]. An anderer Stelle teilte er mit, er gedenke „in einzelnen Theilen auch eine geeignetere Besetzung der Rollen vorzunehmen, und Alles in den Aufführungen erkannte Mangelhafte und Ungeeignete durch sorgfältiges Nachstudiren [zu] verbessern, wie denn auch die scenisch-decorative Ausstattung der besonnensten Nachhilfe und theilweisen Erneuerung bedarf.“[14] Fehlerbehebung, das war das eine. Das andere war, dass es nicht viel gebracht hätte. Denn Wagner war mit den Aufführungen grundsätzlich unzufrieden. Er war mit seiner Zukunftskunst in der Gegenwart angekommen und hatte sich doch mit Bayreuth eigentlich in die Zukunft katapultieren wollen. Er wollte mehr als das Theater konnte, sein eigenes nicht ausgenommen. Zunächst war das nur ein unbestimmtes Gefühl, welches sich in einigen fatalistischen Äußerungen Bahn brach. Seiner Frau gestand er, „seine Hauptempfindung während der Aufführungen sei »nie wieder, nie wieder« gewesen.“[15] Dem königlichen Freund gegenüber wurde er kurz nach den Aufführungen konkreter, indem er feststellte, die Zeit sei noch nicht reif für ihn und sein Werk. Warum, konnte er selbst nicht wirklich sagen, versuchte es aber auch gar nicht erst und so war der Dampf, den er diesbezüglich abließ, leider auch nicht mehr als heiße Luft: „Der unbestreitbarste äussere Erfolg, selbst die begeistertsten Zustimmungen vieler enthusiastischer Freunde, können mir einen Abgrund nicht verdecken, von welchem mir nun der letzte Schleier hinweggezogen worden ist: ich und mein Werk haben keinen Boden in dieser Zeit. Es ist nicht möglich, dass diese täglich als nichtswürdiger erkannte Zeitumgebung, mit ihren elenden Tendenzen und gemeinem Treiben, mich und mein Werk sich aneignen können sollte. Nur immer grösserem Verfalle sehe ich entgegen. So will ich denn mein Werk auch nur vor mir, - vor Ihnen, mein Erhabener, retten. Ich will es noch pflegen, bis es in allen Theilen, soweit unsere schlecht geleiteten und verwendeten Kunstmittel reichen, rein, deutlich und mindestens correct dasteht“[16]. Die Wahrheit aber war, dass Wagner erfahren hatte, dass sein immenser Wille nicht nur die Vorstellungskraft seiner Zeitgenossen, sondern auch seine eigene Vorstellungskraft überstieg. Entweder musste er sich nach dieser Erfahrung nun für einen Phantasten halten, blind für die durch die Realität vorgegebenen Grenzen, oder aber, er klammerte sich weiter an die Zukunft, so wie er es früher schon immer getan hatte. Beides jedoch hätte Kapitulation bedeutet. So weit war er aber noch lange nicht und schlug daher einen dritten Weg ein, der ihm außerdem dadurch erleichtert wurde, dass aufgrund des finanziellen Desasters weitere Aufführungen des „Rings“ in weite Ferne rückten. Hatte er mit dem „Ring“ in Bayreuth die Zukunft nur einleiten können, so wollte er nun mit einem neuen, speziell für das Bayreuther Theater geschriebenen Werk, der Zukunft noch einmal entgegentreten und sie damit möglicherweise doch noch bezwingen. Ein Stück weit kam er damit allerdings auch der Gegenwart entgegen. Denn nie hatte Wagner so weit jenseits aller Kompromisse und völlig unbeeindruckt von der Theaterwirklichkeit geschrieben, wie seinerzeit bei der Arbeit am „Ring“. Niemand wusste das so genau wie er selbst: „ich entwarf den „Ring des Nibelungen“, und ich bin mir dort treu geblieben, es hat wohl Einbiegungen gegeben, aber es waren keine Konzessionen.“[17] Bei einer anderen Gelegenheit wurde er noch deutlicher: „Und wie er sich auskleidet, freut er sich des »Ringes« - die anderen Werke alle stecken in einer gewissen Konvention“[18]. Mit diesen anderen Werken aber käme er, gerade wegen ihrer leichteren Vereinbarkeit mit der Theaterwirklichkeit, auf dem Weg zum Theater der Zukunft sogar noch einen Schritt weiter als mit dem „Ring“. Absolute Priorität hatte daher von jetzt an der für Bayreuth im Entstehen begriffene „Parsifal“, den Wagner „wie, um sich zu helfen und sich zu retten“, nicht zuletzt auch deshalb in Angriff nahm, um „die kummervolle Zeit nach den Aufführungen“[19] hinter sich lassen zu können. Wenn Wagner flüchtete (und das tat er ein halbes Leben lang), dann stets nach vorne. Der „Ring“, dem er in diesem Fall den Rücken zukehrte, würde entweder, so wie er ihn sich vorstellte, ewig unrealisierbar bleiben oder aber auf einer Bühne der Zukunft verwirklicht werden, deren Beschaffenheit ihm verschlossen bleiben musste. Wagner war schwer enttäuscht, die mit Bayreuth verbundene Hoffnung, das Kunstwerk der Zukunft selbst noch erfüllt sehen zu können, aufgeben zu müssen. Daher dauerten seine Klagen über den „Ring“ noch einige Jahre an: „Bei Tisch und nachmittags Erinnerungen an die Spiele, an das Phantastische des Äußeren derselben, an die geglückten Momente der Aufführungen, an die Trostlosigkeiten (Richter-Tempi). »Was Glanz und Ehre betraf, war es unglaublich«, sagt R., »und muß man mich für verrückt halten, daß ich nicht damit zufrieden sei.