Spiralförmiger Weg neuer Bildfindungen: Franz Schrekers "Die Gezeichneten" auf der Bühne


Redacción Científica, 2005

19 Páginas


Extracto


Inhaltsverzeichnis

Vorwort: Salzburg und die „Gezeichneten“

1. Die Salzburger „Gezeichneten“ als konzertantes Seelengemälde (16.8.1984)

2. Frankenstein im menschenleeren Frankfurt oder „Die Gezeichneten“ als szenische Provokation (20. 1. 1979)

3. Der Juden-Krüppel und der schwule SS-Mann oder „Die Gezeichneten“ als politisches Zeitbild in Düsseldorf (18. 12. 1987)

4. Die 1:1-Umsetzung der szenischen Vorschriften erweist sich als nicht mehr ausreichend: Die Schweizer Erstaufführung der „Gezeichneten“ an der Züricher Oper (20. 12. 1992)

5. Auf den Pfaden der ersten Wiederaufführung, schlüssig weiterentwickelt: „Die Gezeichneten“ in Stuttgart (22. 1. 2002)

Schrekers am 25. April 1918 in Frankfurt uraufgeführte Oper "Die Gezeichneten" ist die Geschichte vom hässlichen Alviano, der sein Aussehen durch ein künstliches Paradies kompensiert, in welches seine adligen Freunde junge Mädchen entführen und dort bei Orgien ermorden. Die Malerin Carlotta, als Herzkranke ebenfalls "gezeichnet", verliebt sich in den Gezeichneten, doch ihre Liebe versiegt, sobald sie Alviano gemalt hat. Dann erliegt sie dem starken und schönen Tamare, durch den sie auch zu Tode kommt. Alviano kann durch die Schenkung seiner Insel Elysium an die genuesische Bevölkerung weder den Frevel der adligen Freunde noch seine eigene Verurteilung verhindern; er tötet den Nebenbuhler Tamare und wird verrückt.

Vorwort: Salzburg und die „Gezeichneten“

Salzburg und die „Gezeichneten“ das ist ein neues Thema – zumindest was die Bühnenpräsentation angeht.

Dabei standen die Zeichen nicht schlecht, dass der Salzburger Festspielinitiator und bedeutendste Regisseur des 20 Jahrhunderts, Max Reinhardt, und der in seinen Opernhandlungen exzentrischste Opernkomponist des frühen 20. Jahrhunderts, Franz Schreker, künstlerisch hätten zusammenfinden können.

Immerhin gab es in Max Reinhardts Berliner Kammerspielen eine Schreker-Aufführung: die Schwestern Else und Bertha Wiesenthal tanzten am 4. November 1910 neben „Offenbachtänzen“ und Josef Strauß’ “Dorfschwalben“ eine Komposition von Franz Schreker, die auf dem Programmzettel als „Weißer Walzer“ angekündigt war, vermutlich also Schrekers „Valse lente“, den die Tanzschwestern, weiß gewandet, exerzierten.

Für die österreichische Erstaufführung des „Mirakel“ in der Wiener Rotunde am 17. September 1912 hatte sich Reinhardt ausdrücklich die Mitwirkung Franz Schrekers gewünscht. In einem Schreiben an Berthold Held vom 21. August 1912 listet Reinhardt seine Anforderungen für die Musik auf, die ein 200-köpfiges Orchester plus „dreißig große Pauken und Trommeln“ umfassen:

„Für den Chor ist Schreker sehr erwünscht !

(...) Der Chor muss sehr groß und erstklassig sein, rechtzeitig studieren!!!

(...) Ein Kinderchor und Knabenchor ebenfalls rechtzeitig zu beschaffen und einzustudieren.“[1]

Aber leider kam es nicht zu der avisierten Zusammenarbeit.

Immerhin erfolgte eine zweite Annäherung und höchstwahrscheinlich auch eine Begegnung von Max Reinhardt mit Franz Schreker, als der Meisterregisseur seine und Erich Wolfgang Korngolds Neufassung der „Fledermaus“ auf die Bühne brachte. Schrekers Gattin, die insbesondere in Franz Schrekers Opern gefeierte Sopranistin Maria Schreker, sang und spielte am 24. Oktober 1929 in der Regie Max Reinhardts die Rosalinde in der Premiere der Strauß-Operette im Berliner Theater am Nollendorfplatz.[2]

Gleichwohl schaffte es keine Oper Franz Schrekers auf die Salzburger Festspielbühne, weder unter der Ägide Max Reinhardts, noch unter der seiner Nachfolger unterschiedlicher politischer Couleurs. Eine Ausnahme bildeten „Die Gezeichneten“ im Sommer 1984 – durchaus hochkarätig besetzt, aber nur konzertant und obendrein arg gekürzt.

