Politische und verfassungsrechtliche Veränderungen im Vorfeld der deutschen Einheit 1866-1870/71


Diploma Thesis, 2006

63 Pages, Grade: 1,7


Excerpt


Inhalt

Liste der Abkürzungen

1 Einleitung

2 Das Ringen um die führende Rolle im Deutschen Bund
2.1 Die Ausgangslage vor dem Preußisch-Österreichischen Krieg
2.2 Nachkriegsordnung
2.2.1 Preußen und die Politik 1866
2.2.2 Ausgangslage Österreichs und die Nachkriegsordnung
2.2.3 Das „dritte Deutschland“ – Rolle und Position der süddeutschen Staaten
2.3 Die liberale Bewegung
2.3.1 Die Ausgangslage
2.3.2 Die neue Rolle der Liberalen
2.3.3 Die Nationalliberale Partei
2.3.4 Der Nationalverein und Süddeutschland

3 Der Norddeutsche Bund
3.1 Die Putbuser Diktate: Ereignisse im Vorfeld der Gründung
3.2 Der konstituierende Reichstag
3.2.1 Die Änderungen des Verfassungsentwurfes
3.2.2 Die Staatsorganisation des Norddeutschen Bundes im Verhältnis zum Bonapartismus
3.2.3 Bewertung der Verfassungsänderungen durch den konstituierenden Reichstag
3.3 Innere Ausgestaltung des Norddeutschen Bundes
3.4 Außenpolitisches Erscheinungsbild des Norddeutschen Bundes
3.5 Das Verhältnis zu den süddeutschen Staaten

4 Das Zollparlament 1868
4.1 Der Vorlauf und die Ausgestaltung des neuen Zollvereinsvertrags
4.2 Zollparlamentswahl und Bewertung

5 Der Deutsch-Französische Krieg und die Reichseinigung
5.1 Der Vorlauf zum Krieg
5.2 Reichseinigung und Reichsverfassung

6 Fazit

Liste der Abkürzungen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

Die Jahre 1866 bis 1870/71 bilden den Rahmen des letzten Aktes der deutschen Nationenwerdung im 19. Jahrhundert, der letztlich zur Gründung des Deutschen Reichs 1871 führte. Erstaunlicherweise bildet diese Zeit, abgesehen von den kriegerischen Ereignissen 1866 und der Reichsgründung 1871, ein Wahrnehmungsvakuum bei der Betrachtung der Geschehnisse, die zur deutschen Reichseinigung führten. Die Ereignisse zwischen den „Landmarken“ 1866 und 1870/1871, also zwischen den Verhandlungen von Nikolsburg und der Reichsgründung in Versailles sind jedoch weit mehr als eine Übergangsphase zum Deutschen Reich. Sie lassen sich auch nicht auf eine kurze Würdigung des Norddeutschen Bundes und Erwähnung der Schutz- und Trutzbündnisse mit den süddeutschen Staaten reduzieren. Eine genauere Betrachtung dieser Zeit ist erforderlich um ihre Tragweite für die zukünftige Gestaltung Deutschlands zu erfassen.

Was waren die wahren Ziele des von Bismarck geführten Preußens, standen im Prozess der deutschen Einigung auf Seiten Preußens eher gesamtdeutsche oder preußische Interessen im Vordergrund? Welchen Rang nahm der Norddeutsche Bund in diesen Überlegungen ein, war er eine Übergangslösung hin zum Deutschen Reich oder war er ursprünglich als Endpunkt der von Preußen angestrebten Entwicklung geplant? Wie stellte sich in diesem Zusammenhang die Rolle der Liberalen als ursprünglicher Verfechter der nationalen Einigung dar? Wie war es möglich, dass ihnen die Vorreiterrolle aus der Hand genommen wurde und sie Teil der „Einigung von oben“ wurden? Welche Rolle nahmen sie in der Gesamtentwicklung ein? Dies sind die Fragen mit denen ich mich im Folgenden beschäftigen werde und auf die ich eine Antwort geben möchte. Die Antworten auf diese Fragen können hierbei nur im Rahmen der Entwicklung gefunden werden, sind die Handlungen der beteiligten Parteien doch eine Folge von Aktion und Reaktion unter Berücksichtigung voran gegangener Ereignisse und Erfahrungen. Aus diesem Grund folgt diese Arbeit dem chronologischen Rahmen der Entwicklung und versucht anhand der Aktionen der beteiligten Akteure, eine Deutung hinsichtlich der vorgenannten Fragen zu bieten.

