Seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert entwickelte sich im Katholizismus eine bis dahin unbekannte Form einer praktischen Mystik. Diese Erlebnismystik stand im Gegensatz zur spekulativen oder philosophischen Mystik und war zum größten Teil identisch mit Frauenmystik, weil Frauen sehr viel öfter von solchen Erlebnissen der Einswerdung der Seele mit Gott berichteten als Männer. Die Erfahrungen dieser Mystikerinnen wurden häufig von ihnen selbst oder einer ihnen nahestehenden Person aufgezeichnet und sind uns in dieser Form überliefert. Auf den modernen Leser wirken diese Schilderungen von außerordentlichen Erlebnissen oft befremdlich und unvorstellbar. Es stellt sich die Frage, ob die jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser wirklich an diese von ihnen geschilderten übernatürlichen Vorgänge geglaubt haben oder ob es sich nur um literarische Fiktionen handelt. Diese Frage nach Authentizität bzw. Fiktionalität der in den Texten geschilderten mystischen Erlebnisse wird in der germanistischen Mediävistik kontrovers diskutiert. Die Einschätzung des Wahrheitsgehalts der frauenmystischen Texte hat große Auswirkungen auf die Bestimmung der Intention der Verfasserin bzw. der Funktion der Texte. Problematisiert werden in diesem Zusammenhang auch Fragen der Textentstehung. So wird zum Beispiel gefragt, ob es sich bei den in den Texten häufig auftauchenden Seelsorgern, die den Mystikerinnen bei ihren Aufzeichnungen angeblich helfend zur Seite standen oder sogar selbst die Verschriftlichung des Lebens einer begnadeten Frau übernahmen, um reale historische Personen handelte. Gegner dieser Annahme vertreten zum Beispiel die Auffassung, die auf theologischem Gebiet als inkompetent geltenden Frauen hätten die Figur eines fiktiven Seelsorgers in ihre Texte aufnehmen müssen, um so ihr Werk zu legitimieren. Im Rahmen dieser Arbeit werden einige Positionen zu diesen Fragen vorgestellt.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- I. Herbert Grundmann: Die dominanten Rolle der Männer bei der Entstehung der deutschen Mystik
- II. Siegfried Ringler: Frauenmystische Texte als mystische Lehre in legendarischer Form
- III. Ursula Peters: Der Beichtvater als literarische Fiktion
- IV. Susanne Bürkle: Frauenmystische Texte als Literatur des Klosters
- V. Peter Dinzelbacher: Frauenmystische Texte als Erlebnisberichte
- VI. Erlebnis vs. literarische Fiktion?
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Seminararbeit befasst sich mit der Frage, ob die Texte der mittelalterlichen Frauenmystik authentische Erlebnisaufzeichnungen oder literarische Fiktionen darstellen. Ziel ist es, verschiedene Positionen zu dieser Frage zu analysieren und anhand der vorgelegten Texte eine eigene Einschätzung zu entwickeln.
- Die Rolle der männlichen Seelsorger bei der Entstehung der Frauenmystik
- Die Interpretation von Frauenmystik als literarische Lehre in legendarischer Form
- Die Analyse der Figur des Beichtvaters als literarische Konstruktion
- Die Einordnung von Frauenmystik in die Texttradition des Klosters
- Die Frage der Authentizität und Fiktionalität von Erlebnisberichten in den Frauenmystik-Texten
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel behandelt die Untersuchungen von Herbert Grundmann zur Frauenmystik und fokussiert auf die Bedeutung der männlichen Seelsorger bei der Entstehung und Verbreitung dieser mystischen Tradition. Kapitel zwei beschäftigt sich mit Siegfried Ringlers Position, der Frauenmystik als Lehrtexte in legendarischer Form betrachtet, anstatt als direkte Niederschriften von übernatürlichen Erlebnissen. Kapitel drei stellt die Analyse von Ursula Peters vor, die die Rolle des Beichtvaters als literarische Fiktion interpretiert und die Authentizität der in den Texten beschriebenen Ereignisse infrage stellt. Kapitel vier widmet sich Susanne Bürkles feministischer Analyse von Frauenmystik und interpretiert die Texte als spezifisch monastische Texttradition mit der Funktion einer Traditionsstiftung für den weiblichen Zweig des Dominikanerordens. Kapitel fünf schließlich präsentiert die Position von Peter Dinzelbacher, der im Gegensatz zu Ringler und Peters die Frauenmystik-Texte als authentische Erlebnisberichte betrachtet.
Schlüsselwörter
Frauenmystik, mittelalterliche Mystik, Authentizität, Fiktion, Seelsorger, Vitenliteratur, Offenbarungsliteratur, Nonnenviten, Einzelpersönliche Viten, Legenden, Beichtvater, monastische Texttradition, Erlebnisberichte, feministische Textanalyse.
- Citar trabajo
- Judith Blum (Autor), 2006, Texte der mittelalterlichen Frauenmystik - authentische Erlebnisaufzeichnungen oder literarische Fiktion?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/68700