Konzepte und Strategien zur Deeskalation von Gewaltbereitschaft und Aggressionen in niederigschwelligen Einrichtungen der Drogen- und Wohnungslosenhilfe


Mémoire (de fin d'études), 2005

110 Pages, Note: 1,7


Extrait


INHALTSVERZEICHNIS

1. EINLEITUNG
1.1. PROBLEMSTELLUNG
1.2. ZIELSETZUNG
1.3. VORGEHENSWEISE
1.4. BEGRIFFSBESTIMMUNG
1.4.1 Problematik bei der Definition
1.4.2 Definitionen
1.4.3 Formen aggressiven Verhaltens
1.5. PRÄVALENZ

GRUNDLEGENDES ÜBER AGGRESSION UND GEWALT
2. MODELLE ZUR ENTSTEHUNG GEWALTTÄTIGEN VERHALTENS
2.1. KLASSISCHE PSYCHOLOGISCHE THEORIEN
2.1.1 Aggression als angeborene Verhaltensdisposition
2.1.2 Aggression als Reaktion auf Umweltreize
2.1.3 Aggressives Verhalten als Folge von Lernprozessen
2.2. KLASSISCHE SOZIOLOGISCHE THEORIEN ABWEICHENDEN VERHALTENS
2.2.1 Die Anomietheorie
2.2.2 Subkulturtheorien
2.2.3 Theorien des differentiellen Lernens
2.2.4 Die Theorie der Neutralisierungstechniken
2.2.5 Die Etikettierungstheorie (labeling approach)
2.2.6 Die Selbstkontrolltheorie
2.3. SOZIALPSYCHOLOGISCHE THEORIEN
2.4. NEUERE ANSÄTZE ZUR ERKLÄRUNG VON GEWALTTÄTIGKEIT

3. GEWALT ALS KONFLIKTLÖSUNGSSTRATEGIE
3.1. ABLAUF VON KONFLIKTEN
3.1.1 Ablauf der ‚Rechenschaftsepisode’
3.1.2 Die Eskalationstreppe
3.2. SEELISCHE FAKTOREN IM KONFLIKTGESCHEHEN
3.2.1 Auswirkungen von Konflikten auf die seelischen Faktoren
3.2.2 Auswirkungen auf das Verhalten, dessen Funktionen und Effekte
3.3. GEWALTTATEN UNTER DEM ASPEKT DER EMOTIONALEN ERREGUNG
3.3.1 Biologische Basics und Erregungsindikatoren
3.3.2 Differenzierung aggressiven Verhaltens anhand der beteiligten Erregung

4. ABLAUF VON GEWALTTATEN
4.1. VORAUSSETZUNGEN FÜR GEWALT
4.2. DER ABLAUF GEWALTSAMER VORFÄLLE
4.2.1 Die Angriffsphasen
4.2.2 Warnhinweise auf die Eskalationsphase
4.2.3 Zusammenfassung

5. MÖGLICHE ANSÄTZE ZUR DEESKALATION
5.1. DIE KATHARSIS-HYPOTHESE
5.2. ERSTE ABLEITUNGEN AUS DEN VORGESTELLTEN THEORIEN
5.2.1 Das ‚Belastungsmodell’
5.2.2 Ansatzpunkte für Prävention und Deeskalation

DIE LEBENSSITUATION DES KLIENTELS & DEREN AUSWIRKUNGEN AUF DAS GEWALTPOTENTIAL
6. DIE LEBENSSITUATION DER ZIELGRUPPE
6.1. EINGRENZUNG DER ZIELGRUPPE
6.2. SPEZIELLE BELASTUNGEN WOHNUNGSLOSER MENSCHEN
6.2.1 Die Lebensrealität
6.2.2 Konsequenzen der Lebensrealität
6.3. SPEZIELLE BELASTUNGEN DROGENABHÄNGIGER MENSCHEN
6.3.1 Die Lebensrealität
6.3.2 Konsequenzen der Lebensrealität
6.4. AUSWIRKUNGEN AUF DIE LEBENSREALITÄT (UND -QUALITÄT):

7. AUSWIRKUNGEN DER LEBENSREALITÄT AUF DIE GEWALTBEREITSCHAFT
7.1. EINWIRKUNG VON ALKOHOL UND DROGEN AUF DAS GEWALTPOTENTIAL
7.1.1 Spezielle Auswirkungen von Alkohol
7.1.2 Spezielle Auswirkungen des Drogenkonsums
7.2. AUSWIRKUNGEN DES SOZIALEN UMFELDES

8. ZUSAMMENFASSENDE WERTUNG

FOLGERUNGEN & HANDLUNGSANWEISUNGEN FÜR DIE PRAXIS..

9. PRÄVENTION DURCH GESTALTUNG DER RAHMENBEDINGUNGEN
9.1. NIEDRIGSCHWELLIGKEIT: MENSCHENBILD, ZIELE UND ANSÄTZE
9.2. ENTLASTENDE ANGEBOTE
9.2.1 Grundversorgung
9.2.2 Beschäftigung und Ermöglichen positiver Erlebnisse
9.3. ANFORDERUNGEN AN RÄUMLICHKEITEN UND INVENTAR
9.3.1 Übersichtlichkeit
9.3.2 Ausweich-, Rückzugs- und Fluchtmöglichkeiten
9.3.3 Atmosphäre der Räume
9.3.4 Weitere Anforderungen an die Räumlichkeiten der Einrichtung

10. PRÄVENTION ALS AUFGABE DER MITARBEITER
10.1. GRUNDSÄTZLICHES ÜBER EINSTELLUNG UND VERHALTEN
10.1.1 Die Einstellung zu Arbeit und Klientel
10.1.2 Grundsätzliches Auftreten
10.1.3 Grundsätzliches zum Umgang mit eigener Erregung
10.2. EXKURS: VORAUSSETZUNGEN FÜR ERFOLGREICHES HANDELN
10.2.1 Die Soziale Einflusstheorie
10.2.2 Die Interventionsberechtigung
10.3. PRÄVENTIVES ARBEITEN
10.3.1 Beziehungsaufbau und Präsenz
10.3.2 Klare Regeln

11. STRATEGIEN FÜR DEN KONFLIKTFALL
11.1. VORÜBERLEGUNGEN UNTER BERÜCKSICHTIGUNG DES EIGENEN INTERVENTIONSTYPS ..
11.1.1 Variable 1: Der Klient, Art und Stadium des Konfliktes
11.1.2 Variable 2: Die Beziehung des Sozialarbeiters zu Klient und Konflikt
11.1.3 Variable 3: Die situativen Gegebenheiten
11.1.4 Verzerrungen bei der Gefahrenprognose
11.1.5 ‚Gefährdungskriterien’ bei Sozialarbeitern
11.2. INTERVENTIONSSTRATEGIEN BEI KONFLIKTEN ZWISCHEN KLIENTEN
11.2.1 Grundsätze und in fast allen Stadien anwendbare Techniken
11.2.2 Vorgehen im frühen Konfliktstadium (Auslösephase)
11.2.3 Strategien für weiter fortgeschrittene Stadien (Eskalationsphase)
11.2.4 Vorgehen im Extremfall (Krise)
11.2.5 Verhalten in der Erholungsphase
11.2.6 Konsequente Nachbereitung (Sanktionieren)
11.3. SPEZIALFALL: SOZIALARBEITER ALS ZIELSCHEIBE VON GEWALT
11.3.1 Grundsätze, Strategien und Techniken für die gesamte Dauer des Vorfalles
11.3.2 Vorgehen in einem niedrigen Eskalationsstadium (Auslösephase)
11.3.3 Techniken für spätere Konfliktstadien (Eskalationsphase)
11.3.4 Vorgehen bei aussetzender Selbststeuerung des Aggressors (Krise)
11.3.5 Nach der Krise

12. ANSÄTZE FÜR EIN DEESKALATIONSTRAINING
12.1. ÜBERPRÜFEN DER SICHERHEITSSTANDARDS DER EINRICHTUNG
12.2. WORKSHOPINHALTE
12.2.1 Selbsteinschätzungsübung
12.2.2 Arbeit am Deeskalationstyp
12.2.3 Stressprophylaxe
12.2.4 Übungsvorschläge

13. SCHLUSSGEDANKEN

Abstract:

Die Vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, welche Strategien und Konzepte es zur Prävention von Gewalttätigkeit in niedrigschwelligen Einrichtungen der Sucht- und Wohnungslosenhilfe gibt und stellt Techniken vor, die in eskalierenden Situationen eingesetzt werden können.