1. Die Salzburger „Gezeichneten“ als konzertantes Seelengemälde (16.8.1984)

Wenn man bedenkt, dass Schrekers Opern Anfang der Zwanzigerjahre populärer waren als die von Richard Strauss, so hat der 1878 in Monaco geborene öster­reichische Komponist sich reichlich spät einen Platz im Programm der Salzburger Festspiele erobert. Aber im ersten Drittel unseres Jahrhunderts galten Schrekers Opernhandlungen als unmoralisch, seine Mu­sik als schwül, und so blieben sie manchen großen Bühnen verschlossen, bis vom Nazi-Regime ein genereller Schlussstrich unter die Aufführungsgeschichte der Opern Schrekers gezogen wurde.

Auf die farbenreiche Handlung und die kontrastierenden Schauplätze von Schrekers vierter, 1918 im Frankfurter Opernhaus ur­aufgeführter Oper, musste das Salzburger Festspielpublikum des Jahres 1984 verzichten. Die Konzentration bei der nur konzer­tanten Wiedergabe des singulären Ge­samtkunstwerkes aus Schrekers Phantasie lag notgedrungen ganz bei der Musik. Schrekers morbider Reiz, das polytonal schillernde Orchester, das Ineinanderfließen von Farbe und Harmonie, die sanglichen Themen mit ihren eruptiven, orgiastischen Ausbrüchen, sie faszinierten und fesselten das Salzburger Festspielpublikum in einer Weise, die den von der Festspielleitung als "Orchesterkonzert“ angekündigten Abend doch zu einem Opernereignis besonderer Qualität steigerte.

Schrekers Partituren lassen ihren Interpreten einen ungewöhnlich breiten Spielraum, wie es etwa im Vergleich der Schallplatteneinspielungen des "Gezeichneten"-Vorspiels unter Kurt Herbert Adler[3] – als spätromantische Ouvertüre – und unter Michael Gielen[4] – als bitonaler Aufbruch in die Atonalität – hörbar wird. Hier entsteht geradezu der Höreindruck, als handele es sich um zwei verschiedene Partituren.

Gerd Albrecht, Dirigent der Salzburger Erstaufführung, setzte auf die symphonische Deu­tung, arbeitete Themenentwicklungen und Verflechtungen heraus.[5] Offenbar war es sein Anliegen, ein akustisches Seelen­gemälde der beiden Gezeichneten, Alvianos und Carlottas, zu entwerfen. Anders als Michael Gielen bei der Frankfurter Aufführung betonte Gerd Al­brecht Schrekers Wurzeln in der romantischen Musik. Der Dirigent ließ sich viel Zeit für die Entwicklung der Themen und lauschte den Klängen nach. Auf diese Weise dauerte Albrechts Interpretation der stark gekürzten Partitur beinahe eben so lange wie die ungestrichene Aufführung unter Gielens Leitung. Albrechts Kürzungen erwiesen sich dabei als nicht sehr geschickt: häufig wurden sie als Einschnitte in der an­sonsten unendlichen Melodie des Komponisten hörbar und waren darüber hinaus dramaturgisch nicht vertretbar; so entfiel etwa die für den Handlungsverlauf wichtige und obendrein musikalisch besonders eindrucksstarke Szene, in der Tamare dem Herzog Adorno das Geheimnis der Insel verrät. Albrechts Streichung der Episoden, auch der das Skandalon dieser Oper ausmachenden Nebenfiguren, geschah zugunsten einer Fokussierung auf die Haupthandlung. Doch diese Praxis stand in scharfem Gegensatz zu Schrekers Dramaturgie mit ihren, spezifischen, die Filmtechnik antizipierenden Sprüngen.