“[20] Wenigstens die mit Bayreuth verbundene Idee vom Theater der Zukunft wollte er für künftige Zeiten bewahren: „Soll ich nun alles aufgeben, Schreiberei, Patronat- Verein, wie ich so oft Lust habe, dann aber ist auch alles aus, dann verschimmelt das Theater, nie wieder wird der Gedanke aufgenommen.“[21] Er machte also weiter, aber ganz offensichtlich nicht mehr als Gipfelstürmer, sondern, vergleichsweise bescheiden, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. An Ludwig II. schrieb er in jenen Wochen: „Die ungeheuere Mühe einer möglichst stylvollen Aufführung meines Nibelungenwerkes hat mich, da sie doch endlich auch nur zur Geburt eines gewöhnlichen Theaterkindes führte, sehr erschöpft; Nichts habe ich damit aufgebaut, nichts als ein leerstehendes Gehäuse“.[22] Aus dieser Bemerkung geht deutlich hervor, wie sehr Wagner sein Werk unterschieden sah, von allen bis dato bekannten Formen des Theaters. Denn, dass er mit dem „gewöhnlichen Theaterkind“ nicht eine Aufführung wie jede andere meinte, versteht sich beinahe von selbst. Eine weitere mündliche Äußerung bekräftigt noch einmal, wie sehr auch Bayreuth seiner Ansicht nach noch entfernt war von seiner Zukunftsidee: „Wie R. mit Buonamici zufällig über Garibaldi spricht, meint der Gute, G. habe zu lange gelebt, habe Dummheiten gemacht, R. sagt: »Sticheln Sie nicht auf mich«, auf das Lachen fügt er ernst, wie für sich, hinzu: Bayreuth war ein Unsinn!“[23] Die Klagen verebbten erst, als die Vollendung des „Parsifal“ näherrückte. Es ist anzunehmen, dass er sich ab dem „Parsifal“ damit abfand, mit Bayreuth wenigstens den entscheidenden ersten Schritt zum Theater der Zukunft gegangen zu sein. Dieses Zukunftstheater sah jedoch in den Augen der Nachgeborenen ziemlich bald ziemlich alt aus. Bezeichnete der zeitgenössische Kritiker Eduard Hanslick Wagner noch als „ersten Regisseur der Welt“[24], so belächelten die Nachgeborenen seine in vielerlei Hinsicht unrealistischen und theaterfernen Aufführungsanweisungen. Man sah nicht mehr mit Wagner die Notwendigkeit eines neuen Theaters, sondern stellte sich die Aufgabe, Wagner mit dem bestehenden Theater kompatibel zu machen. Das bedeutete zuallererst Abkehr von der naturalistischen Darstellung. In der Tat war das auch der einzige Weg, um Wagner in zufriedenstellender Form auf dem Theater präsentieren zu können und insofern nicht nur folgerichtig, sondern auch unbedingt notwendig. Als Kehrseite dieser Erfolge verbreitete sich allerdings die Ansicht, Wagner benötigte überhaupt kein neues Theater, sondern nur ein wenig mehr Theatersinn, als er selbst ihn besessen hatte. Dieses Missverständnis erklärt teilweise, warum Opernhäuser heute noch genauso unsinnig gebaut werden, wie sie schon vor Wagner gebaut wurden. So ist bei mindestens einem Drittel der Sitzplätze die Sicht in der Regel eingeschränkt, zum Teil sogar erheblich. Kaum weniger Plätze sind aus verschiedenen Gründen akustisch ungünstig. Kein Theater hat sich außerdem die in mehrfacher Hinsicht vorteilhafte Lösung des „tiefergelegten“ Bayreuther Orchestergrabens zu eigen gemacht, obwohl es kein Problem wäre, bei kleineren Besetzungen den Schalldeckel abzunehmen. In seinem Aufbau ist Wagners eigenes Theater daher nach wie vor das modernste Theater der Welt. Alle anderen Operntheater werden bis heute so gebaut, als würde ein wesentlicher Teil der Aufführung im Zuschauerraum stattfinden und als sei das Musiktheaterereignis vor allem ein akustisches Ereignis, obwohl seit einiger Zeit erhebliche Mittel darauf verwendet, dass es vor allem etwas zu sehen gibt. In einer Hinsicht jedoch bildet das Salzburger Festspielhaus eine Ausnahme. Die dortige überbreite Bühne ist ein eindeutiger Fortschritt und zwar auch dem Bayreuther Haus gegenüber. Diese Bühne im Kinoformat orientiert sich viel eher an unseren Sehbedürfnissen als der enge Guckkasten. Wagner dachte für Bayreuth anscheinend in die gleiche Richtung, doch gab es bei der Verwirklichung wohl einige Hindernisse. So zeigte er sich nach einer Besichtigung des Hauses seinem Bühnenmeister Brandt gegenüber regelrecht alarmiert: „Wie breit ist unser Bühnen-Proscenium? -Der Bauführer sagt: »47 Fuß, davon noch 2 Fuß für Prosceniums-Säulen abgehen. Hiermit würden wir die Breite des Münchener Theaters haben.