Leseprobe
Einleitung
In dem Film "Der Prinz von Ägypten" wird die biblische Geschichte von Moses erzählt, der die Israeliten aus der ägyptischen Gefangenschaft befreit und ins Gelobte Land ihrer Vorfahren zurückführt.
Während in der Sklavenstadt auf Befehl des Pharao alle neugeborenen Jungen der Hebräer von ägyptischen Soldaten getötet werden, versucht eine Mutter ihrem Sohn das Leben zu retten, indem sie ihn in einem Weidenkorb im Fluß aussetzt. Die Gemahlin des Pharao findet den Kleinen am Ufer, adoptiert ihn und nennt ihn Moses. So wächst er im Königspalast als Prinz von Ägypten und Bruder des Thronfolgers Ramses auf, ohne je von seiner Adoption zu erfahren. Als erwachsener Mann trifft er auf seine Schwester Miriam, die ihm von seiner wahren Herkunft erzählt, aber er glaubt ihr nicht. Allein das Lied, welches sie anstimmt, weckt in ihm eine leise Erinnerung - es ist das Lied seiner Mutter, das sie zum Abschied sang, als sie ihn in den Korb legte. Verwirrt von diesem Zusammentreffen kehrt er nach Hause zurück, in seinen Palast, schläft ein und träumt von dem Kindermord und von seiner Rettung.
Diese etwa 2-minütige Traumsequenz soll Gegenstand nachfolgender Analyse sein. Untersucht wird die narrative Methode und insbesondere, wie die Traumsequenz Vergangenes aufgreift, um auf Zukünftiges vorauszuweisen. Bestimmte formale Lösungen spielen für die Narration eine tragende Rolle, so z. B., daß der Traum in Form einer animierten ägyptischen Wandmalerei erzählt wird.
Die Narration in Moses' Traumsequenz
Die Traumsequenz handelt primär vom Kindermord der Ägypter an den Sklaven und von Moses' Rettung durch seine Mutter, die ihn in einem Weidenkorb am Nil aussetzt. Die Handlung fliegt innerhalb von nur knapp zwei Minuten in rascher Schnittfolge am Zuschauer vorüber - schnelle Fahrten und Schwenks werden begleitet von rasanter, vorwärtstreibender Musik, die das Motiv des Abschiedsliedes immer wieder hindurchklingen läßt.
In dieser kurzen Sequenz wird ein Teil aus der Eingangssequenz des Films aufgegriffen und ergänzt und gleichzeitig auf die zukünftige Entwicklung von Moses angespielt. Die äußerst dichte Narration wird hier durch das Vorwissen des Zuschauers unterstützt: Einerseits wird bei ihm eine zumindest ungefähre Kenntnis der Bibel vorausgesetzt; andererseits wird durch die Aufnahme von Motiven aus der Eingangssequenz die Wiedererkennung der entsprechenden Handlung gefördert. Dies geschieht u. a. durch die Wiederholung bestimmter formaler Elemente wie z. B. der Dreiergruppe der Mutter und der beiden Geschwister Aaron und Miriam mit Moses und dem Weidenkorb, der Soldaten, die durch ihre Waffen (Lanzen und sichelförmige Schwerter) gekennzeichnet sind, der typischen Papyrusstauden am Ufer des Nil und nicht zuletzt der musikalischen Motive.
In der Traumsequenz wird die eingangs nur angedeutete Geschichte um den Kindermord durch die chronologische Abfolge der Ereignisse erzählt: Der Pharao gibt den Befehl, die Truppen marschieren in das Wohngebiet der Sklaven, berauben die Frauen gewaltsam ihrer Säuglinge, Moses' Mutter mit den beiden älteren Geschwistern Aaron und Miriam fliehen aus der Stadt und bringen den kleinen Moses zum Fluß, Abschiedsszene.
Gleich nach dem Traum sucht Moses die Fresken auf, die die Bluttat an den Hebräern dokumentieren. Fassungslos und ungläubig darüber, daß sein Traum ihm die Wahrheit offenbart hat, sinkt er in sich zusammen. Der Pharao erscheint und klärt ihn über den Hintergrund der Geschichte auf: "Die Hebräer waren zu zahlreich geworden. Es bestand die Gefahr, daß sie sich gegen uns stellen". Den Kindermord beschwichtigt er mit den Worten: "Ach, mein Sohn, es waren doch nur Sklaven". Und um der Sache Legitimität und Gewicht zu verleihen, sagt er: "Es kommen Zeiten, da muß man für das große Ganze Opfer bringen".
Dieser kurze Dialog zwischen Vater und Sohn ergänzt die Traumsequenz, die sich allein der Bildersprache und Musik bedient, um die Klärung geschichtlicher Zusammenhänge, die der Szenenabfolge des Kindermordes selbst übergeordnet sind.
Der Erzählstrang um den Kindermord ist verwoben mit einem weiteren, nämlich der Beobachtung Moses'. Er verfolgt die Ereignisse aus seiner frühen Kindheit als erwachsener Mann "vor Ort", ohne selbst involviert zu sein. Zunächst flüchtet er vor den marschierenden Truppen des Pharao, die zeitlos wie er selbst als Inventar des königlichen Palastes in der Wandmalerei dargestellt sind. Dann verfolgt er das Geschehen weiter, jeweils von einem abstrakten Standpunkt aus, der sich außerhalb der Register[1] befindet: Der Kindermord und seine Rettung spielen sich vor Moses' Augen wie ein Film ab - seine äußere Erscheinung bleibt aber die einer Figur aus der Malerei, womit ihre Zugehörigkeit zur Traumwelt signalisiert wird. Dieser abstrakte Standpunkt ist nicht näher definiert - Moses erscheint als Silhouette in Nah oder Halbnah entweder vor abstraktem Hintergrund oder vor der Szenerie des Geschehens, während der Kindermord selbst vorwiegend in Totalen gezeigt wird.
Moses befindet sich also meistens in einem Vordergrund, der mit der Topographie innerhalb der Geschichte nichts zu tun hat. Es sieht so aus, als beobachte er die Wandmalerei, die vor seinen Augen in Bewegung gerät und somit eine Geschichte erzählt. Der Traum erlaubt diese Überlagerung von Ebenen - insbesondere von Zeitebenen. In der Wandmalerei sind indessen die Taten des Pharao verewigt, in eine zeitlose Ebene versetzt. Somit kann Moses als verewigter Sohn des Pharao einem Geschehen beiwohnen, das lange Zeit zurückliegt, an das er sich eigentlich nicht erinnern könnte. Nach der Abschiedsszene am Fluß ist Moses' Figur wieder in die Malerei integriert: Verfolgt von den marschierenden Soldaten stürzt er vom Ufer des Nil kopfüber in eine abstrakte Sonne, dreht sich dabei und fällt schließlich hinunter in den blutgetränkten Nil.
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[1] horizontale Gliederung altägyptischer Wandgemälde und Reliefs