Festspielgerecht war die Besetzung mit Theo Adam als Herzog Adorno, Hermann Becht als Tamare und Peter Meven als Podestà der Stadt Genua. Janis Martin nahm ihre Stimme zurück, um der Rolle der zarten, herzkranken Carlotta gerecht zu werden, und Kenneth Riegel war nicht nur stimmlich ein optima­ler Alviano; er verkörperte auch das Wesen des hässlichen Menschen, wobei er merklich auf seine Rollenarbeit und Darstellung des Zwergs in Alexan­der Zemlinskys gleichnamiger Oper in Ham­burg zurückgreifen konnte: keine zufällige Verwandtschaft, denn Zemlinsky hatte Schreker bekanntlich um ein Libretto für eine Musiktragödie des hässlichen Mannes gebeten, eben um die "Gezeichneten", die Schreker schließlich – dem Auftraggeber untreu – selbst komponierte.

Der durch keine Haltung zur Szene aufgespaltete, ungeteilte Jubel des Publikums galt auch dem ORF-Symphonieorchester und dem in seiner Prägnanz vorzüglichen Arnold-Schönberg-Chor.

Auch jene Teile des Salzburger Schreker-Publikums, die sich mit der Frankfurter Deutung der „Gezeichneten“ nicht einverstanden gezeigt hatten, waren sich darin einig, dass nicht das Gedenkjahr des 150. Geburtstages, sondern der Erfolg der Frankfurter Aufführung die Leitung der Salzburger Festspiele bewogen hatte, „Die Gezeichneten“ in ihr Programm aufzunehmen.

Diese Meinung teilte auch die Tochter des Komponisten, Haidy Schreker-Bures, die zwar Gerd Albrechts musikalische Deutung bevorzugte, mir aber bestätigte, sie wisse, dass sie die Salzburger Aufführung Gielen und Neuenfels zu verdanken habe.

„Der Erfolg von Schrekers ‚Gezeichneten’“ – so schrieb ich am 17. August 1984 in meiner Rezension für die Mainzer Allgemeine Zeitung – „sollte die Salzburger Festspiele motivie­ren, auch eine Schreker-Oper ins szenische Repertoire aufzunehmen“.

Die Erfüllung dieses Wunsches brauchte so lange, wie die biologische Reife vom Augenblick der Geburt eines Menschen bis zu seiner vollen Entfaltung, 21 Jahre.

2. Frankenstein im menschenleeren Frankfurt oder „Die Gezeichneten“ als szenische Provokation (20. 1. 1979)

Tatsächlich war die durch zwei musiklogische Symposien vorbereitete und wissenschaftlich untermauerte Schreker-Renaissance erst spruchreif geworden durch eine Bühnenaufführung, die das Skandalon Schreker ins Licht rückte und die mit ihrer szenischen Aktualisierung das Publikum im Brechtschen Sinn spaltete. Nach jener langen Epoche des Vergessens, seit Schreker als „entartete Kunst“[6] abgestempelt worden war, verhalfen der Dirigent Michael Gielen und der Regisseur Hans Neuenfels an der Frankfurter Oper am 1979 zu einem triumphalen Comeback.

Keineswegs lange geplant, sondern vom Frankfurter Operndramaturgen Klaus Zehelein als Lückenbüßer für die in der Spielzeit 1978/79 angekündigte, sich aber als nicht realisierbar erweisende Aufführung von Haubenstock-Ramatis „Amerika“ kurzfristig in den Spielplan gerückt, übernahm Hans Neuenfels als relativer Opernneuling[7] die Regie und brachte den in seinen beiden vorausgegangenen Opernproduktionen bewährten Ausstatter Dirk von Bodisco, sowie mich, als seinen Regiemitarbeiter seiner beiden vorangegangenen Opernproduktionen, mit.

In dieser Produktion wurde Schrekers selbst erfundene Geschichte vom hässlichen Alviano Salvago im Genua des 16. Jahrhunderts zu einem leicht futu­ristischen Trivialmythos vom Monster Alvi­ano und der schönen Malerin Carlotta trans­formiert. In der eindringlich bebilderten Sex-and-Crime-Handlung hat Alviano auf einer Insel ein künstli­ches Paradies erschaffen lassen, in dem seine Freunde exzessive Orgien mit jungen Frauen feiern, die im Rausch der Lust getötet werden. Alviano verliebt sich in die herzkranke Malerin Carlotta, die einzige Tochter des Bürgermeisters, deren Zuneigung aber nur so lange anhält, bis sie das Glücksgefühl des Krüppels im Bild festgehalten hat. Dann verfällt Carlotta dem schönen, skrupello­sen Tamare, während das Volk orgiastisch die Freuden des für die Öffentlichkeit freigegebenen Eilands Elysium genießt. In einer Grotte, dem Zentrum der Insel, kommt es zur Katastrophe: Tamare erklärt dem Alviano Carlottas bedingungslose Hingabe an die Lust und damit auch den Tod, den sie wissentlich einkalkuliert, gesucht hat. Alviano ermordet Tamare und wird wahnsinnig.