Ein großer Teil der Arbeit beschäftigt sich mit grundlegenden Konzepten über die Entstehung von Aggressionen und aggressivem Verhalten und mit dem Ablauf von Gewalttaten. Außerdem wird auf die Auswirkungen von Erregung auf die innerpsychischen Vorgänge während eines Konfliktes und deren sichtbare Auswirkungen im Verhalten eingegangen. Auf Basis dieser Theorien wird ein Modell (das ‚Belastungsmodell’) zur Ableitung von Ansatzpunkten zur Prävention und Deeskalation entwickelt. Besonderer Wert wird auf die Darstellung der Lebenssituation des Klientels gelegt, die diese einen wichtigen Einfluss auf das Gewaltpotential darstellt.

Aus diesen Grundlagen werden zielgruppenspezifische präventive Rahmenbedingungen abgeleitet, welche sowohl die räumliche Gestaltung als auch deeskalierende Angebote beinhalten und spezielle Anforderungen an das Verhalten der Mitarbeiter stellen. Zusätzlich werden Techniken und Grundsätze für das Handeln im Konfliktfall ausführlich vorgestellt und einige Inhalte für ein Deeskalationstraining vorgeschlagen.

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Abbildung 1: Überschneidung von Aggression und Gewalt (NOLTING 1981, S. 23) 5

Abbildung 2: Das psychohydraulische Modell (WERBIK 1974, S. 55) 10

Abbildung 3: Verhältnis von Verinnerlichungsgrad von Normen und Akzeptierungs- grad von Rationalisierungen (OPP 1974, S. 105 entnommen aus LAMNEK 1979, S. 215) 21

Abbildung 4: Die Lokalisation der Selbstkontrolle in einem zweidimensionalen Raum (LAMNEK 1994, S. 14) 22

Abbildung 5: Psychologische Bedingungen der Beteiligung an Gewaltaktionen (NOLTING 1981, S. 33) 24

Abbildung 6: Seelische Faktoren im Konflikt (GLASL 2002, S. 36) 28

Abbildung 7: Die 8 Funktionen des Konfliktverhaltens (GLASL 2002, S. 43) 30

Abbildung 8: Die Erregungskurve (DUTSCHMANN 2000b, S. 14) 33

Abbildung 9: Die Erregungsphasen (DUTSCHMANN 2000c, S. 25) 35

Abbildung 10: Die typischen Angriffsphasen (BREAKWELL 1998, S. 56) 38

Abbildung 11: Das Grundmodell menschlichen Verhaltens 44

Abbildung 12: Das aktuelle Belastungsgefüge 45

Abbildung 13: Das Belastungsmodell 47

Abbildung 14: Soziodemographische Daten: Familienstand und Wohnsituation der Klienten mit substanzbezogenen Hauptdiagnosen (Angaben in Prozent)

(SONNTAG & WELSCH 2004, S. 21) 54

Abbildung 15: Verhalten bei emotionaler Erregung (DUTSCHMANN 2000b, S. 96) 72

Abbildung 16: Interventionsbeeinflussende Faktoren (KORN & MÜCKE 2000, S. 60) 77

Abbildung 17: Aufmerksamkeitsentzug als Technik (GOSCINNY &UDERZO 1971, S. 25) .90

Abbildung 18: Selbsteinschätzungsübung 94

Abbildung 19: Der BEVA-Kreis (DUTSCHMANN 2000b, S. 94) 96

Abbildung 20: Die 9 Stufen der Konflikteskalation (GLASL 2002, S. 218 f) 99

1. EINLEITUNG

Dieses Kapitel beschreibt Problemstellung, Zielsetzung und Aufbau der Arbeit. Zusätzlich wird eine Definition wichtiger Begrifflichkeiten vorgenommen und die Bedeutung des Themas Gewalt für Sozialarbeiter verdeutlicht.

1.1. Problemstellung

Die Frage, um die sich diese Diplomarbeit dreht, heißt: „Was ist zu tun, wenn eine Situation eskaliert und was kann bereits im Vorfeld getan werden, damit es gar nicht erst soweit kommt?“

Dieses Thema hat sich aus einem Vorfall während meiner Arbeit in einer niedrigschwelligen Einrichtung der Suchthilfe ergeben, bei dem wir Mitarbeiter nur knapp einem Übergriff entgingen. Aggressives Verhalten der Klienten ist in Kontaktläden - gerade im Suchtbereich - keine Seltenheit. Doch das Bedrohen von Mitarbeitern oder gar Angriffe gehören nicht zur Tagesordnung.

Diese Begebenheit unterschied sich dadurch, dass die üblicherweise vor allem intuitiv wahrnehmbaren Anhaltspunkte dafür, wie weit der Klient noch von Gewalttätigkeiten entfernt ist, nicht spürbar waren. Dies machte die Situation uneinschätzbar. Anscheinend reagierten wir damals ‚richtig’, fragten uns danach aber, inwiefern die von uns eingesetzten Strategien und Verhaltensweisen im Widerspruch zu empfohlenen Vorgehensweisen aus der Fachliteratur stehen. Denn in einigen (von Kollegen besuchten) Deeskalationsschulungen wurden Verhaltensweisen gelehrt, die unserer Meinung nach in dieser Situation unweigerlich zum Ausbruch körperlicher Gewalt geführt hätten.

Derzeit ist es so, dass die von verschiedenen Autoren und ‚Deeskalationstrainern’ empfohlenen Strategien und Techniken sich teilweise widersprechen - ohne dies explizit zu begründen. Auch scheint es keine Literatur speziell für die Deeskalation in niedrigschwelligen Einrichtungen mit drogensüchtigem und/oder wohnungslosem Klientel zu geben.

Die vorliegende Arbeit soll einen Beitrag dazu leisten, diese Lücke zu schließen.

1.2. Zielsetzung

Diese Arbeit soll zu einem grundlegenden Verständnis des Phänomens ‚Gewalt’ führen und den Leser durch die Kombination bisher einzeln betrachteter theoretischer Modelle dazu befähigen, aus der Fülle möglicher Handlungsalternativen die jeweils situationsadäquateste auszuwählen. Dabei wird kein Anspruch auf Vollständigkeit der Deeskalationsstrategien und Techniken gestellt, sondern vielmehr soll dazu inspiriert werden, eigene Ansätze zu entwickeln.

Der Text ist auf einen Leser ausgerichtet, der über sozialpädagogische Grundkenntnisse verfügt. Vorwissen über das behandelte Klientel wird jedoch nicht benötig, da die Lebenssituation und deren Auswirkungen relativ ausführlich dargestellt werden.

1.3. Vorgehensweise

Um Handlungsmöglichkeiten auszuarbeiten ist es nötig, sich erst einmal mit den Grundlagen zu beschäftigen, also dem ‚wie’ und ‚warum’.

Deshalb werden in Kapitel 2 zuerst verschiedene Modelle zur Entstehung aggressiven Verhaltens vorgestellt, wobei der Schwerpunkt auf psychologischen (2.1) und soziologischen (2.2) Theorien liegt. Anschließend wird der Ablauf von Konflikten und Eskalationsprozessen (3.1) und deren Auswirkungen auf Wahrnehmung und Verhalten (3.2) dargestellt. bevor in Abschnitt 3.3 Gewalt unter dem Aspekt der emotionalen Erregung differenziert wird. Das darauf folgende Kapitel 4 beschäftigt sich mit dem Ablauf von Gewalttaten , wobei zuerst Vorraussetzungen für das Auftreten von Gewalt aufgezeigt werden (4.1) bevor ein Muster typischer Angriffsphasen vorgestellt wird (4.2).

Das fünfte Kapitel zeigt erste mögliche Ansätze zur Deeskalation auf. Dafür werden zunächst gängige Katharsis-Hypothesen eingeführt (5.1) und diese dann zusammen mit den anderen Grundlagen zu einem eigenen Modell verdichtet (5.2); auf dem die weitere Arbeit aufbaut, da anhand dessen Grundsätze zur Verhinderung von Gewalt abgeleitet werden.

Da Verhalten immer eine Funktion aus Person und Situation ist, wird im nächsten Teil der Arbeit auf die spezielle Lebenssituation des Klientels (auf welches diese Arbeit ausgelegt ist) eingegangen.

