Sophie Scholl. Eine junge Frau zwischen Begehren und Pflicht

Ein Interpretationsversuch anhand von Tagebüchern und Briefen


Dossier / Travail de Séminaire, 2002

107 Pages, Note: sehr gut


Extrait


Inhaltsverzeichnis

I. Interpretationsversuch – Sophie Scholls Briefe und Tagebuchaufzeichnungen
0. Zum Geleit
1. Zitate von Sophie – Betreff: Malerei und Zeichnerei
2. Zitate von Sophie – Betreff: Literatur
3. Zitate von Sophie – Betreff: Musik und kulturelles Leben
4. Zitate von Sophie – Betreff: Sprachästhetik, sprachliche Exaktheit, Logik und rhetorische Auffälligkeiten
5. Zitate von Sophie – Betreff: Funktionen des Briefschreibens und Wirkungen
6. Zitate von Sophie – Betreff: Natur
7. Zitate von Sophie – Betreff: Wunsch nach Struktur und Berechenbarkeit von Gegenwart und Zukunft, Machtlosigkeit in Bezug auf Planbarkeit
8. Zitate von Sophie – Betreff: Der Umgang mit den Begriffen „Welt“ und „Insel“, die Funktionalisierung von Objekten und Gedanken zur Erstellung einer emotionalen Verbindung und Nähe, zur Erstellung eines Heimatgefühls
9. Zitate von Sophie – Betreff: Ausdruck von Emotionen
10. Zitate von Sophie – Betreff: Entwicklung ihres Menschenbildes
11. Zitate von Sophie: Betreff – Das Bedürfnis – Schönes zu teilen, Bescheidenheit und moralischer Anspruch
12. Zitate von Sophie – Betreff: Religion und Gott
13. Zitate von Sophie – Betreff: Zeit
14. Zitate von Sophie – Betreff: Bewährungs- und Erwartungshaltung in Bezug auf eine besondere Zukunft
15. Zitate von Sophie – Betreff: Arbeit und Lernen
16. Zitate von Sophie – Betreff: Erziehung und pädagogischer Beruf
17. Zitate von Sophie – Betreff: Weiblichkeitsbild und Geschlechterverhältnis
18. Zitate von Sophie – Betreff: Beziehung zu Fritz Hartnagel und Wandlungsprozesse

II. Zitatensammlung.

I. Interpretationsversuch – Sophie Scholls Briefe und Tagebuchaufzeichnungen.

0. Zum Geleit.

Die folgende Interpretation beruht auf einer kategorischen Zitatensammlung, der Einbeziehung weiterer Zitate aus den Brief- und Tagebuchaufzeichnungen und den Vernehmungsprotokollen.

Durch einen selektiven Leseprozess der Publikation von

Jens, Inge (Hg.): Hans Scholl und Sophie Scholl. Briefe und Aufzeichnungen. Frankfurt am Main 1998.

sind Textfragmente aus Sophies Briefen und Tagebucheintragungen zusammengetragen worden, die thematische Parallelen aufweisen.

Mit dieser Lesemethode ist eine Zitatensammlung mit folgenden Kategorien entstanden:

1. Malerei und Zeichnerei
2. Literatur
3. Musik und kulturelles Leben
4. Sprachästhetik, sprachliche Exaktheit, Logik und rhetorische Auffälligkeiten
5. Funktionen des Briefschreibens und Wirkungen
6. Natur
7. Wunsch nach Struktur und Berechenbarkeit von Gegenwart und Zukunft, Machtlosigkeit in Bezug auf Planbarkeit
8. Der Umgang mit den Begriffen „Welt“ und „Insel“, die Funktionalisierung von Objekten und Gedanken zur Erstellung einer emotionalen Verbindung und Nähe, zur Erstellung eines Heimatgefühls
9. Ausdruck von Emotionen
10. Entwicklung ihres Menschenbildes
11. Das Bedürfnis – Schönes zu teilen, Bescheidenheit und moralischer Anspruch
12. Religion und Gott
13. Zeit
14. Bewährungs- und Erwartungshaltung in Bezug auf eine besondere Zukunft
15. Arbeit und Lernen
16. Erziehung und pädagogischer Beruf
17. Weiblichkeitsbild und Geschlechterverhältnis
18. Beziehung zu Fritz Hartnagel und Wandlungsprozesse

Für den Nachvollzug der Interpretation ist mindestens ein oberflächliches Gelesenhaben der Publikation und biographischer Informationen obligat, insbesondere auch – weil die Interpretation keinen verlässlichen Aufbau von Hintergrundinformationen gewährleistet.

Angeraten ist, beim Lesen der Interpretation pro Kategorie jeweils die dazugehörende kategorische Zitatensammlung vergleichend heranzuziehen.

Zwar habe ich in der Interpretation Zitate häufig in den Text integriert – manchmal verweise ich jedoch nur auf das Briefdatum, so dass ein Zugang zur Quelle für den Nachvollzug des Interpretationszusammenhangs erstellt werden muss. Außerdem erfahren meine in der Interpretation aufgestellten Thesen über die Akkumulation von Zitaten – die eine Kategorie betreffen, starke Unterstützung. Damit steht ein in dieser Interpretation angeführtes Zitat funktional für die Untermauerung der von mir aufgestellten These, jedoch zumeist nur stellvertretend für die Kategorie oder einen Bereich der Kategorie, aus dem das Zitat entnommen wurde.

Die kategorische Zitatensammlung ist im Anschluss dieser Arbeit aufgeführt.

Als Einwand gegen die Methode des bewusst selektiven Lesens und darauf bauender Kategorisierung kann natürlich angeführt werden, dass damit Auslassungen von Themen entstehen, die Sophie nur vereinzelt verschriftlicht hat, denn eine Kategorisierung baut auf der kontinuierlichen Wiederholung eines Themas.

Da mit dieser Methode jedoch wichtige inhaltliche Schwerpunktthemen herauskristallisiert worden sind und es außerdem durch eine Aneinanderreihung der thematisch analogen Zitate möglich wurde, Denk- und Entwicklungsprozesse zu erschließen, halte ich das Vorgehen für sehr fruchtbar.

Ein weiterer Vorteil der Kategorisierungsmethode erschloss sich mir, als ich beim inhaltlichen Vergleich der Kategorien funktionale Parallelen aufweisen konnte.

Dass Sophie sehr bewusst Strategien zum Zwecke der Schaffung einer emotionalen Balance in einer von Harmonie-, Struktur- und Schönheitslosigkeit empfundenen Zeit entwickelt, wird in dieser Interpretation aufgewiesen und mit zahlreichen Belegen untermauert.

Nachgewiesen in diesem Sinne wird eine bewusste Funktionalisierung des Briefschreibens und Briefwechsels, der Arbeit und des Lernens, der Natur, der Musik, emotional besetzter Objekte und der Beziehung zu Fritz.

Der Begriff der Funktionalisierung wird folglich in dieser Arbeit eine große Rolle spielen.

Betont sei an dieser Stelle, dass ich diesen Begriff nicht in negativem Bezug gebrauche, das heißt – konnotiert mit dem Missbrauchs- und Ausbeutungsgedanken.

Ein solches Begriffsverständnis zu vermuten, liegt nahe, da man den Funktionalisierungsbegriff dem Bereich der Technik zuordnen kann und damit dem Bereich der mechanischen Leblosigkeit, der speziellen mechanischen Aufgabenerfüllung, des nutzenorientierten Dienstverhältnisses zwischen Mensch und technischem Objekt über das Funktionsgebot.

Ich verwende den Begriff der Funktionalisierung mit positiver Konnotierung.

Mit diesem Begriff wird in dieser Arbeit aufgezeigt, wie Sophie verschiedenen Dingen der von ihr wahrgenommenen Umwelt Aufgaben zuweist, die ihrer Bedürfnislage entgegenkommen. Über den Nachweis dieser Form von Beziehungserstellung wird herauskristallisiert, dass Sophie die Dinge ihrer Umwelt ernsthaft, aufmerksam und reflektiert betrachtet, wobei sie das von ihr interpretierte Wesen der Dinge ehrt, indem sie den für sich erkannten Wert respektvoll in ihre Bedürfnisstruktur einbaut.

Mit dem Begriff der Funktionalisierung ist daher in meiner Arbeit ein Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt beschrieben, das sich über eine sehr nachdenkliche, intensive Auseinandersetzung mit der tendenziell subjektiven Bedeutung der Umwelt definiert.

Diese Tendenz Sophies zur Subjektbezogenheit wird über ihre Tagbucheintragungen und Briefe prägnant deutlich.

Einigen Lesern dieser Schriften mag Sophie sogar wie eine junge Frau wirken, welche sich nur egozentrisch abkapselt, wobei sie sich zumeist in Träumen bewegt.

Dieser Eindruck wird über ihre Empfindungen zur Natur bekräftigt, die sie in ihrem intensiven Erleben oftmals niederschreibt.

Teilweise mag der Eindruck der starken Subjektbezogenheit auch an der Funktion des Tagebuchs und der Briefe liegen, Ereignisse und damit zusammenhängende Gefühle und Denkvorgänge über das Niederschreiben meinungsfindend zu verarbeiten und über dieses hinterfragende Schreiben das Bild einer sich selbst bewussten Persönlichkeit zu behaupten, zu entwickeln und zu suchen.

Die Schriften des Tagebuchs und der Briefe sind damit sehr persönlich, da sie für Sophie ein funktionaler Bestandteil der gefühls- und verstandesgemäßen Selbstvergewisserung, des Findens, des Zweifelns und der Identitätssuche sind. Das Lesen der Preisgabe dieses intimen Bereichs, der normalerweise nur einem selbst und vertrautesten Mitmenschen sogar nur partiell zugänglich ist, sollte als Gedanke stets im Hinterkopf haften, um die Dokumente als einzigartige Zugänge zu Sophies Gefühls- und Gedankenwelt zu begreifen. Ihre Schriften offenbaren nicht nur ihre träumerischen und sehr emotionalen Zugänge, sondern auch ihre reflektierend analysierenden Zugänge zu ihrer Umwelt über beispielsweise ihre kritischen Überlegungen zu Identität und Individualität, zur Rolle des Soldaten, zum Weiblichkeitsverständnis, zum Verhältnis zwischen Mensch und Natur, Mensch und Religion, Mensch und Literatur, Mensch und Musik, Mensch und Arbeit.