Den Schwerpunkt dieser Arbeit werden die Ereignisse der Jahre 1866/67 und 1870/71 bilden, vereinigen sie doch die zentralen Ereignisse wie die Nachkriegsordnung 1866, den konstituierenden Reichstag und den unmittelbaren Vorlauf zur Reichsgründung in sich. Hierbei sollen die Ereignisse im Vorfeld des Betrachtungszeitraums nur grob skizziert werden und ansonsten als bekannt vorausgesetzt werden. Insbesondere betrifft dies den Ablauf und die Ursachen des preußischen Verfassungskonflikts sowie die detaillierte Geschichte des Zollvereins. Ebenfalls sollen ideologische Hintergründe der liberalen Bewegung und eine genaue wirtschaftsgeschichtliche Betrachtung der Ereignisse um die Reichseinigung entfallen. Kern dieser Arbeit ist die Analyse der politischen Ereignisse und Hintergründe im Vorfeld der deutschen Reicheinigung, sowie die Betrachtung der vertraglichen und verfassungsrechtlichen Neuerungen, in Folge des politischen Handelns. Als Literatur zur Erkenntnisfindung dienen sowohl Originalquellen, sowie auch wissenschaftliche Fachliteratur. An zentralen in der Geschichtswissenschaft umstrittenen Punkten sollen hierbei die konträren Standpunkte dargelegt und der Versuch einer Lösung dieser Problematik geboten werden.

2 Das Ringen um die führende Rolle im Deutschen Bund

2.1 Die Ausgangslage vor dem Preußisch-Österreichischen Krieg

Die innerdeutsche Ausgangslage vor dem Krieg 1866 war geprägt durch die seit den 1850er Jahren bestehende Rivalität Preußens und Österreichs um die wirtschaftliche und politische Vorherrschaft im deutschen Raum.

Auf wirtschaftlichem Gebiet hatte Preußen seit der Vereinbarung über den Zollverein im Jahre 1834 eine Vormachtstellung unter den deutschen Staaten etabliert[1]. Mitglieder des Zollvereins wurden, bis zum Eintritt Hannovers 1854, alle Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes, bis auf die mecklenburgischen Staaten, die Hansestädte Bremen, Hamburg und Lübeck, Schleswig, Lichtenstein und Österreich. Der vorläufig auf acht Jahre geschlossene, aber immer wieder verlängerte und erneuerte Vertrag, schuf zwischen den Mitgliedsstaaten eine allgemeine Verkehrsfreiheit im Innern und errichtete einen einheitlichen Zolltarif nach Außen. Gleichsam führte der Zollverein zu einer Annäherung der Handels-, Gewerbe- und frühen Industriepolitik, sowie zu einer Vereinheitlichung der Maß- und Münzsysteme in den Mitgliedsstaaten. Zudem nahm der Zollverein im Laufe seiner Entwicklung auch im europäischen Rahmen eine immer größere Bedeutung ein, seitdem der Zollverein als Handlungsträger Handelsverträge mit den europäischen Staaten abschloss.

Die Nichtbeteiligung Österreichs am Zollverein führte dazu, dass Preußen sowohl territorial als auch vom wirtschaftlichen Potential die führende Macht im Deutschen Zollverein bildete. Alle Beschlüsse des Zollvereins mussten auf der periodisch tagenden Zollgeneralkonferenz einstimmig beschlossen werden. Dieser Modus erleichterte es Preußen, die von Österreich wiederholt vorgeschlagene einheitliche Regelung zwischen dem Zollverein und Österreich zu verhindern. Österreich konnte lediglich erreichen, dass es in einem Assoziierungsabkommen besondere Handelskonditionen erhielt.