Zuerst wird die Zielgruppe näher eingegrenzt (6.1), danach die Lebenssituation von wohnungslosen (6.2) und drogensüchtigen (6.3) Menschen dargestellt und auf deren

Auswirkungen auf Lebensrealität und -qualität eingegangen (6.4). Anhand dieser Grundlage werden in Kapitel 7 die Auswirkungen der Lebenssituation auf die Gewaltbereitschaft abgeleitet, und zwar getrennt nach Auswirkungen des Substanzgebrauchs (7.1) und des sozialen Umfeldes (7.2). Den Abschluss bildet eine zusammenfassende Wertung (Kap. 8).

Im letzten Teil der Arbeit werden konkrete Strategien und Konzepte für die Praxis vorgestellt.

Zunächst werden Präventionsmöglichkeiten durch die Gestaltung der Rahmenbedingungen (Kap. 9) erläutert. Dazu wird erst das Konzept der Niedrigschwelligkeit kurz erläutert (9.1), bevor auf deeskalierender Angebote (9.2) und Anforderungen an Räumlichkeiten und Inventar der Einrichtung (9.3) eingegangen wird.

Danach wird vorgestellt, wie präventives Arbeiten aussehen sollte (Kap. 10). Dazu wird erst auf Einstellung und Verhalten der Mitarbeiter eingegangen (10.1), dann in einem kurzen Theorieeinschub auf Voraussetzungen für erfolgreiche Interventionen hingewiesen (10.2) um daraus einige konkrete Umsetzungsvorschläge abzuleiten (10.3).

Daraufhin folgt eine Sammlung von Strategien und Techniken für den Konfliktfall (Kap. 11), der Kriterien vorangestellt sind, die bei der Auswahl (und der Risikoabschätzung)zu beachten sind (11.1). Die Handlungsanweisungen selbst sind noch einmal unterteilt nach Konflikten zwischen Klienten (11.2) und Fällen, in denen Sozialarbeiter Ziel des Angriffes sind (11.3). Aus diesen Grundlagen werden Inhalte für ein Anti-Gewalt-Training abgeleitet (Kap 12), welches aus dem Überprüfen der Sicherheitsstandards der Einrichtung (12.1) und einem Workshop- Teil (12.2) besteht.

1.4. Begriffsbestimmung

Bevor näher auf den Umgang mit ‚Aggression’ und ‚Gewalt’ eingegangen wird, ist zu klären,wasdarunter zu verstehen ist.

1.4.1 Problematik bei der Definition

Der Versuch, die BegriffeAggressionundGewaltnäher zu definieren, führt in ein heilloses Begriffswirrwarr. Sie werden nicht nur in der Umgangssprache, sondern auch in der Fachliteratur sehr unterschiedlich verwendet - teils als Synonyme, teils mit mehr oder weniger klaren und von Autor zu Autor verschiedenen Abgrenzungen. Deshalb folgt hier als Einstieg ein kurzer Überblick über gängige Definitionen:

Aggression wird häufig als „Sammelbegriff [verwendet], der gleichermaßen Motive, Denkinhalte, Affekte und Verhaltensäußerungen umschreibt“ (HOFFMANN 1984, S. 7). „Wenn vonGewaltdie Rede ist, dann werden damit häufig extreme Formen der Aggression beschrieben“ (BERKOWITZ zit. nach BIERHOFF & WAGNER 1998, S. 6). Gemeinsam haben beide Begriffe, dass sie i.d.R. für Verhaltensweisen benutzt werden, die darauf zielen, „eine Person gegen ihren Willen zu schädigen oder zu verletzen“ (vgl. BREAKWELL 1998, S. 19). Unter „Verletzung“ werden hier nicht nur körperliche, sondern auch psychische oder emotionale Schädigungen verstanden, die z. B. auch durch Bedrohung oder Sachbeschädigung erfolgen können.

Allerdings machen einige Autoren die Unterscheidung zwischen den beiden Begriffen auch am Tatvorsatz oder der Ausdrucksform fest: So wird der Ausdruck Gewalt häufig dann verwendet, wenn eine Schädigung beabsichtigt war oder es sich um eine körperliche Attacke handelt.

Aggression kann weiter unterschieden werden in „instrumentelle Aggression(Aggression zur Lösung von Problemen),feindseligeAggression (auf Schmerz und Schaden des Opfers zielend),expressiveAggression (Ärger-/Wutausbrüche sollen Befreiung von Spannungen bringen),spontaneAggression (von sich aus auftretend, ohne spezifische Auslöser),reaktive Aggression (Aggression als Folge bestimmter Außenreize), ‚Aggression auf Befehl (aggressives Handeln ohne Einschaltung eigener steuernder oder hemmender Funktionen), offene(körperlich, verbal),verdeckte(in der Phantasie),positive(von der Sozietät gebilligte) und negative Aggression (gesellschaftlich missbilligt).“ (RAUCHFLEISCH 1992, S. 12). Außerdem kann noch zwischen ernster und spielerischer Aggression unterschieden werden. Diese Definition bringt zwar nicht allzu viel für die Praxis, zeigt aber schon, dass es die verschiedensten Gründe für und Arten von aggressivem Verhalten gibt.

Ein Grund dafür, warum eine eindeutige Definition anscheinend unmöglich ist, ist wohl die Subjektivitätder Bewertung: Denn ob ein Verhalten als aggressiv oder angemessen beurteilt wird, hängt nicht nur von situativen und normativen Kriterien ab, sondern auch „vom Bezugssystem des Beurteilers“ (vgl. SCHWIND U.A. 1990, S. 9). Darunter wird verstanden, wie weit derjenige verbale bzw. körperliche Gewalt als ‚normal’ betrachtet und welchen Bezug der Beurteilende zur Situation hat: Ist er beteiligt oder nicht? Ein außenstehender Beobachter führt eine verletzende Handlung eventuell auf Unachtsamkeit zurück, während das Opfer die selbe Aktion als Angriff erlebt. Es geht also immer darum,werdie schädigende Handlung ausübt,wiesie erlebt wird undwelcheGefühle dadurch ausgelöst werden.

Dabei sollte beachtet werden, dass die Bezeichnungen ‚gewaltsam’ und ‚aggressiv’ meist nicht nur als Beschreibung einer Verhaltenssequenz genutzt werden, sondern Etikette sind, die zur Rechtfertigung von (aggressiven) Gegenmaßnahmen dienen.

1.4.2 Definitionen

Die BereicheAggressionundGewaltsind voneinander nicht klar abgrenzbar, sondern überschneiden sich. Dies lässt sich nach folgendermaßen darstellen:

Abbildung 1: Überschneidung von Aggression und Gewalt (NOLTING 1981, S. 23)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In Anlehnung an dieses Schaubild und den Aggressionsbegriff nach HOFFMANN gelten für diese Arbeit die folgenden Definitionen:

Aggression

Der Bereich der „nicht-gewaltsamen Aggression“ wird im Folgenden nur noch als Aggression bezeichnet. Er wird gleichgesetzt mit dem Begriff „nichtmanifeste Aggressionen“ nach HOFFMANN, der für „aggressive Denkinhalte, Phantasien, Tagträume, Wünsche, Impulse, aber auch [...] entsprechende Affekte und Emotionen“ steht (HOFFMANN 1984, S. 7). Aggressionen sind also ein „Bestandteil unserer Gefühlswelt“ (KORN & MÜCKE 2000, S. 17).

Gewalt und aggressives Verhalten

Gewalthat meist das Ziel, jemanden dazu zu bringen, etwas gegen seinen Willen (oder seine Bedürfnisse) zu tun oder mit sich geschehen zu lassen. Um dieses Ziel zu erreichen, wird Zwang ausgeübt oder zumindest glaubhaft angedroht. Gewalt hat also immer etwas mit irgendeiner Art von Macht (z. B. durch physische oder psychische Überlegenheit) zu tun. (angelehnt an SELG U.A. 1988, S. 17)

Es gibt zwei Arten von Gewalt: Diestrukturelleund diepersonaleGewalt:

Der Bereichpersonale Gewalt- im Folgenden durch den Begriff aggressives (oder gewalttätiges) Verhalten ersetzt - fasst Verhaltensweisen zusammen, die bezwecken, Andere (Personen, Tiere oder Sachen) zu schädigen, eine Schädigung zumindest in Kauf nehmen oder glaubhaft androhen.