Das Lesen der Schriften Sophies prägen innerlich das Bild einer jungen Frau, welche mit feinfühliger, kritischer Ernsthaftigkeit, hohem kognitivem und moralischem Selbst- und Fremdanspruch Wege des humanen, intelligenten, schönen Miteinanderlebens beschreibt, mit Sehnsucht, Traurigkeit und über abkapselnden Rückzug in Buch-, Natur-, Musik- und Religionswelten protestierend einfordert, wobei sie an einen Punkt der Unerträglichkeit gelangt, an dem sie die Möglichkeit greift, diese Wege als Selbst- und Menschheitsbedürfnis mit systemwiderständischen Handeln realisierend einzuleiten.

Natürlich präsentiere ich nur ein Interpretationsangebot.

Ein solches will kritisch hinterfragt werden und soll der Anregung dienen.

Daher dient die umfassende Zitatensammlung nicht nur als Belegakkumulation meiner Thesen und der Legitimierung meiner Interpretation, sondern auch der selbsttätigen Auseinandersetzung.

Versucht habe ich mit der akribisch selektiven Sammlung vieler Zitate, der Interpretation einen adäquaten qualitativen Standard und damit Glaubwürdigkeit zu verleihen.

Dass die Kategorienüberschriften in einigen Fällen nicht nur mit einem Begriff die Kategorie benennen, sondern eine Thesenformulierung und damit bereits eine Interpretation der Zitatenakkumulation darstellen, verweist auf die Funktionalisierung der Kategorisierung als Belegtafel für meine Thesen.

1. Zitate von Sophie – Betreff: Malerei und Zeichnerei.

Aus der Zitatensammlung geht hervor, dass Sophie ihre eigene Zeichnerei als eine schöne aber arbeitsintensive Beschäftigung empfindet. Dass das Zeichnen einen schönen, unernsten, aber legitimen Kontrast zum Krieg darstellt, geht aus dem Zitat vom 09-09-39 hervor:

„ [...] Peter Pan und die anderen Illustrationen mache ich natürlich noch fertig, denn ich sehe nicht ein, warum man im Krieg nur die grausig ernstesten Dinge tun darf. [...]“

Auch das Zitat vom 21-07-40 offenbart die Malerei als Möglichkeit für die Hinwendung zum Schönen mit dem Sinn, nachhaltig Freude für sich und andere zu schaffen:

„[...] Ich wünschte, dass ich gut und schnell malen könnte, um diesen flüchtigen und schönen Augenblick festzuhalten und mich und andere noch später damit zu erfreuen. [...]“

Der Vergleich zwischen Schule und Zeichnerei am 09-11-39 offenbart ihre Einordnung des Zeichnens unter den Begriff der Arbeit:

„[...] Zu der Illustration von G. Heym fehlt mir noch ein Bild. Vergangenen Sonntag war Hanspeter Nägele da, er gab mir den letzten Stoß, dass ich nun auch allen Ernstes hinter seiner Illustration sitze. Ja, ich kann sagen, wenn ich von der Schule komme, geht meine (wenn auch geringe) Arbeit los. [...]“.

Auch das Zitat vom 23-09-40 zeigt auf, dass Sophie Zeichnen als eine anspruchsvolle Tätigkeit empfindet und nicht als Zerstreuungsmaßnahme.

Die Zitate vom 23-05-38, 06-11-41 und 18-11-41 geben die Möglichkeit, Sophies Kunstverständnis zu interpretieren. Sie schreibt sinngemäß, um Künstler zu sein – müsse man Mensch sein, um illustrieren zu können – müsse sie innerlich bereichert sein. Sophies Anklage, sich innerlich leer zu fühlen – bezieht sich auf ihr in Blumberg konstatiertes Taubheitsgefühl. Schlussfolgernd kann man demnach die These begründen, dass Sophie das Herausstülpen von Emotionen durch Fassung in eine äußere Form als Kunst versteht. Und menschlich ist nur der, der auch (mit)empfinden kann.

2. Zitate von Sophie – Betreff: Literatur.

Die Beschäftigung mit anspruchsvoller Literatur ist fester Bestandteil von Sophies Alltag. Der Meinungs- und Erfahrungsaustausch über Literatur ist immer wieder besonders in Briefen an Fritz und Lisa Remppis manifestiert. Das Lesen von Literatur hat für Sophie mehrere Funktionen.

Am 08-39 fixiert sie schriftlich einen durch Literatur herauskristallisierten Differenzzustand im Hinblick auf die politische Gesinnungshaltung. Dieser Differenzzustand dürfte Sophie wegen ihrer Erziehung in einem bildungsbeflissenen und politisch abweichenden Elternhaus nicht fremd sein und wegen der Anziehungskraft, die Intellektualität an ihr ausübt, sogar erwünscht. In Krauchenwies, wie in den Zitaten vom 13-04-41 und 11-04-41 belegt, nutzt sie Literatur, um durch abendliches Lesen Differenzzustände zu markieren und manifestieren.

Weiterhin erhält in Krauchenwies die Literatur eine Ausgleichfunktion zur monotonen, praktischen Arbeit. Die Angst – stumpfsinnig zu werden, veranlasst zum Zwang des allabendlichen Lesens, wie sie am 13-04-41 und am 05-06-41 schreibt. Dass dieser Selbstzwang Ausdruck eines Gefühls der Identitätsgefährdung ist und den Versuch darstellt, durch Transportierung alter Gewohnheiten in neue Situation eine Basis zu erstellen, die ein Arrangement mit der neuen Situation ermöglicht, zeigt das Zitat vom 27-04-41, auf, indem das „abendliche Lesen“ in einem Rutsch mit dem „abendlichen kalten Abduschen“ (nicht warm!) als „kleine Stützen“ charakterisiert werden, um im „allgemeinen Trubel“ nicht zu „versinken“. Die hier offenbarte Verschmelzungsangst mit der Masse zwingt zur strategisch bewussten, bestmöglichen Aufrechterhaltung der alten Alltagsstrukturen, um einem Identitätsverlust vorzubeugen.

Weiter hat Literatur für Sophie die Funktion, sich an intellektuellen Herausforderungen abzuarbeiten. Insbesondere die Zitate vom 09-11-39 und vom 12-12-41 verweisen auf Sophies Anspruch, beim Lesen Zugänge zu erschließen und nachhaltig bewusst für die Persönlichkeitsentwicklung nutzbar zu machen. Dass diesbezügliche Resultate auch einen Maßstab für den kognitiven Fortschritt oder Rückschritt darstellen, zeigen die Zitate vom 09-11-39, 05-06-41 und vom 12-12-41:

„Ich glaube, man geht nachher doch ganz anders weg davon. // Im Denken, glaube ich, bin ich etwas schwerfälliger geworden.“ // [...] dass alles, was ich früher besaß, das kritische Sehen, ist mir verloren gegangen. [...] Der Zugang zum Leben der Bücher bleibt mir versperrt.“

Diese Funktionalisierung von Literatur für die vergleichende Wertung des intellektuellen Potentials zeigt im zeitlichen Verlauf einen Verlust alter Messwerte auf, die Sophies Angst vor Identitätsverlust begründen. Während sie sich in Krauchenwies noch befähigt sieht, über Literatur eine intellektuelle Hierarchie zu konstruieren, konstatiert sie in Blumberg den Verfall der Konzentrationsfähigkeit als Voraussetzung zum Zugang der Bücher und damit eine intellektuelle Positionsversetzung.

Damit geht ihr die Funktion verlustig, Literatur zu nutzen, um Antworten auf Fragen zu finden, die ihr durch das Leben gestellt werden, wie sie in ihr Tagebuch am 01-05-41 schreibt:

„[...] Im Augustinus habe ich einige Stellen gefunden, die mir als Antwort zu Otls Brief dienen können. Ich lese doch noch über vieles hinweg, oder ich nehme es auf, um es gleich wieder zu vergessen; aber manches ist mir wie eine Antwort, und ich freuen mich unsäglich darüber. [...]“

3. Zitate von Sophie – Betreff: Musik und kulturelles Leben.

Die schriftliche Fixierung alltagsphilosophischer Gedanken über Wirkung und Wert der Musik, finden sich gehäuft ab 1942. Berechtigt vermuten kann man, dass die Ursache für die Beschäftigung auf eine subjektive Funktionalisierung der Musik zurückzuführen ist. So wie in Krauchenwies die Literatur einen Haltepfeiler darstellt, avanciert später in Blumberg bei zunehmendem Konzentrationsverlust, Taubheitsgefühl und konstatierten Verwirrtheitszuständen die Musik zum Mittel der Aufräumung von Geist und Seele und zur Stiftung eines taubheitsverdrängenden Unruhegefühls.

Die Zitate vom 14-01-41, 01-42, 05-09-42 und vom 30-12-42 untermauern diese These:

„Musik bringt es am ehesten fertig, mein stumpfes Herz in Aufruhr zu bringen. // „Musik aber macht das Herz weich; sie ordnet seine Verworrenheit, löst seine Verkrampftheit und schafft so eine Voraussetzung für das Wirken des Geistes in der Seele [...]. // „denn in ihr ahnt man etwas von einer [...] unumstößlichen Ordnung. [...] Der Lohn aber nachher ist, dass man aufgeräumt (im wörtlichen Sinn) wieder aufsteht. // „Ich habe mir aus dem Radio eine schöne, alte Musik hergeholt, eine Musik, die die Sinne beruhigt, die mit ordnender Hand durch das verwirrte Herz geht.“

Die Funktionalisierung unterschiedlicher Musik zur Erstellung unterschiedlicher Befindlichkeiten, beispielsweise zur Erlangung eines aufgeräumten Geisteszustandes durch Bach – oder zur Erlangung eines emotionalen Unruhezustandes durch Beethoven, stellt für Sophie eine bewusste Strategie dar, wie insbesondere folgendes Zitat vom 01-42 aufzeigt:

„Und so wenig ich mich wasche um des Wassers willen, das ich dazu benötige, so wenig höre ich Musik um der Musik willen.“

Dass das Hören von Musik und die Verschmelzung mit ihr durch emotionale und kognitive Anpassung einen Versuch darstellen, aus den identitätszerstörenden Gegenwartsstrukturen auszubrechen, belegen die Zitate vom 14-01-42 und vom 17-02-43:

„Dann hatte ich (in der Umgebung, in der ich mich befand) ein solches Verlangen, dieselbe klare Luft zu atmen, wie jene Menschen, die das Stück geschaffen haben. Und schon dies Verlangen hat genügt, mich ein bisschen aus dem umgebenden Schlamassel, einem zähen Brei, einem feindlichen Brei gleich, herauszuheben.“ // Ich lasse mir gerade das Forellenquartett vom Grammophon vorspielen. Am liebsten möchte ich da selbst eine Forelle sein, wenn ich mir das Andantino anhöre. [...] Die Wiederholung des Themas durch das Klavier – wie kaltes klares perlendes Wasser, oh, es kann einen entzücken.“

Sophies niedergeschriebene Gedanken über Literatur, Zeichnerei und Musik erschließen ihre beständig reflektierende, kritische Analyse eigener Befindlichkeitszustände und ihr darauf abgestimmtes Einlassen auf Reizangebote im psychologischen Begründungszusammenhang.