Basierend auf einer Plakatwerbung für die Uraufführung des Stummfilms „Das Cabinet des Dr. Caligari“ im Jahre 1920, „Du musst Caligari werden!“, war auf der Bühne des Frankfurter Opernhauses die Forderung zu lesen: „Werde Alviano“. In übermannsgroßen, bespielbaren Buchstaben stand diese Botschaft auf der Kunst- und Lustinsel vor den Toren Genuas, und zusehends verwandelte sich tatsächlich der Chor der Bürger zu seriellen Monster-Kopien von „Genuas hässlichstem Mann“[8].

Die Darstellung eines „Krüppels“ auf der Opernbühne – in Verdis „Rigoletto“ als Bariton und in Schrekers Oper als dramatischer Tenor – war ein entscheidender Ausgangspunkt für die Überlegungen der szenischen Visualisierung in Frankfurt. Alviano Salvago müsse ja nicht so hässlich sein, hatte der Operndirektor Christoph Bitter vorgeschlagen und damit den Regisseur Hans Neuenfels provoziert, Alviano besonders hässlich darzustellen: im Vorspiel der Oper verwandelte sich ein in der großen, menschenleeren Großstadt (Frankfurt) frustrierter junger Mann sichtbar in das Trivialmonster Frankenstein, alias Alviano, mit überhoher Stirn, Buckel und mit überlangen Fingern.

Ort und Zeit waren anstatt der vom Dichterkomponisten angegebenen Renaissance das „Hier und Heute“ (Frankfurt 1979), mit Cola-Dosen im Kühlschrank und mit Luxuslimousinen der Adligen, die zunächst im Up-to-date-Chic extravaganter Sportarten, später in modischen Anzügen auftraten.

[...]


[1] Max Reinhardt: Ich bin nichts als ein Theatermann. Briefe, Reden, Aufsätze, Interview, Gespräche, Auszüge aus den Regiebüchern. Herausgegeben von Hugo Fetting. Berlin 1989, S. 183.

[2] Heinrich Huesmann: Welttheater Reinhardt. Bauten, Spielstätten, Inszenierungen. München 1983, Nr. 2017.

[3] Ouvertüren von Nicolai, Schreker, Wolf, Weber, Goldmark und Goetz. National Philharmonic Orchestra, Decca LP 6.42506

[4] Die Frankfurter Aufführung auf LPs bei MRF-188-S (3)

[5] Vgl. die CD-Einspielung dieser Aufführung auf Orfeo CD 5840221

[6] Ausstellung „Entartete Musik“ Düsseldorf 1938

[7] Neuenfels hatte im Bereich des Musiktheaters zuvor nur zwei Opern Giuseppe Verdis inszeniert, „Der Troubadour“ am Opernhaus Nürnberg und „Macbeth“ an der Frankfurter Oper.

[8] Franz Schreker, „Die Gezeichneten“. Kl.-A. Wien 1916, S. 136.

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Detalles

Título
Spiralförmiger Weg neuer Bildfindungen: Franz Schrekers "Die Gezeichneten" auf der Bühne
Autor
Año
2005
Páginas
19
No. de catálogo
V68926
ISBN (Ebook)
9783638612098
Tamaño de fichero
480 KB
Idioma
Alemán
Notas
Ausführlich wird der Weg der Bildfindungen udn szenischen Deutungen von Franz Schrekers Oper "Die Gezeichneten" dargelegt.
Palabras clave
Spiralförmiger, Bildfindungen, Franz, Schrekers, Gezeichneten, Bühne
Citar trabajo
Prof. Dr. Peter P. Pachl (Autor), 2005, Spiralförmiger Weg neuer Bildfindungen: Franz Schrekers "Die Gezeichneten" auf der Bühne, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/68926

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