Hierbei handelt es sich um sichtbare Aktionen, d.h. um Prozesse mit klarem Anfang und Ende, die einen Ereignischarakter haben (vgl. RECK 2004, o. S.) und deshalb von HOFFMANN als „manifeste Aggressionen“ bezeichnet werden. Um auf die Motivation für diese Handlungen schließen zu können, muss einerseits dieemotionale Beteiligung, andererseits dasZielder Aktion betrachtet werden (vgl. BORNEWASSER 1998, S. 49): Wird z. B. ein Sozialarbeiter in einer geschlossenen Einrichtung von einem Klienten niedergestochen, kann dies sowohl aus Wut geschehen sein (Ziel: Verletzung) als auch deshalb, weil er einen Fluchtversuch gestört hat (Ziel: Flucht).

Personale Gewaltkann dementsprechendinstrumentell(ein Mittel zum Zweck) oder ein Ausdruck aggressiver Gefühle, alsoemotional bedingtsein.

Mit Gewalt ist im Folgenden immer diepersonaleGewalt gemeint; wenn es um strukturelle Gewalt geht, wird explizit darauf hingewiesen.

Strukturelle Gewalt

Strukturelle Gewaltist „in Organisationen, Institutionen, Gesetzen, Verhaltensvorschriften usw. enthalten“ und äußert sich „im Falle der Unterwerfung unter diese Regeln gar nicht“, sondern „nur im Widerstandsfall, dann allerdings sehr massiv“ (HACKER 1988, S. 40). Sie resultiert aus ungleichen Machtverhältnissen, versteckt sich hinter Rollen, Regeln, Normen und Werten oder ‚der Moral’ (also in Ge- und Verboten) und zeigt sich nur selten in situativen Gewalthandlungen (vgl. RECK 2004, o. S.).

Das Vorhandensein dieser strukturellen Gewalt - die sich meist hinter Etiketten wieNotwendigkeit, Pflicht, zu erzieherischen ZweckenoderRegelnversteckt - sollte reflektiert und immer wieder ins Bewusstsein gerufen werden, um mögliche Auslöser für Aggressionen entdecken, verstehen und vielleicht beseitigen zu können.

Denn manches aggressive Verhalten von KlientInnen ist eventuell dadurch ausgelöst, dass die Einrichtungsregeln vom Klientel als Beschneidung seiner persönlichen Rechte und Freiheiten wahrgenommen werden.

1.4.3 Formen aggressiven Verhaltens

Es gibt sowohl autoaggressives als auch fremdaggressives Verhalten.

Zu den autoaggressiven Verhaltensweisen gehört alles, was zur Verletzung der eigenen Person führt, (wie z. B. sich mit Gegenständen verletzen, sich die Haare ausreißen, sich selbst beißen, schlagen oder kratzen, das Verschlucken von Gegenständen, Nahrungsverweigerung) bis hin zum Suizid (vgl. RECK 2004, o. S.).

Fremdaggressives Verhalten kann sich sachbezogen (Zerstören von Gegenständen, Feuer legen, Randalieren etc.) oder personenbezogen äußern (treten, beißen, kratzen, schlagen, bespucken, bewerfen etc.).

Eine größere Rolle als die körperlichen Attacken spielen in der Sozialen Arbeit die verbalen Angriffe, wie z. B. Beschimpfen, Anschreien, „aufdringliche Forderungen stellen“ (EBD.) sowie „Drohungen und Beschuldigungen oder anderen Formen der Belästigung (z. B. sexuelle Anspielungen, um den/die Gesprächspartner/in in Verlegenheit zu bringen oder seine/ihre Autorität zu untergraben)“ (BREAKWELL 1998, S. 10).

Zu diesen „anderen Formen der Belästigung“ zählen auch nonverbale Ausdrucksformen durch Mimik und Gestik, außerdem gehören dazu auch Verleumdungen u.ä. .

1.5. Prävalenz

Die folgenden statistische Daten verdeutlichen die Relevanz des Themas für die Soziale Arbeit (vgl. EBD., S. 51 f):

In denambulantenDiensten wird jährlich einer von zweihundert Mitarbeitern schwer verletzt, jeder zehnte benötigt erste Hilfe. Jeder sechste wird verbal bedroht und einer von 20 muss damit rechnen, mit Waffen (z. B. einem Messer oder einer zerbrochenen Flasche) bedroht zu werden.

Die offizielle Statistik verzeichnet inSozialdienstenin der Stadt (1:130) häufiger Angriffe als im ländlichen Gebiet (1:434), wobei die Quote im ambulanten Bereich mit 1:372 um einiges höher liegt als im Bereich der klinisch Tätigen mit 1:228. Intensive Studien kamen zu noch höheren Zahlen, was wohl darauf zurückzuführen ist, dass Angriffe oft nicht offiziell gemeldet werden. Nach diesen Studien muss in den Sozialdiensten jedes Jahr einer von 25 Mitarbeitern nach einem Angriff medizinisch versorgt werden, wobei es sich in jedem dritten Fall nicht nur um leichte Verletzungen handelt. Des weiteren ist davon auszugehen, dass binnen zwei Monaten fast jeder Mitarbeiter (96 Prozent) beschimpft oder bedroht wird, wobei auch hier in zwei Dritteln der Fälle Waffen mitgeführt werden. Über 80 Prozent des Personals werden in diesem kurzen Zeitraum Opfer eines Übergriffs (Bewaffnungsquote: 50 Prozent). Laut Polizeidaten wird von der Gesamtbevölkerung Deutschlands jährlich nur einer von 5.300 Männern schwer, einer von 310 leicht verletzt. Daraus folgt: Das Risiko für im sozialen Bereich Tätige ist um das Sechsundzwanzigfache erhöht. Für Frauen ist der Unterschied noch gravierender, da ihr Risiko, schwer verletzt zu werden, sonst bei 1:25.000 liegt.

„Die meisten Arten schwerer Zwischenfälle kommen in ambulanten psychiatrischen Einrichtungen vor“ (BREAKWELL 1998, S. 51), hier wird jeder vierte (!) Mitarbeiter durch Angriffe leicht verletzt. Zum Vergleich: in geriatrischen und stationär-psychiatrischen Kliniken wird immerhin ‚nur’ jeder Fünfte zum Opfer ...

In wie weit Notschlafstellen und Kontaktläden für Wohnungslose und/oder Drogenkonsumenten mit diesen Zahlen vergleichbar sind, ist schwer zu sagen, da es kein Datenmaterial gibt. Allerdings habe ich in den letzten Jahren den Eindruck gewonnen, dass immer mehr Klienten eine psychische Störung aufweisen. Häufig haben sie deshalb bereits stationäre Aufenthalte hinter sich und manche wurden direkt nach ihrer Entlassung aus einer psychiatrischen Klinik in Notschlafstellen vorstellig, da keine Unterkunftsalternativen vorhanden waren.

Doch woher kommen diese Aggressionen?

Modelle zur Entstehung gewalttätigen Verhaltens

GRUNDLEGENDES ÜBER AGGRESSION UND GEWALT

Dieser Teil der Arbeit stellt Theorien zur Entstehung und zum Ablauf von Gewalt vor und endet mit der Ausarbeitung eines eigenen Modells.

2. MODELLE ZUR ENTSTEHUNG GEWALTTÄTIGEN VERHALTENS

Der Schwerpunkt dieses Kapitels liegt auf den klassischen psychologischen und soziologischen Theorien zur Erklärung aggressives Verhaltens.

2.1. Klassische psychologische Theorien

Die folgenden Theorien sind zwar alle nicht auf dem neuesten Stand der Forschung, sie haben aber die (öffentliche) Meinung über das Wesen und die Entstehung von Aggressionen entscheidend geprägt und werden als Grundlage zum Verständnis neuerer Theorien kurz vorgestellt.

Anzumerken ist, dass zwar alle Theorien die Ursachen für ‚Aggression’ erklären wollen, dabei aber einige unter ‚Aggression’ die Entstehung aggressiver Gefühle verstehen, andere das aggressive Verhalten selbst.

2.1.1 Aggression als angeborene Verhaltensdisposition

Die Vertreter dieser verschiedenen Schulen, gehen davon aus, dass es einen eigenständigen Aggressionstrieb gibt, der vererbt wird und sich ohne Anreize von Außen im Organismus bildet.