Auch innerhalb des Deutschen Bundes drängte Preußen auf eine endgültige Entscheidung, ob nun Preußen oder Österreich der führende Staat sei. Der seit 1862 amtierende preußische Ministerpräsident Graf Otto von Bismarck[2] hatte bereits vor seiner Berufung in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine klare Vorstellung davon, dass das System des Deutschen Bundes in der aktuellen Ausprägung nicht ohne Schaden für Preußen oder Österreich bestehen könne. Unter den gegebenen Umständen müssten sich die beiden Großmächte „die Lebensluft abgraben“[3]. Die Alternativen, die für den preußischen Ministerpräsidenten in Frage kamen, lauteten: Neuordnung des Bundes oder Totalrevision der Verhältnisse. Dies gipfelte in dem berühmten Ausspruch: „Soll Revolution sein, so wollen wir sie lieber machen, als erleiden“[4]. Für einen konservativen Royalisten wie Bismarck eine außergewöhnliche Aussage. Hier zeigt sich bereits die Bereitschaft Bismarcks zur Nutzung aller ihm zur Verfügung stehenden Kräfte zur Erreichung des von ihm angestrebten Ziels. Diese Form realpolitischer Entscheidung erweist sich auch im Kommenden als Konstante der bismarckschen Politik.

Bismarck wollte Preußen endgültig aus dem Schatten Österreichs herausführen und zumindest die Hegemonialstellung in Norddeutschland beanspruchen. Die endgültige Entscheidung für den Krieg zur Vollendung der preußischen Ziele fiel im Rahmen der Kontroverse um Schleswig-Holstein. Bei dieser Entscheidung um die Zukunft Schleswig-Holsteins forderten Österreich und die meisten deutschen Staaten, wie auch ein Großteil der Bevölkerung, die Errichtung eines neuen Fürstentums unter der Herrschaft der Familie Augustenburg. Damit sollte die Teilung des Landes in einen preußischen und österreichischen Verwaltungsbezirk, wie seit dem Vertrag von Bad Gastein 1865 beschlossen, aufgehoben werden. Ministerpräsident von Bismarck beschuldigte Österreich offen, den einst vereinbarten Kampf gegen „den gemeinsamen Feind beider Mächte, die Revolution“[5] aufzugeben. In einem Gespräch zwischen Bismarck und dem Grafen Bernstorff bezeichnete er den Versuch, die „Deutsche Frage“ im gemeinsamen Vorgehen mit Österreich im konservativen Sinne zu lösen, als gescheitert: „Österreich greift in den Herzogtümern unsere ganze Stellung in Deutschland an, und zwingt uns dadurch auf die Sicherung derselben bedacht zu sein“[6]. Das gemeinsame Band zwischen Österreich und Preußen war endgültig zerschnitten. Obgleich weiter Verhandlungen geführt wurden, trafen beide Parteien ihre Kriegsvorbereitungen. Preußen hatte hierbei die schlechtere bündnisstrategische Ausgangsposition. Zwar konnte gegen die Bemühungen Österreichs ein Bündnis mit Italien geschlossen werden, jedoch standen die Großmächte Frankreich und Russland weiter als mögliche Bedrohung gegen Preußen im Raum. Gegen diese Bedrohung konnte Preußen kaum auf die Unterstützung der deutschen Staaten und der deutschen Bevölkerung hoffen. Besonders deutlich wird die antipreußische Stimmung in der Aussage des Liberalen Heinrich von Sybel, der seinen Krefelder Wählern erklärte, dass er lieber die zeitweilige Besetzung der Stadt durch die Franzosen hinnehmen könne, als die Verletzung des Rechts durch Preußen.[7] Diesen und weiteren offenen Bekundungen der Liberalen für die Seite Österreichs trat Bismarck mit einer offensiven Pressepolitik entgegen. Er gab für die von ihm beeinflusste oder kontrollierte Presse die „Sprachregelung aus, die Unterstützung, welche die Nationalbewegung und ein Teil der Öffentlichkeit bei ihrer Beurteilung des Vertrags von Bad Gastein durch die englische und französische Regierung erführen, zeige, was man von Kräften zu halten habe, die sich vom Ausland abhängig zu machen bereit seien“[8]. Bismarck versuchte die Liberalen in die Position des Verräters an der nationalen Sache zu drängen.