« - Gut! Aber, - sähen Sie sich die Sache jetzt nur einmal an! Nun der Zuschauerplatz eingelegt ist, erscheint die Bühne (d.h. das Proscenium) auffallend schmal, und ich fürchte, es macht einen - wie soll ich sagen - demüthigenden, niederschlagenden Effekt.“[25] Brandt erinnerte ihn hierauf an vergangene Diskussionen dieses Themas und so gab Wagner, der ohnehin genug um die Ohren hatte, klein bei: „Sehr wohl entsinne ich mich aller der Umstände, unter welchen das Proscenium unseres Theaters verengt wurde! Nun, wir werden ja die Sache nächstens in Augenschein nehmen: so gefährlich wird es am Ende nicht sein. Ich meinte nur so.“[26] Man könnte nun natürlich die Frage anschließen, ob solche Dinge nicht eigentlich Nebensächlichkeiten sind und am Ende nur von geringer Bedeutung. Ein solcher Einwand hätte bezogen auf das herkömmliche Theater durchaus seine Berechtigung. Im Wagnerschen Illusionstheater jedoch ist der äußere Rahmen kaum weniger wichtig, als das, was sich innerhalb dieses Rahmens abspielt. Beides ist eng miteinander verknüpft, wie im Gesamtkunstwerk überhaupt alles in wechselseitiger Beziehung steht und daher auch nur im Zusammenhang betrachtet werden darf. Das gilt selbstverständlich genauso für die Inszenierung. Heute ist die Ansicht verbreitet, dass Wagner sich bei der szenischen Realisierung, wäre er denn wirklich der Regisseur gewesen, der er zu sein glaubte und als der er zu seiner Zeit angesehen wurde, mehr auf den symbolischen Gehalt seiner Werke konzentriert hätte. Man kritisiert ihn also bis heute indirekt dafür, dass er nicht im Geist der Nachgeborenen Appia, Preetorius/Tietjen oder Wieland Wagner inszenierte. Tatsächlich wäre er dann nicht in Konflikt mit der Bühnenrealität und den Möglichkeiten der Bühnentechnik gekommen und wohl auch seinen Werken eher gerecht geworden. Denn richtig ist sicherlich, dass sich Wagners „innere Bilder [...] nicht in die Realität der illusionistischen Guckkastenbühne umsetzen“[27] lassen. Das bedeutet genaugenommen aber nur, dass entweder die Bilder nicht stimmten oder der Rahmen, in dem sie präsentiert wurden. Auch beides ist natürlich möglich. In der typischen Manier jedoch, die Dinge für sich zu betrachten und nicht im Zusammenhang zu sehen, hat man bisher tatsächlich immer mit größter Selbstverständlichkeit Wagners „innere Bilder“ verurteilt. Dabei entsprach das, was von diesen „inneren Bildern“ schließlich auf der Bühne zu sehen war, nicht einmal dem, was man damals üblicherweise auf den Bühnen zu sehen bekam. Die realistische Umsetzung von Bildern, die der Phantasie entstammen, war nämlich keineswegs zeittypisch oder in der Zeit befangen. Zeittypisch war vielmehr die realistische Umsetzung historischer Schauplätze und Gewänder. Wagner jedoch hielt nichts von historischer Genauigkeit auf dem Theater, umso weniger als sich seiner Ansicht nach historische Themen für die moderne Bühne nicht eigneten: „Worauf es uns jetzt hierbei aber ankommt, ist die faktische Bestätigung Dessen, daß wohl für Shakespeare, auf dessen Bühne für die Scene an die Phantasie appellirt wurde, nicht aber für uns, die wir auch die Scene überzeugend an die Sinne dargestellt haben wollen, der Historie der Stoff zum Drama zu entnehmen ist.“[28] Dass seine Werke seit dem „Ring“ (ausgenommen die „Meistersinger“) mit Historie nicht viel zu tun haben, ist bekannt. Der Anspruch Wagners aber, eine Welt der Phantasie vor den Augen und nicht nur in der Einbildung des Zuschauers Wirklichkeit werden zu lassen, ist ganz und gar neuartig. Man kann sagen, dass sich das bisher dem Idealismus vorbehaltene Credo „Nichts ist unmöglich“ in der Person Wagners bereits mit dem gleichlautenden Glaubensbekenntnis zukünftigen modernen Fortschrittsdenkens verbündete. Wagner reiht sich damit mühelos in die Generation der rund achtzig bis hundert Jahre nach ihm geborenen ein, die in ihrer Modernitätsfeindlichkeit einerseits und ihrem technologischen Ehrgeiz andererseits dem 20. Jahrhundert ihren gestalterischen Stempel aufdrückte.