Instinkttheorien

Aus der Verhaltensforschung kommt der Ansatz, aggressives Verhalten als „eine durch natürliche Selektion entstandene, angeborene Verhaltensdisposition“ (SCHMIDT-MUMMENDEY 1975, S. 9) zu betrachten. Es ist für den Überlebenskampf notwendig und erfolgt spontan.

Modelle zur Entstehung gewalttätigen Verhaltens

Bei Tierbeobachtungen wurde festgestellt, dass die instinktive Aggressivität zu dichtes nebeneinander siedeln von Individuen verhindert - wodurch der Nahrungsbestand gefährdet wäre. Außerdem darf sich bei vielen Tierarten nur das in der Hierarchie am höchsten stehende Männchen fortpflanzen, das sich immer wieder in Rangkämpfen als Stärkster beweisen muss. So dient Aggression also letztendlich dem höchsten Ziel, nämlich der erfolgreichen Arterhaltung und wird hier demzufolge als ein natürliches Bedürfnis - wie schlafen und essen - betrachtet.

Ethologische1Triebtheorien

Allerdings wurde auch beobachtet, dass Tiereohnesichtbaren Auslöser in Kampfstimmung gerieten und offenkundigaktivnach einer auslösenden Reizsituation suchten. Daraus wurde gefolgert, dass es einen „angestauten Kampftrieb“ gibt, den sie abreagieren wollten. (SCHMIDT-MUMMENDEY 1975, S. 10). Aggressives Verhalten ist folglich „biologisch determiniert und unvermeidlich“ (BREAKWELL 1998, S. 23), was bedeutet, dass es zwar eine zeitlang unterdrückt werden kann, aber dann um so heftiger durchbricht.

K. LORENZ entwickelte aus dieser Erkenntnis das „psychohydraulische Instinktmodell“, welches auch alsEnergie-oderhydro-mechanisches Modellbekannt ist:

Abbildung 2: Das psychohydraulische Modell (WERBIK 1974, S. 55)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Modelle zur Entstehung gewalttätigen Verhaltens

LORENZ geht davon aus, dass im Organismus (egal ob von Mensch oder Tier) ständig ein „konstantes Maß an aktionsspezifischer Energie für aggressives Verhalten produziert“ wird (WERBIK 1974, S. 56). Dieses wird veranschaulicht durch das Wasser, welches durch den Hahn (H) ins Reservoir (R) tröpfelt.

Es gibt zwei Möglichkeiten, wodurch diese aufgestaute Energie freigesetzt werden kann: Entweder erfolgt ein Schlüsselreiz, der stark genug ist, eine aggressive Handlung auszulösen, oder es hat sich im Organismus (im Reservoir R) so viel Energie (Wasser) angestaut, dass kein auslösender Reiz mehr nötig ist, um die Aggressionshemmung - hier: das Ventil (V) - zu überwinden. Der Auslösereiz wird in der Grafik symbolisiert durch das Gewicht auf der Waage (W), welches durch Zug an der Feder (F) das Ventil (V) öffnet. Die aggressive Handlung wird dargestellt als ausfließendes Wasser, deren Intensität auf der Skala (S) abgelesen werden kann.

Zu diesem Modell muss kritisch angemerkt werden, dass hier Verhaltens- bzw. psychische Energie dargestellt wird, als wäre sie ‚greifbar’ wie physikalische Energie, diese Exaktheit ist jedoch nur vorgetäuscht (vgl. SCHMIDT-MUMMENDEY 1975, S. 11). Die Übertragung der Ergebnisse auf den Menschen sollte nur mit Vorsicht erfolgen, da sich die erwähnten Theorien v.a. auf Tierversuche stützen.

Psychoanalytische Triebkonzepte

Auch diese Konzepte betrachten meist nur die instrumentelle Funktion des Aggressionstriebes: Durch aggressive Verhaltensweisen soll es ermöglicht werden, andere „Triebe oder Bedürfnisse“ zu befriedigen, die „für die Selbst- und Arterhaltung“ relevant sind. Dieser Trieb ist allerdings gesellschaftlich nicht erwünscht, weshalb er sich laut ADLER meist in modulierter oder modifizierter Form als Sport oder Krieg [...] aber auch nach kultureller Transformation als Altruismus und Hilfsbereitschaft“ zeigt (SCHMIDT- MUMMENDEY 1975, S. 14).

FREUD dagegen maß der Aggression eine viel größere Bedeutung zu. Neben dem von ihm Erosgenannten Streben „nach Selbsterhaltung und Befriedigung der Lebenswünsche und - bedürfnisse“ (EBD., S. 15) führte er nach 1920 einen Gegenspieler ein:Thanatos, den Todestrieb. Seiner Meinung nach streben nämlich alle Organismen danach, „in den Bereich der anorganischen Materie zurückzukehren - vielleicht in eine Art Nirwana“ (EBD., S. 16).

Modelle zur Entstehung gewalttätigen Verhaltens

Diese Selbstzerstörung wird für gewöhnlich vonErosverhindert, weshalb die Aggression nach Außen (auf andere Personen oder auch Objekte) projiziert wird.

Folgerungen aus den Triebtheorien

Aggressives Verhalten ist unvermeidlich. Auch eine Veränderung der Umwelt, um diese frustrationsärmer zu gestalten, hilft nicht, da der Aggressionstrieb im Organismus gebildet wird und sich immer wieder von selbst auflädt.

Die einzige Möglichkeit, Katastrophen der Vernichtung [...] zu vermeiden, besteht in dem Versuch, die aggressiven Kräfte in moralisch annehmbare Formen zu zwingen und auf ungefährliche Weise immer wieder abzuleiten(EBD., S. 16), z. B. durch Sport.

2.1.2 Aggression als Reaktion auf Umweltreize

Die biologische Erklärung für diese Theorie besagt, dass unangenehme (= aversive) Reize zu einer physiologischen Erregung führen, d.h. Blutdruck, Herzfrequenz, Adrenalinspiegel usw. steigen an. Diese erhöhte Erregung ist für das Individuum unangenehm, weshalb es versucht, diese Situation zu beenden oder von vorn herein zu vermeiden.

Eine Möglichkeit, das Erregungsniveau zu senken, ist das „abreagieren“ durch eine aggressive Handlung, v.a. wenn dadurch „die Quelle der unangenehmen Reize ausgelöscht wird“ (BREAKWELL 1998, S. 27).

Diese aversiven Reize lassen sich unterteilen inFrustrationund inandere unangenehmeReizeund werden im Folgenden getrennt betrachtet.

Die Frustrations-Aggressions-Hypothese

Die bekanntesten Vertreter dieser Hypothese sind DOLLARD & MILLER, die unter Aggression „eine Handlung [verstehen], die die Verletzung, Schädigung oder Kränkung (injury) eines Organismus-Ersatzes zum Ziel hat“ (DOLLARD U.A. 1939, S. 11 zit. nach SCHMIDTMUMMENDEY 1975, S. 23). Ihrer Meinung nach setzt „das Auftreten von Aggression […] in jedem Fall eine vorhergegangene Frustration voraus“ (SCHMIDT-MUMMENDEY 1975, S. 23), wobei Frustration dadurch entsteht, dass ein Ziel - die Befriedigung eines Bedürfnisses oder Wunsches - nicht erreicht werden kann.

Modelle zur Entstehung gewalttätigen Verhaltens

Zuerst wurde davon ausgegangen, dass Frustration „immer zu irgendeiner Form von Aggression“ führt (EBD., S. 23) - wenn nicht sichtbar, dann verdeckt.Diese reine ReizReaktions-These wurde jedoch 1941 von MILLER U.A. revidiert:

Aggressives Verhalten wird nun alseine von vielenReaktionsmöglichkeiten betrachtetet, die durch Frustration ausgelöst werden können. Zunächst wird immer das Verhalten gezeigt, für das gerade der größte Anreiz besteht - wobei ein Anreiz auch darin bestehen kann, dass keine negativen Konsequenzen drohen. Führt das Verhalten jedoch nicht zur Senkung des Frustrationslevels, wird es beendet und „die Reaktionen, die in der Hierarchie an der nächsten Stelle stehen, entweder Aggression oder andere Verhaltensformen, [werden] im Verhalten zutage treten.“ (EBD., S. 24)

Dies bedeutet, dass mit zunehmender Dauer der Unzufriedenheit die Auftrittswahrscheinlichkeit für aggressive Verhaltensweisen steigt, da der Vorrat an - hoffentlich vorhandenen - höherrangigen nicht-aggressiven Reaktionsmöglichkeiten erschöpft ist.