Die schwierigste nicht zu kalkulierende Unbekannte in Bismarcks Plan waren die Reaktionen der europäischen Großmächte. Insbesondere die Haltung Frankreichs war ungewiss. Der französische Kaiser Napoleon III. versuchte die Neutralität oder das aktive Mitwirken Frankreichs an einer militärischen Auseinandersetzung möglichst teuer zu verkaufen. Dabei verhandelte er sowohl mit Österreich, als auch mit Preußen. Österreich machte im Rahmen der Verhandlungen weitreichende Zugeständnisse für eine französische Neutralität, unter anderem die Abtretung Venetiens. Bismarck vermied es jedoch, eine feste Zusage für etwaige französische Kompensationen abzugeben. Mit dem schnellen Sieg Preußens und dem folgenden Präliminarfrieden von Nikolsburg[9], konnte eine Einlösung dieser Zusagen Bismarcks verhindert werden. Bismarcks Handeln war in dieser Periode nicht von einem `Masterplan` bestimmt, der nun wie erwartet aufging, sondern das gesamte Schicksal Preußens hing von einem schnellen Sieg und Frieden mit Österreich ab. Nur so ließen sich Frankreich, England und Russland von einem Eingreifen abhalten, da es nach einem beendeten Krieg keinen Vorwand und Grund für ein Eingreifen gab. Bismarcks „Spielraum war hier de facto gleich null“[10]. Gleichsam gelang es Bismarck gegen alle Widerstände, auch aus dem eigenen Lager, seine Vorstellungen durchzusetzen. Bismarck war sich durchaus über die Konsequenzen hinsichtlich der zukünftigen Politik Frankreichs bewusst. Für ihn war es klar, dass „ein französischer Krieg auf den österreichischen folgen werde, […], selbst dann wenn wir dem Kaiser Napoleon die kleinen Spesen, die er für seine Neutralität von uns erwartete, hätten bewilligen können“[11]. Diese Einsicht Bismarcks sollte auch bei kommenden Ereignissen prägend für seine Politik sein.

2.2 Nachkriegsordnung

Der Präliminarfrieden von Nikolsburg und der darauf folgende Frieden von Prag manifestierten endgültig die Zeitenwende, die die deutschen Staaten nun erlebten. Diese Verträge sollten die Entwicklung der folgenden Jahre entscheidend prägen.

Artikel 1 des Prager Friedens sicherte Österreich, abgesehen von der Abtretung Venetiens an Italien, eine territoriale Unversehrtheit zu. Österreich erfuhr somit eine für einen unterlegenen Kriegsgegner ungewohnte Schonung. Diese Schonung durch Preußen fand gegen den erbitterten Widerstand des Königs von Preußens und der Generalität statt, die im Angesicht der siegreichen Armee weitgehende Gebietsabtretungen forderten. In Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen“ heißt es dazu: „Mir kam es für die späteren Beziehungen zu Östreich darauf an, kränkende Erinnrungen nach Möglichkeit zu verhüten, wenn es sich ohne Beeinträchtigung unserer deutschen Politik tun ließ“[12].

Bismarck war bemüht die Schonung Österreichs als Teil seines Plans für die Zukunft Deutschlands erscheinen zu lassen, um Österreich in der Zukunft als befreundeten Staat an die Seite des geeinten Kleindeutschlands zu führen. Wesentlich realistischer erscheint jedoch die Annahme, dass Bismarck sich bei der Schonung von Österreich in erster Linie von aktuellen außenpolitischen Bedrohungen leiten ließ. Ein übermäßiger und ungerechter Zwangsfrieden hätte die Gefahr einer Allianz Frankreich-Russland-Österreich zur Herstellung der alten Ordnung heraufbeschworen und Frankreich somit an die Seite der alten preußischen Verbündeten von 1815 geführt. Eine solche Allianz hätte sich als massive Bedrohung der preußischen Position in Europa erweisen können. Bismarck machte dies in einem Brief an seine Frau vom 9. Juli deutlich: „Aber wir sind ebenso schnell berauscht wie verzagt, und ich habe die undankbare Aufgabe, Wasser in den brausenden Wein zu gießen und geltend zu machen, daß wir nicht allein in Europa leben, sondern mit noch drei Mächten, die uns hassen und neiden“[13].