4. Zitate von Sophie – Betreff: Sprachästhetik, sprachliche Exaktheit, Logik und rhetorische Auffälligkeiten.

Das Spicken der Briefe mit rhetorischen Auffälligkeiten lässt eine große Liebe für sprachliche Ästhetik erahnen, und damit verbunden die Lust am Experimentieren mit den Möglichkeiten, die Sprache bietet. Sophies Bemühungen, das von ihr Erlebte in eine empfindungsadäquate sprachliche Form zu gießen, ihr reicher adjektivischer Gebrauch, ihre über Nutzung von komparativen und superlativen Steigerungsformen erstellten Vergleichsszenarien und ihre detaillierten und genauen Beschreibungen szenischer Abläufe, offenbaren ihr aufnahmewilliges, sehr reizdurchlässiges Wesen und die Lust an der nachhaltigen, stark wertenden, kategorisierenden Auseinandersetzung mit der von ihr erlebten Umwelt.

Sprachliche Fixierung scheint hier das Mittel zu sein, Erlebnisse zu vergegenwärtigen und zu verarbeiten, indem sie nachhaltig bewusst für die Persönlichkeitsentwicklung nutzbar gemacht werden.

Mit Hilfe von wiederholten, stets ähnelnden Naturbetrachtungen versucht Sophie, ihre Umwelt als geordnet und situativ geregelt im zeitlichen Ablauf wahrzunehmen, ihre Umwelt als schön und herrlich zu erleben und durch die schriftliche Fixierung dieser Wahrnehmungen die erlangte emotionale Stabilität aufrechtzuerhalten, die wegen des Krieges und seiner nicht berechenbaren Auswirkungen auf Sophies gegenwärtiges und zukünftiges Leben stets gefährdet ist. Mit dieser Funktion bildet das Schreiben einen ausgleichenden Pol zum chaotischen Alltag.

Die tiefere Auseinandersetzung mit der These von der Funktionalisierung des Schreibens erfolgt im Betreff Funktionen des Briefschreibens und Wirkungen.

Außerdem ist eine Funktionalisierung von Sprache dergestalt anzunehmen, dass Sophie mit Hilfe von Nutzungen der stilistischen und rhetorischen Möglichkeiten ihren kulturellen, ästhetischen und intellektuellen Anspruch zeigt und fördert. Die permanente kritische Reflektion von Wirkung der Sprache und Passung von Wort und Sinn unterstützen diese These.

Die Zitate vom 19-08-40 und vom 23-09-40 dienen als diesbezügliche Belege:

„Entschuldige, wenn ich unklar oder unzusammenhängend geschrieben habe.“ //„Sicher sind meine ungeschickten Vergleiche und mein Drauflosschreiben verwirrend. Hoffentlich findest Du hindurch. Ich will versuchen, das nächstemal klarer und überlegter zu schreiben.“

Die auffällige sprachliche Exaktheit und das kritische Reflektieren nach alltagsphilosophischer Manier kommen dabei besonders in einer vom RAD vereinnahmten Zeit der praktischen, körperlich stark ermüdenden Arbeit einer gewollten Denkschulung zugute. Der während des Reichsarbeitsdienstes mit eiserner Disziplin eingehaltene Selbstzwang, trotz Müdigkeit jeden Abend einen Abschnitt aus dem Augustinus zu lesen, entspricht der Intention des geistigen Trainings. Damit begründet wird ihre Differenzkonstruktion gegenüber der Mehrheit ihrer unmittelbaren Mitmenschen und der nationalsozialistischen Gesellschaft, was in den Aufzeichnungen insbesondere in der Zeit des Reichsarbeitsdienstes zum Ausdruck kommt. Der Sprachschatz und ihr Gebrauch, sowohl der eigene Schatz als auch die Schätze der anderen, gewonnen aus erlaubter und verbotener Literatur, wird zum ästhetischen Mittel der Trennung von der Masse. Die Unterlassung von nationalsozialistischem Sprachgebrauch, charakterisiert durch eindimensionales, übertrieben pathetisches, militärisches, diktatorisches, antisemitisches, sozialdarwinistisches, Leben und Würde negierendes Gedankengut, kann man als Verweigerungshaltung gegen die nationalsozialistische Ideologie interpretieren.

Mit der Schönheit, Vielfalt und Intelligenz achtenden, lebensbejahenden und kritisch hinterfragenden sprachlich fixierten Gegenpolkonstruktion wird Sprache zum Mittel für die Entwicklung einer Widerstandshaltung. Allerdings führt die bewusste Differenzkonstruktion durch Sprachgebrauch auch zu einem moralischen Konflikt, der die Funktion des Schreibens, einen harmonischen Ausgleich zum Alltag zu finden, gefährdet, wie das Zitat vom 10-04-41 aufzeigt:

„Es ist ekelhaft, diesen Geltungstrieb zu haben. Schon jetzt, wenn ich schreibe, ist nebenher der Gedanke, wie sich das Geschriebene ausnimmt. Es zerstört jede Harmonie. [...] Dieser Zwiespalt oder besser diese Zwiespältigkeit verdirbt mir viel und macht mich schlecht, gemein. Gestern hat Griechenland kapituliert. Augenblicklich machte es einen erdrückenden Eindruck auf mich. (Erdrückender Eindruck ist doppelt genäht.) [...] Ich habe Fritz soviel vollgefaselt von wegen Selbstständigkeit. Nein, so darf es nicht heißen, es muß heißen, „Unabhängigkeit von Menschen und Dingen. [...]“

Das in diesem Zitat thematisierte rhetorische Mittel der Alliteration durchzieht in Gleichzeitigkeit mit Wortwiederholungen verlässlich die gesamten Briefe und Tagebucheintragungen und konstruiert beim Lesen ein Harmoniegefühl wie beim Liegen auf einer Luftmatratze bei gleichförmigem Wellengang.

Die mit Hilfe von Alliterationen erstellte Gleichförmigkeit entspricht Sophies Bedürfnis, Struktur und Ordnung zu erstellen und in ihrer Umwelt zu finden.

Beachtenswert ist insbesondere die Alliteration vom 19-07-40:

„Wie gut, dass Wald und Wiese und Wolken sich immer so gleich bleiben im Gegensatz zu uns Menschen.“

Hier wird die Alliteration durch die dreifache W-Wiederholung für die Hervorhebung des Satzinhaltes funktionalisiert. Dass die Natur „immer so gleich“ bleibt, sticht dem Adressaten verschärft in sein Auge.

Als Kontrast zur Entwicklung einer sprachlichen Linie via Alliteration steht die reiche Nutzung von Bildern und Methaphern, mit dessen Hilfe sie erlebte Träume und Naturerfahrungen sehr bewegt, lebhaft und vielfältig in Sprache übersetzt. Die hochgradig bildhafte Sprache offenbart Sophies phantasiestarke Begegnung mit ihrer Umwelt, ihr schwärmerisches Wesen und ihre scheinbar unbegrenzte Vorstellungskraft beim Interpretieren der von ihr aufgenommenen Dinge.

Mit dem Bewusstsein, dass jeder Mensch die Umwelt anders wahrnimmt, sozusagen eine eigene Welt konstruiert, lässt sie sich auf das Wahrnehmungsangebot ein. Die Tendenz, Menschen über brutal und feige konnotierte Tierbegriffe zu entmenschlichen und Natur zu personifizieren, steht für die höchst eigenwillige Verarbeitung von Erfahrungen, ihren starken Naturbezug und ein pessimistisches Menschenbild, das die Entfremdung der Menschen von Würde und Natur beschreibt.

Die Zitate vom 28-06-40 und vom 24-06-42 stehen als diesbezügliche Belege:

„Nun, wo der große Löwe geschlagen hat, wagen sich Schakal und Hyäne hervor, um auf ihre Rechnung zu kommen. [...]“ // „Und bald scheint mir das Gebrüll der beleidigten Erde [...] allen unbeirrbaren Frieden zu übertönen.“

Durch das Oxymoron, also die Verbindung scheinbar widersprüchlicher Gegenstände und durch die Antithese als pointierte Nebeneinandersetzung zweier gegensätzlicher Gedanken, erreicht Sophie wie auch durch die Alliteration eine Aufwertung des Inhalts. Die Freude fällt dem Leser im Brief vom 01-07-40 als schreckliche Freude auf und emotional widersprüchliche Situationen fallen durch Antithesen dem Leser in den Briefen vom 03-04-40 und vom 13-01-41 besonders in den Blick:

„[...] damals hätte ich heulen können. [...] Da hätte ich lachen können.“ // „Es war oft lustig, es war oft ernst.“

Für die Erlangung der durch Oxymoron und Antithese erwirkten Dramatisierung und Vitalisierung der Inhalte, macht Sophie sich kontinuierlich komparative und superlative Steigerungsformen zunutze, wie beispielsweise das Zitat vom 19-09-39 verdeutlicht:

„[...] denn ich sehe nicht ein, warum man im Krieg nur die grausig ernstesten Dinge tun darf.“

Sophie konkretisiert sehr häufig mit Hilfe von Vergleichen den Sinn ihrer niedergeschriebenen Inhalte und konstruiert damit bei ihrem Adressaten eine parallele Verständnisebene.