Der Kompromiss mit dem bestehenden Theater war für Wagner seinerzeit begreiflicherweise kaum diskutabel und wäre es heute erst recht nicht. Die Bayreuther Bühne indes erforderte nicht weniger Kompromisse als jede andere Bühne auch (der einzige wirkliche Unterschied war und ist die Möglichkeit zum uneingeschränkten Probieren). Man ist leicht geneigt, diese Kompromisse auf die Beschränkungen der damaligen Bühnentechnik zurückzuführen, muss sich aber in diesem Punkt eines besseren belehren lassen. Immerhin ist es nur zu menschlich, die Zeit vor der eigenen Zeit als unzulänglich wahrzunehmen. Dennoch war die Bühnentechnik des Bayreuther Festspielhauses zur Zeit Wagners von der unsrigen grundsätzlich unterschieden nur in der Beleuchtungs- und der ihr verwandten Projektionstechnik.[1] Der bildnerisch bedeutsame Schritt von der Kulissenbühne Wagners zur Raumbühne unserer Tage ging weniger einher mit neuen bühnentechnischen Möglichkeiten, sondern vielmehr mit den Fortschritten in der Beleuchtungstechnik. Man kann sogar sagen, dass er dadurch erst nötig wurde. Das bedeutet, dass mit den bühnentechnischen Möglichkeiten der Gegenwart vor allem in der Bildgestaltung und der Bildqualität bessere Resultate zu erzielen sind, wohingegen man in der bildnerischen Darstellung beinahe den gleichen Beschränkungen unterliegt, wie zur Zeit Wagners. Dafür existiert sogar so etwas wie ein Beleg: als Otto Schenk Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts den „Ring“ an der Metropolitan-Opera ziemlich genau nach Wagners Anweisungen in Szene setzte, stand er bei der Frage der technischen Machbarkeit (trotz erheblich größerer finanzieller Mittel) ähnlich hilflos da wie Wagner mehr als hundert Jahre zuvor. Die offenen Verwandlungen, die Szene auf dem Grund des Rheins, die fliegenden Walküren, die Traumerscheinung des Alberich, der Drachen, die Regenbogenbrücke etc., diese Dinge konnten selbst mit modernster Technik nur makelloser, aber nicht wirklich überzeugender umgesetzt werden. Möchte man eine ungefähre Ahnung davon erhalten, wie Wagners „Ring“ von 1876 aussah oder besser, wie er nach Abzug der Missgeschicke und mit ähnlichen finanziellen Mitteln ausgestattet, in etwa hätte aussehen können, so bieten jene Met-Aufführungen eine gute Orientierung. Sie lassen außerdem keinen Zweifel daran, dass Wagners szenische Vorstellungen wirksam sind im Sinne von Theatralik, was ganz offenbar nicht gleichbedeutend ist mit Theaterkompatibilität. Mit Sicherheit wäre Wagner mit diesen Aufführungen glücklicher gewesen als mit seinen eigenen (sofern man sie aus dem konventionellen New Yorker Met-Theater nach Bayreuth verfrachtet hätte). Wahrscheinlich würde er unter letztgenannter Bedingung sogar vollkommen glücklich mit dem Ergebnis gewesen sein. Es wäre nicht nötig geworden, in den Folgeaufführungen „alles anders“ zu machen. Und dennoch würde Wagner sehr wohl gewusst haben, dass sich damit sein Traum eines neuen Theaters noch nicht erfüllt hätte. Denn man muss sehr genau unterscheiden zwischen seinen konkreten szenischen Vorstellungen einerseits und seinen weitergehenden Vorstellungen von einer zukünftigen Form szenischer Darstellung andererseits, „wo diese beiden Prometheus' - Shakespeare und Beethoven - sich die Hand reichen; wo die marmornen Schöpfungen des Phidias in Fleisch und Blut sich bewegen werden; wo die nachgebildete Natur, aus dem engen Rahmen an der Zimmerwand des Egoisten, in dem weiten, von warmem Leben durchwehten, Rahmen der Bühne der Zukunft üppig sich ausdehnen wird“.[29] Von jener Bühne der Zukunft wird in dieser Arbeit vor allem die Rede sein.