An Vorhersagekraft gewann diese These aber erst, als auch eine kognitive Komponente mit berücksichtigt wurde, nämlich die „Bewertung der frustrierenden Situation durch das Individuum“ (EBD., S. 27):

PASTORE (1952) und COHEN (1955) weisen darauf hin, dass „Frustration nur dann Anreiz zuAggression erzeugt, wenn sie vom Frustrierenden absichtlich ausgeführt wurde.Behinderungen, dieaus Versehen auftreten, lösen in der Regel keine aggressivenVerhaltensweisen aus.“ (EBD., S. 27).

Andere unangenehme Gefühle

Außer mehr oder weniger offensichtlichen Frustrationen gibt es noch weitere unangenehme Reize, die Aggressionen auslösen können, wie z. B. körperlicher Schmerz, Lärm, Hitze oder Stress. Auch Menschenmassen können ein Ursache für aversive Gefühle darstellen, was möglicherweise darauf zurückzuführen ist, dass hier subjektiv ein Kontrollverlust erlebt wird. Diese unangenehmen Gefühlemüssennicht zu Aggressionen führen; bewiesen ist aber, dass die Gefahr einer aggressiven Reaktion steigt, wenn „die betroffene Person in der Vergangenheit aggressiv reagierte (vor allem, wenn sich diese Reaktion als lohnend herausstellte), wenn sie das Gefühl hat, dass Aggression die schmerzlichen Erfahrungen auslöschen kann, oder wenn Anzeichen für Aggression in der Situation vorherrschen.“ (BREAKWELL 1998, S. 28)

Modelle zur Entstehung gewalttätigen Verhaltens

2.1.3 Aggressives Verhalten als Folge von Lernprozessen

Bisher wurden aggressive Verhaltensweisen einseitig entweder als Reaktion auf Umweltreize oder als Aktion, die angeborenen Trieben entspringt, betrachtet. Der neue Aspekt der Lerntheorien ist, dass sie dieInteraktionzwischen Individuum und Umwelt berücksichtigen. Sie betrachten aggressive Verhaltensweisen als „Verhaltensweisen wie alle anderen auch und daher lernbar“ (BREAKWELL 1998, S. 24) und somit auchverlernbar.

Hier die wichtigsten Lernmodelle kurz erläutert:

Klassisches Konditionieren

Klassisches Konditionieren heißt der Vorgang, in dem ein bisher neutraler Reiz mit einer emotionalen Reaktion - die reflexartig auf einen anderen Reiz hin erfolgt - verknüpft und somit zum konditionierten Auslöser für diese Reaktion wird.

Interessant ist diese Theorie vor allem deshalb, weil sie zeigt, dass der Überbringer schlechter Nachrichten und Sanktionen leicht mit negativen Gefühlen besetzt wird.

Lernen am Erfolg

Führt ein (spontanes) Verhalten zum Erfolg, wird dieses dadurch bekräftigt und somit häufiger angewendet. Unter Erfolg werden sowohl ‚positive Verstärker’ als auch die Beseitigung ‚negativer Verstärker’ verstanden. Eine positive Konsequenz ist z. B. das Erreichen des Zieles oder das Erlangen von Aufmerksamkeit bzw. Ansehen. Als Beseitigung einer negativen Konsequenz gilt, wenn z. B. eine Bestrafung unterlassen wird oder ganz allgemein: wenn sich eine als negativ empfundene Situation zum Angenehmeren hin entwickelt (vgl. SELG 1988, S. 38 ff). Erfolg kann also auch bedeuten, dass durch eine Aktion Monotonie und Langeweile unterbrochen werden.

Wird aggressives Verhalten nicht konsequent, also bei jedem Auftreten bestraft, kommt es durch diese „besonders wirksame ‚intermittierende2Bekräftigung’“ (EBD., S. 38) dazu, dass das Verhalten besonders hartnäckig gelernt wird. Problematisch ist, dass auf diese Art gelerntes nur durchkonsequenteMisserfolge bzw. konsequente Bestrafung oder „durch einen besonders großen Misserfolg“ mitSchockwirkung(vgl. EBD.) wieder gelöscht wird.

Modelle zur Entstehung gewalttätigen Verhaltens

Auch besteht die Gefahr einer „Generalisation von einer aggressiven Verhaltensklasse auf eine andere“ (EBD., S. 40), was bedeutet, dass das Dulden von verbaler Gewalt dem Ausbruch von körperlicher Gewalt Vorschub leisten kann.

Durch diese beiden Ansätze lässt sich erklären, warum manche Menschen Spaß an der Gewalt haben und sich am Leiden ihrer Opfer ergötzen:

Die positiven Gefühle, die normalerweise mit der Zielerreichung einher gehen, setzen bei gut gelerntem - d.h. häufig angewendetem - Verhalten schon dann ein, wenn das Ziel in unmittelbarer Nähe scheint. Diese positiven Gefühle werden wieder verknüpft mit den Reizen, die gerade wahrgenommen werden: also der aggressiven Handlung und „der Wahrnehmung der Leiden des Opfers“ (EBD., S. 40 f).

Lernen am Modell

Das Lernen durch Imitation des Verhaltens anderer Menschen ist die wichtigste Art, sich etwas anzueignen. Es läuft in zwei Phasen ab:

Zuerst wird das Verhalten einer Person mit den daraus entstehenden Konsequenzen beobachtet. Im zweiten Schritt wird diese Handlung in einer ähnlichen Situation ausprobiert. Das Ergebnis bestimmt die weitere Auftretenswahrscheinlichkeit. Allerdings kann schon allein das gelungene Nachspielen der Handlungsweise eine Selbstverstärkung auslösen (vgl. WELLHÖFER 1990, S. 198 f).

Auf diese Weise erweitern vor allem Kinder ihr Repertoire an aggressiven Verhaltensweisen, während Erwachsene von einem Modell eher lernen,wannaggressive Verhaltensweisen akzeptabel sind. Zwar haben Erwachsene für gewöhnlich eine eigene Ansicht davon, wann Gewalt angemessen ist oder sogar von der Gesellschaft erwartet wird, aber diese Meinung „kann sich ändern, wenn sie Menschen in einer vergleichbaren Situation beobachten“ (BREAKWELL 1998, S. 25).

So kann es passieren, dass das aggressive Verhaltensvorbild einereinzigenPerson eine eben noch friedliche Ansammlung von Menschen in eine aufbegehrende Masse verwandelt.

Folgerungen aus den Lerntheorien

„Wie, wann und gegen wen wir aggressiv sein müssen oder dürfen“ wird erlernt, und zwarindirektdurch „zusehen, wie andere für ihre aggressiven Handlungen belohnt oder bestraft werden.“ (EBD., S. 35)

Modelle zur Entstehung gewalttätigen Verhaltens

2.2. Klassische soziologische Theorien abweichenden Verhaltens

Klassische soziologische Theorien sehen die Ursachen für abweichendes Verhalten nicht im Menschen, sondern in den gesellschaftlichen Verhältnissen begründet. Da abweichendes Verhalten viele Erscheinungsformen annehmen kann - u.a. auch Gewalt - werden in diesem Kapitel einige Theorien daraufhin überprüft, ob vom soziologischen Blickwinkel eventuell andere interessante Ansätze abgeleitet werden können.

2.2.1 Die Anomietheorie

Es gibt nicht nur eine Anomietheorie, 3sondern verschiedene Modifikationen, die sich jedoch alle auf DURKHEIM und MERTON beziehen. Allen gemeinsam ist, dass abweichendes Verhalten als eine „individuelle Reaktion“ auf „Diskrepanzen zwischen dem Anspruchsniveau der Gesellschaftsmitglieder“ - also den „kulturell vorgegebenen Zielen“ - und den „institutionalisierten(legitimen) Mitteln zur Zielerreichung“ betrachtet wird (LAMNEK 1994, S. 19 f). Abweichendes Verhalten tritt demnach vor allem dann auf, wenn kein akzeptabler Weg besteht, ein allgemein akzeptiertes Ziel zu erreichen.