Außerdem offenbart Sophie mit Vergleichen, wie beispielsweise dem vom 04-08-41

„Es ist für mich eine Seltenheit und deshalb so ähnlich wie Schlagsahne, Post von Dir zu bekommen.“, ihr emotionales Empfinden und regt die Vorstellungskraft des Adressaten an.

Eine kleine Liebhaberei Sophies ist die Positionierung von Endthemen an das Ende des Briefes, wie an dieser Stelle mit dem Ende des Briefes vom 23-08-41 beispielhaft aufgezeigt werden soll:

„Aber bis jetzt habe ich noch nicht alle Hoffnung aufgegeben (erst zu 90%, und die andern 10% genügen mir vorläufig). Das Blatt ist voll, liebe Lisa, viele Grüße, was tust Du denn alles?“

Die These von der hohen Leidenschaft Sophies für ästhetischen, klug formulierten und funktionalisierten Sprachgebrauch ist erstens durch die Akkumulation von verschiedensten, rhetorischen Mitteln untermauert und zweitens durch die in der Zitatensammlung aufgeführten Brief- und Tagebuchfragmente, welche inhaltlichen, kritisch reflektierenden Bezug zu Sprache und Wort nehmen.

Sophies Lust am rhetorisch bedachten Verfassen von Briefen lässt in Blumberg merklich nach.

Als potentieller Grund kann die verstärkt depressive Verstimmung und die damit zusammenhängende Fixierung auf Tagebucheinträge angeführt werden.

5. Zitate von Sophie – Betreff: Funktionen des Briefschreibens und Wirkungen.

Sophies Schreibeifer veranlasst zur Frage, welche Funktionen dem Briefschreiben zugrunde liegen, welche emotionalen Wirkungen Briefe bei ihr auslösen und welchen Wert Sophie dem Brief zuteilt.

Die Vielzahl von in den Aufzeichnungen vorfindbaren Zitaten, die den Brief zum Thema machen, verweisen auf einen sehr bewussten und nachdenklich reflektierenden Umgang mit dem Briefaustausch als Teil ihres Lebensstils.

Dass Sophie am 06-04-40 auf sogenannte „Briefschulden“ verweist, zeigt – dass sie ein Briefverhältnis als ein Tauschverhältnis versteht, welches normativ durch das gesellschaftliche Höflichkeitsritual begründet ist, ein ausgeglichenes zwischenmenschliches Verhältnis zu erstellen, indem man dem anderen durch Rückgabe eines Äquivalents seine Wertschätzung erweist.

Der Brief hat für Sophie weiterhin zum einen intellektuellen Wert, indem sie mit dem Verfassen eines Briefes die Versuchung bannt, zu „leichtfertigen Romanheften“ zu greifen, zum anderen emotionalen Wert, indem das Verfassen eines Briefes in einer chaotischen Zeit als Ordnungspunkt „Halt“ verleiht, das Erhalten von Briefen mit „Ungeduld“ erwartet wird, Briefpausen zu einem „beunruhigenden“ Gefühl veranlassen und das Lesen von Briefen „vergnügt“.

Man vergleiche diesbezüglich die Zitate vom 16-08-40, 01-05-41, 06-07-40, 11-12-40 und vom 22-08-40.

Eine für Sophie bewusste Funktion des Briefes ist die Überwindung von räumlicher Ferne.

Die Konstruktion von Nähe via Brief deutet Sophie mehrmals an. So ist ein Brief ein „Luftzug“ aus einer anderen Welt, ein Brief ermöglicht das „Anteil an Dir nehmen können“ und lindert das „komische Gefühl“, das bei der Vorstellung der vielen „Wälder und Felder“ entsteht, „die zwischen Ulm und Augsburg liegen.“

Man vergleiche diesbezüglich die Zitate vom 18-05-41, 11-12-40 und vom 21-04-38.

Dass der Brief als Kommunikationsmittel ein Surrogat für die face-to-face-Kommunikation darstellt, umreißt Sophie mehrmals:

„[...] ich kann an Dich hin schreiben [...] und Du unterbrichst mich nicht. Das ist aber auch das Langweilige daran.“ // „Aber es können ja auch Briefe ankommen, die nicht nur Antwort sind. – Ich mache mir täglich Gedanken wegen Deinem Urlaub.“

Die hochgradige Intensität, mit der Sophie in diesen Briefen vom 21-04-38 und vom 12-01-40 versucht, über den Briefwechsel ein Band zu entfernten, emotional stark besetzten Kontakten zu knüpfen, zeigt ihr hohes Kontaktbedürfnis und ihr Bedürfnis, sich mit dem Leben und Denken ihrer Kontakte auseinander zu setzen und damit Vertrautheit beizubehalten. Diese Funktion macht sich Sophie insbesondere in Bad Dürrheim, Krauchenwies und Blumberg zunutze, um die alte Ordnung ihres Alltags durch Nähekonstruktion per Brief partiell aufrechterhalten zu können. Briefwechsel werden von Sophie stark zeitlich wahrgenommen. In Krauchenwies rechnet sie – niedergeschrieben am 10-04-41, sogar ihre „Zeit immer von Postausgabe zu Postausgabe“. Sie errechnet am 12-01-40, das „14 Tage“ überdauert werden müssen, bis eine Briefantwort kommt, zählt am 11-12-40 „16 Tage“ rück – die seit Fritz’ letztem Brief vergangen sind und bemerkt mehrmals, wie ungeduldig sie Post erwartet.

Das Wart- und Erwartungsverhältnis lässt vermuten, dass der Briefwechsel eine Bedürfnisbefriedigungsfunktion erfüllt, sowohl in Bezug auf emotionale Kontaktbedürfnisse, als auch in Bezug auf das Stillen von Neugier durch Erschnuppern von „Luftzügen“ aus einer anderen „Welt“. Sophies starkes Bedürfnis, Freude zu empfinden, wird über die Briefe ebenfalls vorübergehend gestillt, wie das Zitat vom 22-08-40 belegt:

„Ich lese ihn immer wieder. [...] sie geben mir jedes Mal meine gute Laune wieder.“

Die emotionale Besetzung wird auch durch die mehrfache Anklage an Fritz in den Briefen vom 05-09-39, 16-05-40, 06-07-40, 04-11-40 vom 11-12-40 belegt, es bestünde wegen Briefpausen eine beunruhigende, Angst verursachende Ungewissheit, die durch einen schnellen Brief beseitigt werden könne. Die damit ableitbare Beruhigungsfunktion des Briefes verweist wieder auf Sophies starkes Bedürfnis nach emotionaler Ausgeglichenheit. Damit besteht eine funktionale Analogie zur Musik, die sie bewusst nutzt - um eine emotionale Stabilität zu erstellen.

Die Funktion, das Bedürfnis nach Freude zu stillen, wird auch durch Sophies selbstgesetzte Aufgabe aufgezeigt, durch ihre Briefe „Fröhliches und Gutes“ zu vermitteln und ihre Selbstanklage, mit pessimistischen Briefen zur dumpfen „Stubenluft“ beizutragen.

Diesbezüglich vergleiche man die Briefe vom 22-05-40 und vom 09-04-40.

Die qualitätskategorisierende Polung wird auch durch die folgende Wertung von Briefen am 09-04-40 und am 18-05-41 nach dem gut-schlecht-Prinzip belegt:

„Ist das ein schlechter Brief? Es ist kein frischer Luftzug in Dein dumpfes Zimmer [...]“. // „Deine Briefe, die für mich sind wie der Luftzug aus einer [...] Welt, in die ich gerne und bald eintreten möchte.“ Die in der Zitatensammlung zweifach auftauchenden Rechtfertigungen für pessimistische Briefinhalte am 09-04-40 und am 22-05-40 lassen sogar Schuldgefühle vermuten. Die selbstgesetzte Aufgabe, mit Briefinhalten bei anderen Freude zu schaffen und Leid zu vermeiden verweist auf das Prinzip, von der eigenen Bedürfnislage auf die anderer zu schließen.

Zweimal – am 29-08-38 und am 22-08-40, findet sich in der Zitatensammlung im funktionalen Zusammenhang mit dem Briefthema der Ausdruck „in Erinnerung schwelgen“, womit ein schwärmerisch-träumerisches Gefühl transportiert wird, das wieder auf Sophies Bedürfnis verweist, das Schöne festzuhalten, hier durch die schriftliche Fixierung von Vergangenheit. Mit der dafür notwendigen Vergegenwärtigung von vergangenen Szenen erwirkt Sophie den Rückholeffekt eines schönen, vergangenen Gefühls und damit ein inneres Wiedererleben.

6. Zitate von Sophie – Betreff: Natur.

Mit dieser Zitatensammlung lässt sich analog zur Literatur, Musik und dem Schreiben eine bewusst strategische Funktionalisierung der Natur erschließen, und zwar zum Zwecke der Ruhefindung, Einheitsfindung, Kraftschöpfung und des erfüllten, emotional freudigen Aufruhrs bei anschließender für die Erfüllung der Alltagsaufgaben nötigen Erlangung von Ausgeglichenheit. Die Zitate vom 17-06-40, 28-06-40, vom 19-07-40, vom 01-08-40, vom 08-08-40 und vom 10-12-41 belegen diese Funktionalisierung:

„Manchmal kommt mir dies mit solcher Macht zu Bewusstsein, dass ich ganz voll davon bin und keinen Platz mehr habe auch nur für einen einzigen Gedanken.“ // „ Ich bin gerne abends allein an einem Fluß. Nichts lenkt mich ab.“ // Es war sehr schön, und ich kehrte so reich heim.“ // So sehr habe ich mich schon lange nicht mehr an Blumen gefreut wie heute.“ // „[...] dass einen so ein winziges Blümchen so sehr erfüllen kann, dass einfach kein Raum für einen anderen Gedanken mehr da war, dass ich hätte zur Erde werden können, so gern hatte ich sie.“ // „[...] und wenn es anfänglich auch eine ungerechte Freude ist, weil ich mich vielleicht manchmal berauschen kann, so wird sie doch gut, da sie mir wieder einen richtigen Maßstab gibt [...]“

Neben dem Funktionalisierungsmotiv decken diese Zitate Sophies starkes Empfinden und Beschreiben von Emotionen über den Körper aus. Die Empfindungen, „reich“ heimzukehren, „erfüllt“ zu sein, „keinen Platz“ oder „Raum“ zu haben für andere Gedanken und „berauscht“ zu sein, unterstützen die These, dass Sophie die auch körperliche Verbindung mit der Natur sucht.