Die für die zukünftige Entwicklung der deutschen Frage wichtigsten Artikel des Prager Friedens bildeten die Artikel vier bis sechs. In Artikel 4 des Prager Friedens[14] erkannte Österreich die Auflösung des Deutschen Bundes als Definitivum an. Einen Auflösungsbeschluss fasste der Bundestag allerdings nicht. „Der Bund nahm rechtlich sein Ende durch die Einzelvereinbarungen, die Preußen mit Österreich wie mit den bundestreuen Staaten, soweit sie nach dem preußischen Sieg ihre staatsrechtliche Existenz bewahren konnten, abschloß“[15]. Weiterhin akzeptierte Österreich die Schaffung eines Norddeutschen Bundes nördlich des Mains und willigte in eine engere Verbindung mit diesem ein. Für die süddeutschen Staaten sah der Friedensvertrag auf Druck Frankreichs eine Möglichkeit zur Bildung eines „Südbundes“ vor, dem eine „international unabhängige Existenz“ zugesichert wurde. Diese Klausel sollte die süddeutschen Staaten vor preußischem Zugriff schützen.

Artikel 5 übertrug Preußen alle Rechte an den Herzogtümern Schleswig und Holstein. Die im Vorfeld des Krieges von Österreich vertretenen Herrschaftsansprüche des Hauses Augustenburg wurden gegenstandslos. Ein französischer Einspruch bewirkte, dass in diesem Artikel ein Recht auf eine Abstimmung im Norden Schleswigs festgeschrieben wurde, bei der über eine Vereinigung mit Dänemark entschieden werden sollte. Napoleon griff mit einem Plebiszit über die staatliche Zugehörigkeit der Bevölkerung zu einem Mittel, welches auch innerhalb Frankreichs zu einem wichtigen Instrument napoleonischer Politik gehörte. Er vertraute hierbei darauf, dass Preußen sich nicht, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen, über das Ergebnis der Abstimmung hinwegsetzen könne. Diese Abstimmung hätte so für Preußen zum Verlust eines Teils der neu erworbenen Gebiete führen können. Preußen setzte alles daran, diese Abstimmung hinaus zu zögern und letztlich zu verhindern.

Artikel 6 sicherte Preußen das Recht zu, in Norddeutschland nach eigenem Dafürhalten weitere Gebietserwerbungen vorzunehmen. Nur Sachsen, welches sich durch besondere Treue zu Österreich ausgezeichnet hatte, musste, wie schon auf dem Wiener Kongress von 1815, auf Druck Österreichs seine Selbstständigkeit bewahren. Dieser Artikel gab Preußen den eigentlichen „Freibrief“ sowohl zur Erweiterung seiner Grenzen als auch zur Aufrichtung des „Norddeutschen Bundes“.

2.2.1 Preußen und die Politik 1866

Die Bewertung der politischen Zielsetzung für den preußisch-österreichischen Krieg und die dadurch resultierende Nachkriegsordnung sind sowohl bei den beteiligten Ratgebern des preußischen Königs, als auch in der Geschichtswissenschaft zahlreich. Der Chef des Preußischen Generalstabs, Helmut von Moltke, nannte als Ziel des Krieges von 1866 die Erweiterung der preußischen „Machtstellung“[16]. Laut Bismarck hätte ohne den Krieg von 1866 „die preußische Geschichte still gestanden“ und die Nation „wäre politischer Versumpfung verfallen und bald die Beute habsüchtiger Nachbarn geworden“[17]. Was Bismarck hier mit Nation meint, ob nun Deutschland oder Preußen, bleibt ungeklärt.