Zunächst aber mögen die erwähnten Met-Aufführungen genügen als erster Hinweis darauf, dass das „Theater der Zukunft“, so wie es Wagner vorschwebte, womöglich überhaupt nicht ins Theater gehört. Bei den gegenwärtigen technischen Möglichkeiten jedenfalls nicht ins Live-Theater.

Grenzen des Live-Theaters

Die größte Stärke des Live-Theaters ist gleichzeitig auch seine größte Schwäche. Das Gefühl des Glücks, >dabei< zu sein, wenn sich vor den eigenen Augen etwas großes, einmaliges ereignet, ist auch deshalb so hochgeachtet, weil im Live-Theater nur äußerst selten etwas außergewöhnliches geschieht. Das liegt ganz einfach in den Gesetzmäßigkeiten der Theaterwirklichkeit begründet. Sicherlich mag die Frage nach den Vorzügen und Grenzen des Live-Theaters in Bezug auf die Oper hypothetisch anmuten, da es dort gegenwärtig keine adäquate Alternative zum Live-Theater gibt. Falsch wäre es allerdings, daraus zu schließen, dass es sie nicht auch geben könnte. Der technische Aufwand (3D-Film-Techniken und exakt lokalisierte Schallprojektion) wäre allerdings enorm, aber inzwischen durchaus zu bewältigen. Vermutlich wäre ein derartiges Unterfangen wegen seiner Ortsunabhängigkeit und damit einhergehender Verbreitungsmöglichkeiten sogar kostengünstiger als der herkömmliche, hochsubventionierte Theaterapparat. Für die Oper ist eine zeitgemäße mediale Präsentation jedoch nur denkbar neben dem Theater, kaum aber als Ersatz oder gar Fortentwicklung, da der museale Charakter dieser Gattung einer tiefergreifenden Erneuerung entgegensteht. Dies ist allerdings nicht der Ort, die Zukunft der Oper zu erörtern. Im Mittelpunkt steht das Werk Wagners, welches in der Lage gewesen wäre, die Oper in eine Zukunft hineinzuführen. Das es anders kam, dass es auf Wagners Weg keinen Nachfolger zu geben scheint und man daher geneigt ist, ihn als Sonderfall der Operngeschichte zu sehen, beruht auf einer irrigen Annahme. Man muss sich die Geschichte der Oper um der Deutlichkeit willen nur einmal als einen Stammbaum der Evolution vor Augen führen. Mit Richard Wagner spaltet sich der Hauptast auf in zwei Richtungen: der Ast, auf dem Wagners Werk angesiedelt ist, bringt den Film hervor[30], wohingegen die Evolution auf dem anderen der beiden Hauptäste in einzelne Nebenarme aufgeht, im Ganzen aber stehen bleibt.