Die mit folgenden Zitaten aufgezeigte Gegensatzkonstruktion Sophies zwischen berechenbarer, unschuldiger Natur und unberechenbarer, schuldiger Menschheit untermauert diese These:

17-06-40: „Dies alles gibt es, trotzdem sich der Mensch inmitten der ganzen Schöpfung so unmenschlich und nicht einmal tierisch aufführt.“

22-09-42: „[...] wo wir für eine Zeitlang die Menschen und ihre Werke aus den Augen haben, um an der Ordnung der Natur ein Gegengewicht für all das Schreckliche, was geschieht, zu finden.“

19-07-40: „Wie gut, dass Wald und Wiese und Wolken sich immer so gleich bleiben im Gegensatz zu uns Menschen. [...] Und selbst wenn man meint, alles müsste bald untergehen, so steht am nächsten Abend der Mond doch wieder gleich am Himmel.[...] Es ist schön, dass dies immer da ist.“

Eindeutig erkennbar ist in dem letzten Zitat Sophies Bedürfnis nach Berechenbarkeit. Der Verlass auf den immer währenden Bestand der Naturgesetze und die periodisch wiederkehrende Verschmelzung mit dieser Ordnung gibt ihr die emotionale Stabilität wieder, die sie benötigt, um chaotische Alltagsstrukturen zu überdauern.

Das Wunder der Naturordnung lässt sie nicht los, wie die Zitate vom 16-05-40, vom 17-06-40 und vom 21-06-41 offenbaren:

„[...] und es ist wunderbar, dass nichts die Natur aus dem Gang bringt.“ // „Dass der Wald so einfach weiterwächst, [...]“ // „Ein ähnliches ist der ewig gleiche Rhythmus der Bauernarbeit. [...] Diese Arbeit ist so unschuldig und beruhigend wie das zuverlässige Blühen und Reifen eines Apfelbaumes jedes Jahr, oder nicht?“

Sophies ab 1940 wiederholt beschriebenes Wunschkonstrukt, real mit der Natur eine Einheit zu bilden, veranlasst zu der These, dass der veränderliche, zwiespältige Alltag für Sophie bereits vor der Zeit des Reichsarbeitsdienstes eine Überforderung darstellt und sie gegen den aus einer großen Müdigkeit resultierenden Wunsch, sich handlungspassiv und verantwortungslos in ein Ordnung einzugliedern, kämpft.

Die Zitate vom 21-06-41 und vom 02-02-43 zeigen neben dem stellvertretend angeführten Zitat vom 22-05-40 den Verschmelzungswunsch und diese Motive auf:

„Ich kenne kaum eine Stunde, in der nicht einer meiner Gedanken abschweift. Und nur in einem einzigen Bruchteil meiner Handlungen tue ich, was ich für richtig halte. Oft graut mir vor diesen Handlungen, die über mich zusammenwachsen wie dunkle Berge, so dass ich mir nichts anderes wünsche als Nichtsein, oder als nur eine Ackerkrume zu sein, oder ein Stücklein einer Baumrinde. Aber schon dieser oft überwältigende Wunsch ist wieder schlecht, denn er entspringt ja nur der Müdigkeit. [...] Ach, ich wünschte, eine Zeitlang auf einer Insel zu leben, wo ich tun und sagen darf, wie ich möchte, und nicht immer Geduld haben muß, unabsehbar lange. [...]“

Der intensive Nähe- und Verschmelzungswunsch wird auch durch die körperliche Kontaktsuche Eichhörnchen und Insekten offenkundig, wie in den Zitaten vom 12-08-40 und wie folgt vom 08-08-40 beschrieben:

„Die Ameisen und Käfer betrachteten mich auch nicht anders als ein Stück Holz, und ich hatte es deshalb ganz gern, wenn sie mich bekrabbelten.“

7. Zitate von Sophie – Betreff: Wunsch nach Struktur und Berechenbarkeit von Gegenwart und Zukunft, Machtlosigkeit in Bezug auf Planbarkeit.

In dieser Zitatensammlung finden sich Belege für Sophies Bedürfnis nach Berechenbarkeit und ihrem Problem, sich auf Situationen einzustellen, die von ihr im Ablauf nicht sicher kalkuliert werden können. Die Briefe vom 19-08-39 und vom 12-08-40 beschreiben ihr Hemmungen gegenüber norddeutschen Menschen und das Eingewöhnungsproblem in Bad Dürrheim, da sie bei Norddeutschen unsicher darüber ist, wie sie „sich zu benehmen habe.“

Dass eine unberechenbare Zukunft für Sophie einen hohen Belastungsfaktor darstellt, zeigen die Thematisierungen in den Briefen vom 14-06-40, 04-11-40, 06-11-41, 23-09-40 und vom 07-11-40:

„Ich habe mich im voraus auf alles eingestellt.“ // Denn wenn man diesen Boden ahnt, dann tappt man nicht mehr ganz ziellos. [...] Es ist so aufreizend, in Ungewissheit zu warten.“ // Diese ewige Schieberei, diese Ungewissheit ist nervenaufreibend.“ // Aber wie’s im Krieg ist, nix gwiß weiß mer met.“ // Die Unsicherheit [...] die uns ein fröhliches Planen für den morgigen Tag verbietet und auf alle die nächsten kommenden Tage ihre Schatten wirft, bedrückt mich Tage und Nacht und verlässt mich eigentlich keine Minute.“

Die letzten drei auf den Krieg bezogenen Zitate machen offenbar, dass der Krieg tiefgreifende Eingriffe auf Sophies Lebensplanung vornimmt, indem er abverlangt, dass sie ihren Alltag stets in Bereitschaftsstellung auf Forderungen des Krieges ausrichtet. Die ständigen Verzögerungen der Möglichkeit des Einlassens auf den gewünschten, akademisch ausgerichteten Zukunftsplan durch die nicht enden wollenden Forderungen des Reichsarbeitsdienstes, veranlassen zu einem düsteren Zukunftsbild und zerren an Sophies Nerven.

Dem Verlust einer verlässlichen imaginären Zukunftsordnung gesellt sich in Krauchenwies der Verlust der gegenwärtigen Ordnung, hinzu.

Der dort durch die praktische Arbeit und das neue Umfeld bedingte Verlust des alten Lebensstils und damit der Ordnung durch Verfolgung von Gewohnheiten – lässt Sophie den Krauchenwieser Arbeitsalltag strukturlos empfinden. Das daraus resultierende Gefühl der Haltlosigkeit und sogar des Versinkens decken die Briefe vom 27-04-41 und vom 01-05-41 auf:

„Wenn Du nämlich hier nicht besondere kleine feste Arbeiten hast, dann versinkst Du im allgemeinen Trubel. Bisher waren diese kleinen Stützpunkte das abendliche kalte Abduschen und das abendliche Lesen.“ // „Wenn sie alle wüssten, wie sehr mir dieser Briefwechsel, diese kleine Aufgabe, den Brief zu beantworten, ein Halt ist.“

Mit dem Vorhandensein zahlreicher in dieser Zitatensammlung vorhandenen Belege, in denen Sophie den Ordnungs- und Berechenbarkeitsverlust anklagt, als Quelle ihrer Freudlosigkeit beschreibt und den harmonischen Ausgleich in der Natur sucht, bekommt die These, dass Sophie Unwägbarkeiten und raschen Veränderungen von Gegenwart und Zukunft unflexibel und angstvoll begegnet, starke Unterstützung.

Die Annahme, dass die zunehmende Entfremdung von der Ordnung ihres Alltags vor der Zeit des Reichsarbeitsdienstes und parallel dazu der Entzug der Möglichkeiten zur Befriedigung kultureller, intellektueller und anspruchsvoll kommunikativer Bedürfnisse eine Quelle für Sophies tiefe Depression in Blumberg darstellen – wie später noch ausführlich aufgezeigt wird, bekommt damit hohe Legitimität.

8. Zitate von Sophie – Betreff: Der Umgang mit den Begriffen „Welt“ und „Insel“, die Funktionalisierung von Objekten und Gedanken zur Erstellung einer emotionalen Verbindung und Nähe, zur Erstellung eines Heimatgefühls.

Die Benutzung des Weltenbegriffes entspricht Sophies Bedürfnis nach Erstellung einer Ordnung.

Indem sie durch die Differenzierung in Traumwelt, kindliche Welt und literarische Welt ein Kategorienschema konstruiert, sortiert sie die Wahrnehmungen ihrer Umwelt.

Diese Methode der Verarbeitung von Wahrnehmungen zeugt von einem hohen Reflektionspotential. Dass nicht nur die kognitive Verortung in eine andere Welt Verhaltensweisen und Meinungen ändert, sondern auch die lokale Verortung in eine andere Welt, wird von Sophie zweifach angeführt, erstens bezogen auf die Verortung in der Fabrik und zweitens auf die Entfernung vom Elternhaus:

„Mich hat das Schicksal so vieler doch tiefer berührt als wenn ich bloß von außen geurteilt hätte.“ // „Ich werde von einem ausgelassenen harmlosen Kind zu einem auf sich gestellten Menschen.“

Diese Zitate vom 07-09-42 und vom 16-02-43 weisen auch darauf hin, dass Sophie die Einflüsse der Umweltveränderungen auf ihre Persönlichkeitsentwicklung bezogen analysiert, wertet und mittels dieser relativierenden Standpunktsetzung eine Selbstverortung in ihrer Umwelt vornimmt.

Die Standortänderungen durch den Eintritt in kindliche, literarische und fabrikdienstliche Welten sind für Sophie zwar mit Anstrengung verbunden, wie sie am 09-11-39, am 17-06-40 und am 07-09-42 schreibt, werden jedoch oder gerade deshalb für die Persönlichkeitsentwicklung als förderlich gewertet.