Betrachtet man die territorialen Erweiterungen des preußischen Staatsgebiets im Bereich zwischen „Altpreußen“ und den westlichen Rheinprovinzen so könnte dies als Ziel der preußischen Politik angesehen werden. Diese Reduzierung der preußischen Ziele auf die Schaffung der Landverbindung greift bei Betrachtung der Ergebnisse allerdings zu kurz. Preußen begnügte sich nicht nur mit der Erweiterung des preußischen Staatsgebietes, sondern begründete eine hegemoniale Stellung in Norddeutschland. Ob dies, wie Ernst Rudolf Huber meint, zur Begründung und Sicherung der deutschen Nationaleinheit dienen sollte[18], erscheint jedoch fraglich. Diese Meinung spiegelt den bereits erwähnten Glauben an den „großen Plan“ Bismarcks wieder, dem die deutsche Einheit als wichtigstes Ziel seiner Politik erschien. Im Kontext der bismarckschen Realpolitik erscheint es plausibler, dass der preußische Ministerpräsident zu dieser Zeit deutsche Interessen im besten Fall als Erweiterung der preußischen betrachtete. Wolfgang Mommsen bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: „Von einer sentimentalen „deutschen Politik“ Preußens wollte Bismarck […] nichts wissen“[19]. Diese Meinung teilt auch Theodor Heuss in seinem Vorwort zur Nachkriegsausgabe von Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen“, wenn er feststellt, dass für Bismarck „das [deutsch-] nationale Gefühl recht zweitrangig war“[20].

Die Annexion von Hannover, Kurhessen, Nassau, Frankfurt und Schleswig-Holstein bedeuteten für das preußische Staatsgebiet einen enormen Flächengewinn und den endgültigen Aufstieg Preußens zur europäischen Großmacht. Staatsrechtlich bewegten sich alle Annexionen, bis auf die Schleswig-Holsteins, welches durch Rechteabtretung Österreichs erworben wurde, auf dem Gebiet des klassischen Völkerrechts. Demnach durften im Krieg geschlagene Staaten annektiert werden.[21] Politisch und ideologisch jedoch bedeutete die Annexion dieser Staaten mit der einhergehenden Entmachtung der Herrscherdynastien ein erhebliches Problem, da diese Maßnahme Bismarcks das gesamte auf „Gottes Gnadentum“ beruhende Herrschaftssystem der deutschen Monarchien in Frage stellte. Noch vor dem Krieg 1866 lautete die Maßgabe König Wilhelms I., dass „keine Kronen rollen dürften“. Wilhelms Furcht war die Schaffung eines Präzedenzfalls, der beweisen würde, dass eine gottgegebene Einheit zwischen Land und Herrscher nicht von Nöten sei. Dass er letztlich seine Bedenken aufgab, war in vollem Maße Bismarcks Überzeugungsarbeit zu verdanken, der in immer wiederkehrender Argumentation seinen König in die Richtung seiner Politik drängte.

Letztlich begründete diese Entscheidung den Ruf des „weißen Revolutionärs“[22] Bismarck. Die moralische Legitimation machte Bismarck gegenüber dem Kriegsminister Roon bereits 1861 in einem Brief deutlich: Er sei seinem Fürsten „treu bis in die Vendeé, aber gegen alle anderen fühle ich in keinem Blutstropfen eine Spur von Verbindlichkeit, den Finger für sie aufzuheben“.[23] Bismarck wurde insbesondere von den äußersten Liberalen als extremer Konservativer bezeichnet. Diese Ansicht erhält hier eine erste Einschränkung. Bismarck vertrat dem Anschein nach einen extrem liberalen Standpunkt, was auch dazu führte, dass ihm insbesondere von den entschiedensten Liberalen, die im preußischen Verfassungskonflikt seine erbittertsten Gegner bildeten, die meiste Unterstützung hinsichtlich der Annexionen zu Teil wurde. Gleichzeitig bedeutete diese Entscheidung den ersten Bruch mit der preußischen konservativen Partei, die jegliche Totalentmachtung eines Fürsten, wie dies insbesondere in Hannover betrieben wurde, entschieden ablehnte.