Während DURKHEIM (1893) abweichendes Verhalten auf soziale Desintegrationsprozesse zurück führt, die zu einer mangelhaften Internalisierung der gängigen Normen führen, unterscheidet MERTON (1938) auch danach, ob die allgemeinen Wertvorstellungen geteilt werden. So gibt es einen Unterschied zwischen dem Einsatz illegitimer Mittel aus Mangel an legalen Möglichkeiten zur Erreichung eines gesellschaftlich anerkanntes Zieles (z. B. Status) und der kompletten Ablehnung der kulturellen MittelundZiele (z. B. Leben auf der Straße aus Ablehnung der kulturellen Normalität eines festen Wohnsitzes), die eventuell sogar ganz durch andere Wertvorstellungen ersetzt worden sind.

Angewendet auf das Thema Gewalt lässt sich folgern: Es gibt zwei Typen von Gewalttätern. Der eine betrachtet Gewaltfreiheit nicht als anzustrebendes Ziel und hat deshalb auch keine Skrupel, gewalttätig zu werden. Der andere lehnt Gewalt eigentlich ab, aber wenn ihm keine andere erfolgversprechende Handlungsalternative zur Verfügung steht, kann es dazu kommen, dass er doch Gewalt einsetzt.

Modelle zur Entstehung gewalttätigen Verhaltens

2.2.2 Subkulturtheorien

Die Theorien, die unter dieser Bezeichnung zusammengefasst werden, postulieren das Vorhandensein von gesellschaftlichen Untergruppen mit eigenen abweichenden Werten und Normen.

Solche Untergruppierungen sind Zusammenschlüsse von Personen in ähnlicher Lage (z. B. ‚die Unterschicht’), denen durch die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe ermöglicht wird, Status zu gewinnen - der ihnen in der dominanten Kultur versagt bleibt.

Da sich die meisten Subkulturtheorien auf Untersuchungen von nordamerikanischen Jugendgangs der 1920er und 30er Jahre stützen und z. B. die daran erforschte „Subkultur der Drogensüchtigen“ kaum mit der Situation hier und heute vergleichbar ist, werden nur einige ausgewählte Ansätze dargestellt:

Die Social Disability - These

Diese von SHORT und STRODTBECK 1965 aufgestellte These besagt, dass manche Personen aufgrund von Sozialisationsdefiziten nur über ein eingeschränktes Verhaltensrepertoire verfügen (social disability), was dazu führt, dass mit der Variabilität von Situationen und Rollenerwartungen nicht flexibel umgegangen werden kann. Diese Unfähigkeit führt zu einer sozialen Unsicherheit, der durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe begegnet werden kann: Im Rahmen der Gruppe sind die Rollenerwartungen klarer, was eine Reduktion der Ängste ermöglicht. Allerdings kann die Unfähigkeit zu (außergruppalen) Interaktionen sich noch weiter verstärken, wenn subkulturelle Verhaltensweisen zur Interaktion mit Außenstehenden verwendet werden, die gegen kulturelle Normen verstoßen (vgl. LAMNEK 1979, S. 178 - 181). Dies kann im Hinblick auf Gewalt als eine Bestätigung für die Annahme verwendet werden, dass es Gewalttätern an Handlungskompetenz mangelt: Sie verfügen entweder über keine anderen Problemlösestrategien, wissen nicht um die Unangebrachtheit von Gewalt in dieser Situation oder fühlen sich schlicht und ergreifend nur in der Anwendung von Gewalt kompetent.

Die ‚Subkultur der Gewalt’

Diese Theorie stellt nicht den Anspruch, alle Gewaltphänomene zu erklären, sondern bezieht sich nur auf einen ganz speziellen Teil: Laut WOLFGANG und FERRACUTI (1967) gibt es Subkulturen, in denen das geltende Werte- und Normensystem in bestimmten Situationen verlangt, dass (körperliche) Gewalt eingesetzt wird, Gewaltlosigkeit würde als Schwäche des

Modelle zur Entstehung gewalttätigen Verhaltens

Agierenden ausgelegt. Da die Anwendung von Gewalt in diesen Fällen nicht unerlaubt ist, sondern „Teil des Lebensstils, als Problemlösungsmöglichkeit, die legitimiert ist“ (EBD., S. 184), entstehen auch keine Schuldgefühle.

Als Subkulturidentität verwenden WOLFGANG und FERRACUTI die Schichtzugehörigkeit:

Demnach stützt das Wertesystem der Unterschicht den Einsatz von Gewalt, das der Mittelschicht lehnt ihn ab. Demzufolge ist die Anstrengung, den Gewaltgebrauch zu rationalisieren und zu rechtfertigen, für Angehörige der Mittelschicht viel größer, weshalb auch die Hemmung viel größer ist. Das wird auf den - in dieser Schicht besonders großen - „Wunsch nach Konformität“ (EBD., S. 183) zurückgeführt. In der Unterschicht dagegen sei die Gewalthemmung nur durch Angst vor Strafe zu erklären.

Folgerungen aus den Subkulturtheorien

Es gibt Menschen, die aufgrund ihres eingeschränkten Verhaltensrepertoires keine gewaltfreie Alternative kennen und andere, deren Werte- und Normensystem in manchen Fällen Gewalt direkt vorschreibt, da sonst Gesichtsverlust droht.

2.2.3 Theorien des differentiellen Lernens

Die unter diesem Begriff zusammengefassten Theorien bauen unter anderem auf den psychologischen Lerntheorien (vgl. 2.1.3) auf, da sie davon ausgehen, dass alle Verhaltensweisen im Rahmen von Interaktions- und Kommunikationsprozessen gelernt sind. Differentiell bedeutet in diesem Zusammenhang, dass sowohl Zugang zu werte- und normkonformen als auch abweichenden Verhaltensmustern besteht. Auf Gewalt bezogen: Das Erlernen von aggressiven und nicht-aggressiven Verhaltensweisen setzt die Möglichkeit voraus, sich an Personen zu orientieren, die diese Handlungsmuster zeigen.

Welche Verhaltensweisen letztendlich übernommen werden, ist abhängig vom Prozess der Identitätsentwicklung, die wiederum von der Lebensgeschichte abhängig ist. Diese ist lt. SUTHERLAND (1939) gekennzeichnet durchPersönlichkeitsmerkmale(wie z. B. Intro- und Extravertiertheit), soziale Verhältnisse(wie z. B. Wohngegend, soziale Schicht) und Lernprozessezur Beherrschung eines entsprechenden Verhaltenrepertoires (vgl. LAMNEK 1979, S. 189).

Gewalttätiges Verhalten tritt demnach dann auf, wenn sich jemand - zumindest etwas - mit gewalttätigen Verhaltensmusternidentifizierenkann, dieGelegenheit günstigscheint (weil z.

Modelle zur Entstehung gewalttätigen Verhaltens

B. keine Sanktionsinstanz in der Nähe oder das Opfer unvorbereitet ist) und Gewalt unter Zuhilfenahme einer sogenannten ‚Neutralisierungstechnik’rationalisiert(gerechtfertigt bzw. entschuldigt) werden kann (vgl. EBD., S. 186 ff).

2.2.4 Die Theorie der Neutralisierungstechniken

Dieser Ansatz wurde 1957 von SYKES und MATZA aus dem Subkulturansatz entwickelt, aber wegen der Betonung der Lernkomponente wird sie meist unter den Theorien differentiellen Lernens aufgeführt. Aufgrund ihrer Bedeutung wird die Neutralisierungsthese hier als eigenständiger Punkt behandelt.

Abgeleitet wurde diese These aus der Beobachtung jugendlicher Gesetzesbrecher, die häufig ein „Gefühl von Schuld und Scham“ und Respekt vor gesetzestreuen Personen zeigten, was darauf schließen ließ, dass die Täter „die Konformitätsanforderungen der herrschenden sozialen Ordnung“ durchaus anerkannten und abweichendes (ihrer Subkultur entsprechendes) Verhalten nicht wirklich durchgehend positiv bewerteten (EBD., S. 212). Um in dieser paradoxen Situation (Missachtung aber gleichzeitige Anerkennung der offiziellen Normen) die kognitiven Dissonanzen gering zu halten und den Abweichler vor Selbstvorwürfen (und Vorwürfen seiner Subkultur) zu bewahren, scheint es Rechtfertigungsgründe zu geben, die aber offensichtlich nicht vom Rechtssystem gedeckt werden.