Eine negative Konnotation bekommt die Notwendigkeit zur vielfältigen Verortung, wenn Identifikation in überhaupt keinem Maß möglich ist. Der resultierende Zwang, sich mit einer „zwiespältigen Welt“ arrangieren zu müssen, wie am 22-05-40 beschrieben, führt zu Sophies Wunsch nach Erstellung einer Einfältigkeit. Das Bedürfnis nach einem festen Standpunkt wird von Sophie im Verbund mit dem Inselbegriff direkt in eine sprachliche Form gefasst. Auf einer Insel - so schreibt sie am 22-05-40 und am 29-05-40, könne sie tun und sagen, was sie will und dort bestünde die Möglichkeit, ganz gerade einen Weg zu Gott zu gehen und nicht viele Wege beachten zu müssen. Die Vorstellung, „einfältig“ auf einer Insel zu leben kann somit als aus widersprüchlichen Strukturen resultierender Versuch eingeschätzt werden, sich selbst durch die Vergewisserung des eigenen Standpunktes bewusst zu werden.

Sophies in den Zitaten vom 29-08-38 und vom 03-42 dargestellte egozentrische Haltung zur Natur kann im Wissen um Sophies Naturverbundenheit die gleiche Funktion zugewiesen werden, die das Inselkonstrukt erfüllt, nämlich die Flucht vor Zwiespältigkeit durch Konstruktion von Einheitlichkeit. Sophie nutzt sehr bewusst die Methode der verbindenden Objekte in Form von Adventspäckchen, dem Mond, Heften, Narzissen, Obst und Fotos zur Erhaltung einer emotionalen Nähe bei lokaler Distanz, wie die Zitate vom 28-11-39, 21-02-41, 16-05-40,16-08-40 und vom 23-06-31 belegen.

Ihre am 16-05-40 formulierte Begründung für die Verbindung von Fritz

„Wir wollen uns so halten, bis wieder Zeiten kommen, wo wir wieder allein stehen können.“,

belegt ihr Problem mit dem Leben in Chaosstrukturen, ihr Rückhaltbedürfnis und die diesbezügliche methodische Vorgehensweise.

Dass Sophie seit dem letzten Besuch von Fritz täglich versucht, den letzten gemeinsamen Abendspaziergang mit Hilfe der Mondbeobachtung Abend für Abend in die Gegenwart zu transportieren, und sich bei Veränderungen der Mondsichtbarkeit von sichtbar zu verschwommen veranlasst sieht, mittels eines Briefes an Fritz am 28-11-39 ein neues Verbindungsband zu knüpfen, verweist erstens auf eine starke emotionale Abhängigkeit von verbindenden Objekten, resultierend aus dem Unvermögen, etwas Schönes loslassen zu können und zweitens auf ihren egozentrischen Bezug zu Naturphänomenen. In diesem Kontext auffällig ist auch, dass sich in den gesamten publizierten Briefen niemals die Redewendung „Ich denk’ an Dich!“, findet.

Diese Unterlassung lässt sich mit der methodischen Verwandtschaft zwischen der Nähekonstruktion durch Objektbeziehungen und der gleichartigen Funktionalisierung der Gedanken, erklären.

Stets benutzt Sophie Redewendungen wie „Ich bin mit vielen guten Gedanken bei Dir.“, und legt in Gedanken eine Kraft hinein, die eine Mauer bauen oder als Stachel wirken, wie sie am 07-09-42 und am 18-11-42 schreibt:

„[...] Von vielen Freunden, denen ich von Dir schreib, soll ich Dich grüßen, sie bauen alle an der Mauer von Gedanken, die um Dich sind, Du spürst doch, dass Du nicht allein bist, denn unsere Gedanken, die reißen die Schranken und Mauern entzwei: die Gedanken – ! Deine Sophie“

„[...] und wenn ich könnte, so würde ich Dich immer mehr aufhetzen gegen die Gleichgültigkeit, die über Dich kommen könnte, und ich wünsche, die Gedanken an mich wären ein steter Stachel gegen sie. [...]“

Die These, dass die Kraft der Gedanken für Sophie als ein Surrogat für nicht vorhandene verbindende Objekte fungiert, findet mit folgendem Zitat vom 21-07-40 Unterstützung:

„Ich wünschte, dass ich gut und schnell malen könnte, um diesen flüchtigen und schönen Augenblick festzuhalten und mich und andere noch später damit zu erfreuen.

Aber sicher geht beides auch auf andere Weise, wenn ich mir nur die Mühe gebe, daran zu denken.“

9. Zitate von Sophie – Betreff: Ausdruck von Emotionen.

Sophie nutzt Naturzustände zur Beschreibung von (Gemüts)zuständen einerseits, andererseits zur Erlangung von Gemütszuständen. Beispielsweise weht bei gastlichen, guten Leuten eine „herrlich freie Luft“, der Herzensbrecherblick vom kleinen Dieterle wirkt, „als würde ein „Sonnenstrählchen ins Herz witschen“, ein „winziges Blümchen erfüllt“, der „Wind“ veranlasst zum „Lachen“ und der „Himmel“ macht „traurig“, weil er „gleichmütig“ ist.

Der Versuch Sophies, die durch Naturzustände vermittelten schönen Gefühle festzuhalten, indem sie versucht, sich mit ihnen zu vereinen, ist einerseits Ausdruck ihrer Naturliebe, andererseits Ausdruck des Bedürfnisses nach einer emotional stabilen positiven Gemütslage. Beispielsweise hält sie an dem Gedanken fest, „die ganze Nacht von jungen Hunden“ zu träumen, weiterhin lässt sie sich von den lustigen Witzen des Windes vereinnahmen und bekommt „richtig Lust am Springen und Mittun“.

Man vergleiche diesbezügliche die Zitate vom 08-08-40, 05-04-42, 12-11-40, 11-04-41 und vom 01-07-40.

Sophie nutzt Körperempfindungen zur Beschreibung von Gemütszuständen. Die Transformation von emotionalen Gefühlen auf Körperempfindungen sind jedoch nicht als kalkuliert stilistisches Mittel zu interpretieren, weil vermehrt einzelne Textpassagen für eine starke Körperbezogenheit, ein starkes Körperempfinden und eine hohe Reizdurchlässigkeit sprechen.

Die These, dass Emotionen ungewöhnlich stark körperlich empfunden werden und auch gesucht werden, belegen folgende vom 06-11-41, 14-06-40, 06-11-41, 12-09-40, 01-07-40, 22-08-40, 12-12-41, 08-08-40, 12-11-40, 21-02-41 und 29-06-42 stammenden Textfragmente:

„wie leer ich bin“, „kalt“, „ungesund“, „ich selbst bin zwar ganz ausgetrocknet“, „ein schönes Gefühl“, „wird mir schon ganz warm“, „beinah körperlichen Schmerz“, „meine Seele hat Hunger“, „nur die Natur ist es, die mir Nahrung gibt“, „ein winziges Blümchen so sehr erfüllen kann“, „weil Du es bist, an dem der Wind so herrliche Gefühle auslöst“, „an Deine Wärme gewöhnt“, „Doch ich bin so tot und stumpf oft. [...] Lieber brennenden Durst, lieber will ich um Schmerzen, Schmerzen, Schmerzen beten, als eine Leere zu fühlen“.

Mit ihrer inneren Leere begründet Sophie außerdem das Unvermögen, kreativ zu arbeiten.

Dieses Eingeständnis vom 06-11-41 offenbart das lebendige Verständnis von Kunst, etwas Inneres in eine äußere Form zu gießen.

Der Belohnungsbegriff ist in seiner Bedeutung weniger materiell und mehr immateriell besetzt, weil die erlangte Liebe der Kleinen und Zuneigung der Mitarbeiterinnen im Kindergarten als Belohnung für die pädagogischen und emotionalen Bemühungen empfunden wird. Erst an zweiter Stelle nennt Sophie am 12-09-40 die 50 RM, obwohl diese Summe als erstes selbstverdientes Geld ein Symbol für den Grenzübergang in die Berufstätigkeit darstellt und damit die Anerkennung als selbstständige, erwachsene Person:

„[...] Es ist ein schönes Gefühl zu sehen, wie man die Liebe der Kleinen gewonnen hat, und das tut man ja beim Abschied. Um ihre Liebe habe ich mich immer bemüht. [...] Zum Schluß wurde ich noch reichlich belohnt. Die Frau Major war sehr herzlich zu mir (ich habe mir langsam aber sicher beider Zuneigung errungen, die Gott sei Dank sofort auf Liesel übertragen wurde) und gab mir 50 RM, [...]“

Die Tagebucheintragungen ab 1941 bis 1943 offenbaren depressive Symptome wie eine große Traurigkeit, Selbstzweifel, Schuldanklage, ihr unbekannte Konzentrationsprobleme sowie ihre Angst vor dem Selbstverlust. Aus der Unfähigkeit, zu ihrem Körper über emotionale Empfindungen einen Bezug zu erstellen, aus dem wegen Krieg und Reichsarbeitsdienst resultierenden Umstand der Stagnation der intellektuellen Entwicklung, resultiert der Wunsch nach Schmerzen und Unruhe.

Ihre am 02-02-43 diagnostizierten defizitären Auswirkungen ihrer Zerstreutheit auf ihre Möglichkeiten offenbaren ebenfalls das Bewusstsein über den Selbstverlust:

„[...] Ich befinde mich in einem Zustand der Zerstreutheit, den ich selbst ganz schlecht an mir kenne (nur aus der Zeit, da ich einmal verliebt war. Doch das trifft für jetzt nicht zu), und bin oft geneigt, es auf Kopfschmerzen zu schieben, doch das ist natürlich niemals der Grund.[...] und über andere Dinge zu schreiben, bringe ich in meiner Zerstreutheit kaum fertig. [...]“

Dass durch den Krieg und ihr Hineingeworfensein in einen nicht enden wollenden Reichsarbeitsdienst eine Zukunftsunsicherheit besteht, stellt für die nach Berechenbarkeit strebende Sophie ein hochgradiges Belastungsmoment dar, wie im Zitat vom 06-11-41 deutlich wird:

„Diese ewige Schieberei, dieses Ungewisse ist nervenaufreibend.“

Die übersteigerte Klammerung Sophies an berechenbare, sichere Situationen findet auch Eingang in den Bereich der Kunst. Dass die „Sicherheit“ für Sophie, die sie beim Betasten des Lehms empfindet, eine „große Lust“ in ihren Händen bewirkt und „beinah verführerisch“ ist, erklärt sie im Brief vom 07-02-43, denn „die Feder oder das Bleistift sind viel zu ungeduldig, um ein Gesicht festzuhalten.“

Zwei weitere Zitate, die eine Veränderung von Verhalten und Empfindung ab Ende 1942 andeuten, bedürfen daher besonderer Beachtung. Sophies bewährte Methode, mit Hilfe von Naturbetrachtungen ein harmonisches Gefühl zu erstellen, funktioniert nicht, wie sie am 10-10-42 feststellt.