[...]


[1] Cosima Wagner: Die Tagebücher: Band I (15.1.75), S. 3059. Digitale Bibliothek Band 107, S. 36220 (vgl. Cosima-Tagebücher 1, S. 888).

[2] Cosima Wagner: Die Tagebücher: Band II (18.1.81), S. 2234. Digitale Bibliothek Band 107, S. 39925 (vgl. Cosima-Tagebücher 2, S. 668).

[3] Cosima Wagner: Die Tagebücher: Band II (19.5.80), S. 1775. Digitale Bibliothek Band 107, S. 39466 (vgl. Cosima-Tagebücher 2, S. 534).

[4] Richard Wagner an Ludwig II. (18.11.82). Briefe und Briefwechsel in Einzelausgaben: König Ludwig II und Richard Wagner: Briefwechsel, S. 4447. Digitale Bibliothek Band 107, S. 28073 (vgl. BW-Ludwig II. Bd. 3, S. 251).

[5] Richard Wagner: Mein Leben. Dritter Teil: 1850-1861, S. 89. Digitale Bibliothek Band 107, S. 31891 (vgl. Wagner-Leben, S. 501).

[6] Richard Wagner: Eine Mittheilung an meine Freunde. Sämtliche Schriften und Dichtungen: Vierter Band, S. 416. Digitale Bibliothek Band 107, S. 2000 (vgl. Wagner-SuD Bd. 4, S. 239).

[7] Richard Wagner: Über Staat und Religion. Sämtliche Schriften und Dichtungen: Achter Band, S. 48-50. Digitale Bibliothek Band 107, S. 3579 (vgl. Wagner-SuD Bd. 8, S. 28, 29).

[8] Eduard Hanslick: R. Wagners Bühnenfestspiel in Bayreuth 1-4, Neue Freie Presse (Wien) 1876, in: Susanna Großmann-Vendrey : Bayreuth in der deutschen Presse 1, Bosse, Regensburg 1977, S.170-180.

[9] Isidor Kastan: Das Facit der Bayreuther Festspiele [I-III], Berliner Tageblatt 1876, in: Susanna Großmann-Vendrey: Bayreuth in der deutschen Presse 1, Bosse, Regensburg 1977, S.216-224.

[10] Camille Saint-Saens : Harmonie und Melodie (Bayreuth und >Der Ring des Nibelungen< [1876]), o.V., Berlin 1905, in: Herbert Barth (Hrsg.): Der Festspielhügel – Richard Wagners Werk in Bayreuth, DTV, München 1976, S.44-51.

[11] Max Kalbeck: Opernabende. Beiträge zur Geschichte und Kritik der Oper 1, Berlin 1898, S.139, in: Martina Sro>

[12] Richard Fri>

[13] Richard Wagner an Ludwig II. (11.9.76). Briefe und Briefwechsel in Einzelausgaben: König Ludwig II und Richard Wagner: Briefwechsel, S. 3913. Digitale Bibliothek Band 107, S. 27539 (vgl. BW-Ludwig II. Bd. 3, S. 90).

[14] Cosima Wagner: Die Tagebücher, Band I (5.11.76), S. 3689. Digitale Bibliothek Band 107, S. 36850 (vgl. Cosima-Tagebücher 1, S. 1013).

[15] Richard Wagner an Ludwig II. (11.9.76). Briefe und Briefwechsel in Einzelausgaben: König Ludwig II und Richard Wagner: Briefwechsel, S. 3913. Digitale Bibliothek Band 107, S. 27539 (vgl. BW-Ludwig II. Bd. 3, S. 90).

[16] Cosima Wagner: Die Tagebücher, Band II (1.8.81), S. 2591. Digitale Bibliothek Band 107, S. 40282 (vgl. Cosima-Tagebücher 2, S. 772).

[17] Cosima Wagner: Die Tagebücher, Band II (9.3.81), S. 2355. Digitale Bibliothek Band 107, S. 40046 (vgl. Cosima-Tagebücher 2, S. 708).