SYKES und MATZA unterscheiden fünf verschiedene Neutralisierungstechniken, die sicher nicht nur von Jugendlichen angewendet werden: (EBD., S. 213 f)

- Ablehnung der Verantwortung
Der Täter sieht sich nicht als Verursacher, sondern als „Spielball unbeeinflussbarer äußerer Kräfte“ (EBD.), der ja gar nicht anders könne, sondern ein Opfer der Umstände sei. Dies zeigt sich z. B. in der Aussage ‚Was hätte ich denn sonst machen sollen?’.
-Verneinung des Unrechts

Das eigene Verhalten wird zwar als nicht ganz legal betrachtet, aber damit entschuldigt, dass ja kein (großer) Schaden entstanden wäre. Körperliche Übergriffe werden z. B. damit bagatellisiert, dass ja ‚nur mit der flachen Hand’ und nicht mit der Faust zugeschlagen wurde. Beschönigend heißt es dann, das Opfer wäre nur ‚ein

Modelle zur Entstehung gewalttätigen Verhaltens bisschen geschubst’ worden. Auch andere verniedlichende Bezeichnungen werden häufig verwendet, wie z. B. ‚a Watsch’n geben’ oder ‚eine einschenken’.

-Ablehnung des Opfers

Hier wird das Opfer als eigentlicher Übeltäter hingestellt, das eigene Fehlverhalten mit Rache oder gar der Wiederherstellung von Gerechtigkeit erklärt.

Gängige Rechtfertigungsversuche sind: ‚der hat mich provoziert’ und ‚der hat es gar nicht anders verdient, weil…’

-Verdammung der Verdammenden

Hier wird versucht, die Aufmerksamkeit umzulenken, in dem die Berechtigung der negativ sanktionierenden Instanz (z. B. Öffentlichkeit, Polizei) angezweifelt wird. In sozialen Einrichtungen teilen Klienten dem sie sanktionierenden Mitarbeiter in diesem Fall gerne mit, dass er ‚einem überhaupt nichts zu sagen’ und ‚sowieso keine Ahnung’ hat, oft noch empfindlich bekräftigt durch die Aussage, dass sich die anderen Mitarbeiter - angeblich - ‚nicht so anstellen’ würden. Dem betroffenen Kollegen wird dadurch in mehr oder weniger starkem Maße Unfähigkeit vorgeworfen, was gerade bei neuen und/oder unerfahrenen Mitarbeitern einem emotionalen Tiefschlag entspricht.

-Berufung auf höhere Instanzen

Hier wird die Tat nicht generell gutgeheißen, aber eine ‚höhere Instanz’ (z. B. Freundschaft) in die Waagschale geworfen, denn bekanntlich ‚heiligt ja der Zweck die Mittel’. Da hier (angeblich) nicht die eigene Interessen im Vordergrund stehen, sondern im Sinne anderer gehandelt wird, wird gelegentlich sogar ein honorieren dieser ‚Uneigennützigkeit’ erwartet.

Rationalisierungen, die begangenes Unrecht (v.a. nachträglich) rechtfertigen, werden für den Täter um so existenzieller, je stärker er die Normen verinnerlicht hat, gegen die er verstoßen hat. Dies lässt sich besonders gut anhand der folgenden Grafik darstellen, welche die Relation zwischen Norminternalisierung und Neutralisierungsakzeptanz zeigt:

Modelle zur Entstehung gewalttätigen Verhaltens

Abbildung 3: Verhältnis von Verinnerlichungsgrad von Normen und Akzeptierungsgrad von Rationalisierungen (OPP 1974, S. 105 entnommen aus LAMNEK 1979, S. 215)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abweichendes Verhalten tritt demnach nur dann auf, wenn der Grad der Akzeptanz von Rationalisierungen mindestens gleich hoch oder höher ist als der Grad der Internalisierung einer (konformen) Norm.

Dies bedeutet auf Gewalt bezogen: Je stärker jemand die Norm ‚Gewalt ist verboten’ verinnerlicht hat, desto stärker wird er sich auf einen sein Handeln entschuldigenden Grund berufen - und an diese Neutralisierungsmethode auch selbst glauben.

2.2.5 Die Etikettierungstheorie (labeling approach)

Dieser Ansatz unterscheidet sich von den anderen dadurch, dass der Fokus nicht auf den Ursachen für abweichendes Verhalten liegt, sondern die Auswirkungen von Normsetzungen und Zuschreibungsprozessen untersucht werden.

Auf ein primäres abweichendes Verhalten (z. B. Gewalt) folgen gesellschaftliche Zuschreibungsprozesse. Dadurch wird der - nun als ‚Abweichler’ (bzw. Gewalttäter) etikettierte - Täter in seinem Handlungsspielraum eingeengt, die konformen Verhaltensmöglichkeiten sind nun eingeschränkt. Dadurch werden non-konforme Handlungen (bzw. weiteres gewalttätiges Verhalten) wahrscheinlicher. Dies wird als sekundäresabweichendes Verhalten bezeichnet, da es durch gesellschaftliche Reaktionen verursacht ist. Somit wird das Label ‚abweichend’ gestützt, weitere Abweichungen sind vorprogrammiert. Im Extremfall übernimmt der so Stigmatisierte diese Rollenzuschreibung in seine Selbstdefinition, das sekundäre abweichende Verhalten verfestigt sich.

Modelle zur Entstehung gewalttätigen Verhaltens

Angewendet auf Gewalt bedeutet dies: Wird nicht nur das Verhalten als gewalttätig etikettiert, sondern die ganze Person als Gewalttäter, kann dies einen negativen Aufschaukelungsprozess in Gang setzen, da durch die Stigmatisierung Handlungsalternativen genommen werden.

2.2.6 Die Selbstkontrolltheorie

Nach HIRSCHI und GOTTFREDSON (1990) ist menschliches Verhalten immer das Resultat von Abwägungsprozessen zwischen Bedürfnisbefriedigung und der Vermeidung von Unannehmlichkeiten. Selbstkontrollfähigkeit meint hier die Aufschiebung oder den Verzicht auf einen unmittelbaren Lustgewinn, wenn negative Konsequenzen damit verknüpft sind. Delinquente Personen zeichnen sich demnach durch eine Arthier-und-jetzt- Mentalität aus: sie bewerten potentielle kurzfristig erreichbare Effekte hoch während sie die (erst später folgenden) Konsequenzen ihres Handelns bagatellisieren (vgl. LAMNEK 1994., S. 137 ff).

Abbildung 4: Die Lokalisation der Selbstkontrolle in einem zweidimensionalen Raum (LAMNEK 1994, S. 148)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die obige Grafik verdeutlicht, dass Personen mit geringer Selbstkontrollfähigkeit eher risikobereit sind und eine sofortige Bedürfnisbefriedigung wollen. Ihr Handeln kann als ‚kurzsichtig’ bezeichnet werden, sie pflegen meist einen risikoreichen Lebensstil und sind impulsiv, wenig sensibel und neigen zu „eher physischen als geistigen Qualitäten“(EBD., S. 146). Sie verfügen auch nicht über ein gutes sprachliches Ausdrucksvermögen geschweige denn Einfühlungsvermögen in ihre Opfer, sondern sind sehr auf sich selbst bezogen (vgl. EBD., S. 146). Menschen mit hoher Selbstkontrolle dagegen sind vorsichtiger in ihren Entscheidungen und Handlungen, sie können auf ihre Ziele langfristig hinarbeiten und kontrollieren ihr Verhalten individuell, also auch dann, wenn gerade keine Kontrolle von außen vorliegt.

[...]


1Ethologie: Verhaltensforschung

2intermittierend: kurz unterbrochen; mit Unterbrechungen

3Anomie: Regel-, Normlosigkeit

Fin de l'extrait de 110 pages

Résumé des informations

Titre
Konzepte und Strategien zur Deeskalation von Gewaltbereitschaft und Aggressionen in niederigschwelligen Einrichtungen der Drogen- und Wohnungslosenhilfe
Université
University of Applied Sciences Nuremberg
Note
1,7
Auteur
Année
2005
Pages
110
N° de catalogue
V68763
ISBN (ebook)
9783638600606
ISBN (Livre)
9783656914501
Taille d'un fichier
1767 KB
Langue
allemand
Mots clés
Konzepte, Strategien, Deeskalation, Gewaltbereitschaft, Aggressionen, Einrichtungen, Drogen-, Wohnungslosenhilfe
Citation du texte
Sandra Beckh (Auteur), 2005, Konzepte und Strategien zur Deeskalation von Gewaltbereitschaft und Aggressionen in niederigschwelligen Einrichtungen der Drogen- und Wohnungslosenhilfe, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/68763

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