Der Grund dafür wird von ihr selbst diagnostiziert: Da sie wegen ihrer Eitelkeit mit „Schuld“ behaftet ist und mit diesem Bewusstsein die Naturbetrachtung begeht, ist eine Verschmelzung mit der „unschuldigen“ Natur nicht mehr möglich. Diese Selbstbeschuldigungen aufgrund des diagnostizierten Hochmuts, der relativen Selbstwertüberhöhung und der relativ geringen Leidensrolle im Krieg finden sich ab 1942 und sind bis 1943 in den Tagebuchaufzeichnungen durchgängig Thema der Selbstanklage und des Gebets. Aus dem Schuldgefühl resultiert das Bedürfnis, im Krieg eine Leidensrolle einzunehmen, wie die Zitate vom 03-01-43 und vom 13-02-43 belegen:

„[...] Hoffentlich geht es Dir recht gut, dass Dich auch der Kriegslärm und das Elend nicht aus Deiner geraden Bahn bringen können. O, ich glaube wohl, dass das Elend stumpf machen will [...] Oftmals bin ich unglücklich, dass alles Leid nicht durch mich geht, so wenigstens könnte ich einen Teil meiner Schuld abtragen an denen, die unverdient so viel mehr leiden müssen wie ich. [...]“

„[...] Wahrscheinlich werde ich im nächsten Semester auch zum Arbeitseinsatz herangezogen. Ich bin nicht so unglücklich darüber, weil ich auch noch leiden will [...] über der ganzen Zeit. Verstehst Du, das Mitleiden fällt oft schwer und wird gerne zur Phrase, wenn nicht der eigene Körper weh tut. [...]

Die Vereinbarkeit von Reichsarbeitsdienst und Sophies Absichten ist am 06-06-42 im Brief an Lisa Remppis noch nicht vorhanden:

„[...] aber eine Befreiung ist aussichtslos. Ich kann mich höchstens bis September zurückstellen lassen, das tu ich auch.“

Die dann folgende Funktionalisierung des Reichsarbeitsdienstes für das Abtragen von Schuld kann man im später in dieser Arbeit ausgeführten Kontextzusammenhang mit ihrem intensiven Zwiegespräch zu Gott Anfang 1943 sehen und mit ihren mehrfachen Anspielungen, sich zu bewähren.

10. Zitate von Sophie – Betreff: Entwicklung ihres Menschenbildes.

Die Zitatensammlung zur Entwicklung von Sophies Menschenbild zeigt insbesondere, wie Sophie durch Erstellung von Vergleichen sich selbst als unterschiedlich wahrnimmt. Die zeitlich und situationsbedingt unterschiedlichen Reaktionen auf konstatierte Differenzbeziehungen decken im zeitlichen Verlauf eine moralische Entwicklung auf. Sophies überhebliche Reaktionen in Krauchenwies auf als intellektuell und kulturell unterlegen wahrgenommene Mitmenschen leiten einen Prozess der kritischen Selbsterforschung ein, wie im folgenden anhand von Belegen argumentativ aufgezeigt.

Das diesbezügliche Schlüsselerlebnis ist ihre Einnahme einer Außenseiterrolle, die sich nicht nur in ihrer abendlichen Absonderung vom schwatzenden Mädchenkreis durch den Vorzug der literarischen Beschäftigung zeigt, sondern auch durch die bevorzugende Sonderrolle, welche ihr durch die Lagerführerin im Schwerpunkt aufgrund ihres künstlerischen Talents verliehen wird.

Man kann die Vermutung anstellen, dass die aufgrund der Differenz erworbenen sogenannten Sonderrechte - wie von Sophie im Brief am 25-04-41 beschrieben, den Legitimitätsanspruch ihrer Außenseiterrolle beschrieben haben, dadurch bei der Rollenfestsetzung bei gleichzeitiger Manifestation eines ja gerechtfertigten Überlegenheitsgefühls verstärkend gewirkt haben.

Äußerst abqualifizierende und diffamierende Äußerungen belegen Sophies relativierende Selbsterhöhung:

25-04-41: „[...] ich stehe so ziemlich mit allen gleich gut. Ich bin auch ganz froh deshalb, so muß ich schon keine Zeit mit der oder jener vertrödeln.“

01-05-41: „Da Du mich nach meiner Belegschaft fragst: Ich finde sie (ohne gefährliche Gefühle mitspielen zu lassen) sehr durchschnittlich. In dieser Art, dass weder dieses noch jenes Extrem vertreten ist. Kein besonders guter Durchschnitt. Man muß sich in Acht nehmen vor dieser großen Masse. Sie hat in manchen Dingen unheimlich Anziehungskraft. Andererseits ist es oft schwer, nicht ungerecht zu werden.“

Die am 01-05-41 niedergeschriebene Hierarchisierung, in anderen Briefen weiter konkretisiert durch Charakterisierung der Mädchen als einfach, kulturell und literarisch uninteressiert, deutet Sophies Angst vor der Masse an. Diese Angst, der Anziehungskraft der Masse zu erliegen und so Individualitätsverlust zu erleiden, veranlasst zur Formulierung der These, dass Sophies Einnahme der Außenseiterrolle eine bewusste Selbsterhaltungsstrategie darstellt, um Verschmelzungsprozesse mit einer unförmigen Masse zu vermeiden.

Folgende Zitate unterstützen diese These:

27-04-41: „Da wir jetzt Freizeit zum Schreiben haben, tu ich halt auch, was alle andern tun. Wenn’s nicht so auffallen würde, ginge ich ein bisschen weg, oder würde malen.“

23-06-41: „Ich mache (allerdings erst seit gestern) nun auch die allgemeine vielverpönte Mode mit, Fotos von innen an die Spindtür zu heften.“

Die Methode der Selbstvergewisserung, das eigene Verhalten ins Verhältnis zur Masse zu setzen und Unterschiede zu konstatieren, ist ab 1938 in den Aufzeichnungen auffindbar.

Am 24-09-38 beschreibt sie zum Beispiel, wie sie mit Inge im öffentlichen Raum gesungen hat, wobei sie sich „einen Dreck um die dummen Gesichter der verwunderten Menschheit gekümmert“ haben.

Die positive Beurteilung eines unverfälschten Verhaltens unter Mitmenschen verdeutlichen ihre Gedanken zur Religionsausübung, niedergeschrieben am 04-11-41 und vom 05-04-42.

„[...] Ich kniete hin und versuchte zu beten. Dabei aber dachte ich: du musst dich schicken, damit du bald aufstehen kannst, bevor jemand kommt. Ich hatte keine Angst, wenn fremde Menschen mich knien sehen würden. Aber vor Hildegard hatte ich Angst, sie könnte hereinkommen. So mochte ich mein Verschwiegenstes nicht preisgeben. Wahrscheinlich ist das falsch, wahrscheinlich falsche Scham. Darum wurde mein Gebet auch hastig, und ich stand auf, wie ich vorher niedergekniet war. [...]“

„[...] Ich möchte mich hinknien, weil es richtig ist meinem Empfinden nach, aber ich habe Hemmungen vor denen, die mir zuschauen könnten, vor allem, wenn jemand Bekanntes dabei ist. [...]“

Ihre Feststellung, ihre Bedürfnisse vor anderen nicht ungehemmt ausleben zu können, werden als Verhalten „falscher Scham“ abgeurteilt. Diese Aburteilung ist erklärbar mit Sophies starkem Bedürfnis nach Einfältigkeit, das zur Wunschformulierung, auf einer Insel zu leben, führt.

Man vergleiche diesbezüglich die Briefe vom 22-05-40 und 29-05-40.

Der Zustand der Zwiespältigkeit durch Nichtpassung von Wunschverhalten und realisiertem Verhalten wirkt als Anpassungsmaßnahme an die Masse identitätsbedrohend.

Sophie bedient sich Anno 1940 und Anno 1941 teilweise eines Vokabulars, das erschreckend menschenverachtend ist und einer hochsensiblen ästhetischen Empfindsamkeit ungezügelt Lauf lässt. Vermuten kann man, da sie literarisch bewandert ist, eine Anlehnung an die Sprache des Expressionismus. Am 05-08-40 beschreibt sie ihre Schlafgenossin als intellektuell gleichgestellt mit einer „Henne“ bei „130 Pfund unsympathischem Fleisch“. Auf einen Konflikt mit einem beliebten Mädchen in Krauchenwies reagiert sie am 14-04-41 mit dem Geständnis, „leichten Ekel“ bei ihrem Anblick zu empfinden, der am besten in eine „Hafenkneipe“ passe. Möglicherweise stellt diese Form der Diffamierung eine Reaktion auf das Ablehnungsverhalten anderer dar, um Beleidigungen mit Contrabeleidigungen zu kompensieren. Nicht nur die am 14-04-41 schriftlich fixierte Konfliktszene unterstützt diese Vermutung, sondern auch die im Zitat vom 21-04-38 beschriebenen heftig emotional beladenen, Rache auslebenden Konfliktreaktionen:

„Ich habe aber der Liesel aus Wut drei weitere Briefpapiere geklaut. Sie merkt’s ja doch nicht. Inges Kette biß ich auch kaputt. Das hilft leider alles nicht für meine schlechte Laune.“

Im Lager Krauchenwies beginnt Sophie den Prozess, sehr selbstkritisch ihre emotionalen und Verhaltensreaktionen zu hinterfragen. Dafür – so kann man folgern, war in der Schul- und Ausbildungszeit kein Anlass gegeben, weil sie keine tendenziell intellektuell begründete Außenseiterrolle einnahm. Die Zitate vom 12-02-42 und das folgende vom 11-04-41 belegen, dass Sophie ihr Verhalten als prahlerisch und hochmütig diagnostiziert und im Überlegenheitsgefühl die Quelle sieht.