[18] Cosima Wagner: Die Tagebücher, Band II (21.12.81), S. 2867. Digitale Bibliothek Band 107, S. 40558 (vgl. Cosima-Tagebücher 2, S. 854).

[19] Cosima Wagner: Die Tagebücher, Band II (7.8.78), S. 496. Digitale Bibliothek Band 107, S. 38187 (vgl. Cosima-Tagebücher 2, S. 156).

[20] Cosima Wagner: Die Tagebücher, Band II (30.7.79), S. 1265. Digitale Bibliothek Band 107, S. 38956 (vgl. Cosima-Tagebücher 2, S. 389).

[21] Richard Wagner an Ludwig II. (25.8.79). Briefe und Briefwechsel in Einzelausgaben: König Ludwig II und Richard Wagner: Briefwechsel, S. 4140. Digitale Bibliothek Band 107, S. 27766 (vgl. BW-Ludwig II. Bd. 3, S. 158).

[22] Cosima Wagner: Die Tagebücher, Band II (20.8.80), S. 1945. Digitale Bibliothek Band 107, S. 39636 (vgl. Cosima-Tagebücher 2, S. 585).

[23] Eduard Hanslick: Aus dem Opernleben der Gegenwart, Moderne Oper III. Teil, Berlin 1885, S.324.

[[24]] Richard Wagner an Carl Brandt (4.10.73). Briefe in Originalausgaben: Richard Wagner: Bayreuther Briefe, S. 202. Digitale Bibliothek Band 107, S. 22053 (vgl. Wagner-B Bayreuth, S. 138-139).

[25] Richard Wagner an Carl Brandt (4.10.73). Briefe in Originalausgaben: Richard Wagner: Bayreuther Briefe, S. 205. Digitale Bibliothek Band 107, S. 22056 (vgl. Wagner-B Bayreuth, S. 140-141).

[26] Martina Sro>

[27] Richard Wagner: Oper und Drama, Sämtliche Schriften und Dichtungen: Vierter Band, S. 42. Digitale Bibliothek Band 107, S. 1626 (vgl. Wagner-SuD Bd. 4, S. 25).

[28] Richard Wagner: Oper und Drama, Sämtliche Schriften und Dichtungen: Dritter Band, S. 193. Digitale Bibliothek Band 107, S. 1204 (vgl. Wagner-SuD Bd. 3, S. 110).

[29] Dazu siehe auch: Detta und Michael Petzet: Die Richard Wagner-Bühne König Ludwigs II., Prestel, München 1970.

[30] Dazu siehe auch: Carl-Friedrich Baumann: Bühnentechnik im Festspielhaus Bayreuth, Prestel, München 1980.

[30] Die Verbindung zwischen dem, was Wagner wollte und dem, was der Film kann, ist offensichtlich. Dennoch existiert ein scharfer Bruch zwischen Wagners Werk und dem Film. Erstens, weil die Anfänge des Films einen nahtlosen Übergang nicht erlaubten. So etwa brauchte es gut 30 Jahre bis zum Tonfilm und gut 40 Jahre bis zum Farbfilm. Die Verwendung des Stereotons und der 3D-Film-Technik ließ noch weitaus länger auf sich warten, so lange, dass Wagner längst Geschichte war – und zwar Operngeschichte. Zweitens, weil das Drama, der gemeinsame Zweck, aus einer entgegengesetzten Warte heraus entsteht. Bei Wagner aus dem „Geist der Musik“ und beim Film aus dem „Geist der Bilder“.

Fin de l'extrait de 113 pages

Résumé des informations

Titre
Filmpreis für Richard Wagner - Eine zeitgemäße Betrachtung seines Theaters
Université
Academy of Music and Arts Hamburg  (Studiengang Musiktheaterregie)
Note
Mit Auszeichnung bestanden
Auteur
Année
2005
Pages
113
N° de catalogue
V68301
ISBN (ebook)
9783638594455
Taille d'un fichier
870 KB
Langue
allemand
Annotations
ERSTMALS ÜBERHAUPT setzt sich diese Arbeit detailliert mit dem vielbeschworenen filmischen Element im Werk Richard Wagners auseinander!
Mots clés
Filmpreis, Richard, Wagner, Eine, Betrachtung, Theaters
Citation du texte
Diplom-Musiktheaterregisseur Eric Schulz (Auteur), 2005, Filmpreis für Richard Wagner - Eine zeitgemäße Betrachtung seines Theaters, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/68301

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