„[...] Heute abend habe ich leider wieder einen Augenblick geprahlt. Nicht gelogen, auch nicht übertrieben, aber ich merkte beim Sprechen, dass ich gerne imponieren wollte. Ich fürchte, ich gewöhne mich allmählich ein. Ich werde mich zusammennehmen. Das Lesen abends wird mir dabei helfen. [...]“

Die beiden Zitate sind der Beginn einer gnadenlosen Selbstanalyse, Selbstanklage und Schuldzuweisung in Form von Anrufungen zu Gott ab Ende 1942.

Dass Sophie sich auf einen zwiespältigen Lebensstil einlässt, indem sie die Beziehung zum von anderen wertgeschätzten Alexander Schmorell bloß aus Eitelkeit eingeht – wie sie am 10-10-42 schreibt, zeigen zum einen ihr Bewusstsein über die Identitätsgefährdung durch Imagepflege und zum anderen ihr Bewusstsein über ihr hochgradig hierarchisches Denken. Die Anziehungskraft, welche die Intellektualität auf Sophie ausübt, ist nicht nur durch das bildungsbeflissene Elternhaus begründet, sondern auch durch die Funktion der Einnahme einer Contraposition zur nationalsozialistischen Gesinnung.

Am 28-10-42 argumentiert sie gegen die sozialdarwinistische Ideologie, sieht in ihr den Untergang des Geistes und legitimiert als Gegenpol zur „brutalen Gewalt“ eine Hierarchie, aufgebaut auf dem Fundament der Geisteskraft. Dass Sophie aktuelle hierarchische Verhältnisse ablehnt, kann man durch das Lesen der Zitate über charakterbezogen schichtspezifische Präferenzen, schlussfolgern.

Diese offenbaren auch, dass Sophie nicht grundsätzlich Interaktion :mit Gebildeten als angenehm empfindet, sondern aus der Interaktion mit sogenannten einfachen Leuten einen hohen emotionalen Gewinn zieht. Beispielhaft sei das Zitat vom 08-08-40 angeführt:

„[...] Selten wurden wir so gastlich und warm aufgenommen wie von den Leuten hier, und wenn’s und mal schlecht gehen sollte, so wissen wir, wohin wir zu gehen haben. Zudem weht eine herrlich freie Luft hier, in jeder Beziehung. Wie gut können einfache Menschen tun. [...] Ich kann Dir gar nicht beschreiben, wie gut die Menschen zu uns waren. Ein Einheimischer, der mit uns an der schwierigsten Wand der Warther Hörner aufgeklettert war, suchte immer wieder seinen Rucksack durch, um etwas für uns zu finden. [...] Und die Leute von unserem jetzigen Quartier sind ebenso rührend und besorgt. [...]“

Am 19-01-43 äußert sie nach Phasen hoher Selbstbeschuldigungen die Ansicht, eine „ewige Ordnung, in der der eine höher steht als der andere [...]“ sei „ganz richtig so“. Dieses Bekenntnis zur Hierarchie wird nicht konkretisiert und begründet. Die These, dass der konstatierte Verlust ihrer Antipathien gegen eine hierarchische Gesellschaftsordnung ein Versuch ist, sich durch eine Selbstverortung in eine Hierarchie von ihrem Überlegenheitsstreben zu befreien, belegt folgendes Zitat:

„Ich habe dies an mir selbst entdeckt, [...] am Ehrgeiz nämlich. Ich verwerfe ihn ganz und gar [...] Anstatt dass ich ihm zugestände, dass er der bessere Läufer sei, und meinen zweiten oder zwanzigsten Platz als ganz gerecht und mit Bescheidenheit einnähme.“

Die These – so soll schließlich als Fazit bekräftigt werden, dass Wahrnehmungen von Differenzen zu Mitmenschen in Bezug auf politische Einstellung, Interessen und Intelligenz eine bedeutende Determinante für die Entwicklung von Sophies hohem moralischen Anspruch darstellen, findet mit dieser Zitatensammlung zu Sophies Menschenbild eine breite argumentative Untermauerung.

11. Zitate von Sophie: Betreff – Das Bedürfnis – Schönes zu teilen, Bescheidenheit und moralischer Anspruch.

Aus Sophies schriftlich fixiertem Teilverhalten kann man zwei Teiltypen herauskristallisieren.

Sophie teilt materielle und immaterielle Dinge. Unter materiellen Dingen kann man Güter wie eine von Fritz geschenkte Schokolade oder geschenkte Strümpfe fassen, die sie nicht für sich behält, sondern mit ihren Mitmenschen teilt. Da sie dieses gutherzige Verhalten nicht verschweigt, sondern Fritz als Information zukommen lässt, kann man eine Funktionalisierung des Teilens für Sophies Imagepflege vermuten. Das Verhalten, bei Fritz einen guten Eindruck durch Präsentation eines hohen moralischen Anspruchs zu hinterlassen, deckt sich mit Sophies kleinem Laster der Prahlerei und ihrer starken Wahrnehmung von Reaktionen und Wertungen ihrer Mitmenschen auf sie selbst.

Man vergleiche diesbezüglich die Zitatensammlung mit dem Betreff „Entwicklung ihres Menschenbildes“.

Ihre Angst, einen selbstsüchtigen Eindruck zu hinterlassen, kommt insbesondere im Brief an Inge vom 11/12-41 zum Ausdruck:

„[...] Ich zählte es also bloß zu einer und Deiner Sicherheit noch einmal auf. Entschuldige also bitte den bösen Eindruck, den dies hervorgerufen hat. Ich weiß ja, wie viel Du zu tun hast. Ich bitte Dich deshalb auch recht ungern um etwas.. [...].“

In der Zitatensammlung auffindbare Begriffe wie „unberechtigte Forderung“ und „Sonderwünsche“ sind Ausdruck einer selbstermahnenden Eingrenzung in einen moralisch adäquaten Bedürfnisrahmen, gemessen an Forderungen und Wünschen ihrer Mitmenschen. Man kann daraus die These ableiten, dass Sophies Bescheidenheitspostulat aus ihren tendenziell ablehnenden Gefühlen gegenüber hierarchischen Konstruktionen rührt. Der moralische Anspruch, sich materiell in Bescheidenheit zu üben und durch Teilen mit Mitmenschen gleiche Ebenen zu erstellen ist verwandt mit dem oben ausgeführten moralischen Anspruch, das Fühlen, Denken und Handeln von eitlen und prahlerischen Motiven zu lösen und einen „zweiten oder zwanzigsten Platz als ganz gerecht und mit Bescheidenheit“ einzunehmen.

Man vergleiche diesbezüglich den Brief vom 19-01-43.

Die Zitate vom 12-01-40, 19-07-40, 22-08-40, 12-11-40, 05-06-41 und vom 05-04-42 stehen als Belege für den immateriellen Teiltyp.

Das Zitat vom 12-01-40 zeigt auf, dass Sophie etwas als subjektiv gut empfundenes ihren Mitmenschen als nachahmenswert anempfiehlt. Den in den weiteren Zitaten manifestierten Wunsch, einen Wahrnehmungsaugenblick von zwitschernden Vögeln, Bergblumen, dem pfeifenden Wind, einem schönen Weg und einem Kinderlächeln mit anderen zu teilen, kann man nicht nur auf das Bedürfnis zurückführen, auch anderen Gutes zu gönnen, sondern auch auf den Wunsch, schöne Gefühle mit anderen zu teilen und dadurch eine mit der Natur verschmelzenden, harmonische Nähe zu konstruieren. Diese These wird durch die zahlreichen Belege in der Zitatensammlung, welche die Verschmelzung mit der Natur zur Erstellung einer harmonischen Einheitlichkeit als ausgleichenden Gegenpol zur Zwiespältigkeit in der Welt beschreiben, untermauert. Diese These wird auch durch die zahlreichen Belege in der Zitatensammlung unterstützt, welche ein starkes menschliches Nähebedürfnis Sophies beschreiben. Man vergleiche diesbezüglich die Betreffs „Funktionalisierung von Objekten und Gedanken zur Erstellung einer emotionalen Verbindung und Nähe.“

12. Zitate von Sophie – Betreff: Religion und Gott.

Sophies intensive im Tagebuch fixierte Gebetsphase beginnt Ende 1941 in Blumberg und dauert bis Ende 1942 an.

Der letzte sicher abgeschickte Brief an Fritz ist vom 22-03-41. Dann folgen zwei vermutlich nicht abgeschickte Briefe am 18-04-41 und am 20-04-41. Ein ernsterer Konflikt zwischen Sophie und Fritz ist herauslesbar. Bis zum August 1942 ist kein weiterer Briefwechsel publiziert. Die Phase der intensiven Gebete zu Gott geht einher mit einer Funkstille zwischen Sophie und Fritz, es sei denn – man hat von der Publikation doch vorhandener Briefe beim Selektionsverfahren abgesehen.

[...]

Fin de l'extrait de 107 pages

Résumé des informations

Titre
Sophie Scholl. Eine junge Frau zwischen Begehren und Pflicht
Sous-titre
Ein Interpretationsversuch anhand von Tagebüchern und Briefen
Université
University of Duisburg-Essen  (Germanistik)
Cours
Hauptstufenseminar: Mythos, Legende und historische Rekonstruktion am Beispiel der Gruppe Weiße Rose
Note
sehr gut
Auteur
Année
2002
Pages
107
N° de catalogue
V6843
ISBN (ebook)
9783638143240
ISBN (Livre)
9783638726498
Taille d'un fichier
761 KB
Langue
allemand
Mots clés
Sophie, Scholl, Eine, Frau, Begehren, Pflicht, Hauptstufenseminar, Mythos, Legende, Rekonstruktion, Beispiel, Gruppe, Weiße, Rose
Citation du texte
Isabel Ebber (Auteur), 2002, Sophie Scholl. Eine junge Frau zwischen Begehren und Pflicht, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/6843

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