Bismarcks Einordnung in die klassische politische Aufteilung seiner Zeit erschien also auch für seine Zeitgenossen schwierig. War er sicherlich ein Konservativer, scheute er doch nicht, liberale Ansichten im Sinne seiner Politik zu benutzen. Theodor Heuss bezeichnete ihn daher als „preußische[n] Royalist[en]“, wobei das „Preußische stärker betont werden [muss] als das Royalistische“[24]. Bismarck war preußisch patriotischer Realpolitiker, der mit allen Mitteln danach strebte, sein politisches Programm unter Ausnutzung des aktuell Möglichen durchzusetzen. Auf welcher Seite er hierfür Verbündete fand, war für ihn nur von nachrangiger Bedeutung. Bismarck versuchte also nicht das monarchische Prinzip zu schwächen, sondern nur, die Position seines Monarchen und damit die Position Preußens unter Ausnutzung der realen Machtverhältnisse zu stärken.

Besondere Probleme bei den Annexionen ergaben sich nur im Fall Hannovers und Frankfurts. Während sich die Widerstände in der ehemals freien Reichsstadt Frankfurt durch die strikte Militärverwaltung und die angedrohten erheblichen Kriegskontributionen relativ schnell beruhigten, leistete der ins österreichische Exil geflohene König Georg V. von Hannover erbitterten Widerstand gegen seine Absetzung. Zwar entband er seine Beamten und Soldaten von ihrem Diensteid und ermöglichte es ihnen so in preußische Dienste überzutreten, jedoch war er sonst zu keinem Entgegenkommen bereit. Mit allen Mitteln versuchte Georg V. seine Herrschaft über Hannover wiederherzustellen. Dabei konnte er sowohl auf die Hilfe einer eigenen „Welfenpartei“ im demokratischen parlamentarischen Kampf, sowie einer kleinen bewaffneten Truppe, der so genannten Welfenlegion, die sich in Frankreich für einen eventuellen Befreiungskampf um Hannover bereithielt, zählen. Auch eine großzügige finanzielle Ausgleichszahlung trug nicht zur Mäßigung der welfischen Bemühungen bei, so dass diese Gelder und das Privatvermögen der ehemaligen Herrscherfamilie letztlich beschlagnahmt wurden und der preußischen Regierung als „Welfenfond“ für eigene geheime Operationen zur Verfügung gestellt wurden. Diese „geheime Kasse“ Bismarcks sollte im Laufe der deutschen Einigung zu einiger Bedeutung gelangen.

Betrachtet man letztlich die Gesamtlage in Hannover, so lässt sich erkennen, dass die Bevölkerung mittelfristig die preußische Herrschaft akzeptierte. Dazu trug auch die starke Stellung des propreußisch und kleindeutsch orientierten Nationalvereins bei, der in Hannover besonders präsent war.[25]

2.2.2 Ausgangslage Österreichs und die Nachkriegsordnung

Mit dem Ende des Kriegs von 1866 schied Österreich als direkter Handlungsträger der innerdeutschen Politik aus. War Österreich zuvor einer der Hauptgestalter der deutschen Politik nahm es nunmehr den Rang eines außenstehenden Akteurs in der Frage der deutschen Einheit ein. Diese insbesondere für die Süddeutschen beunruhigende Entwicklung zeichnete sich bereits vor dem Krieg seit längerer Zeit ab. Der Vielvölkerstaat Österreich war, wie man an der Frage des inneren Ausgleichs mit Ungarn sehen kann, oft weit mehr damit beschäftigt seine internen Probleme zu lösen, als an einer engeren Verbindung der deutschen Staaten zu arbeiten. “Passivität, Hinhalten, Ausweichen, Aufschieben, taktische Konzession – das sind Vokabeln, welche immer wieder bei der Charakterisierung der österreichischen Politik vorkommen“[26]. Auch wirtschaftlich hing Österreich hinter den anderen Staaten des ehemaligen Deutschen Bundes zurück. Es war nicht Mitglied des Deutschen Zollvereins und wurde im Grad der industriellen Entwicklung beinahe vom kleinen und seit 1815 sehr geschwächten Sachsen überflügelt. Österreich war „in den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts überfordert“[27]. Es erscheint für die preußische Politik als fast logische Konsequenz, den machtpolitischen Gegner und wirtschaftlichen `Klotz am Bein` aus der deutschen Entwicklung ausschließen zu wollen. Bismarck sah sein Votum, dass Preußen „die einzige lebensfähige politische Schöpfung [...], die aus den Ruinen des alten deutschen Reiches hervorgegangen sei“[28], bestätigt.

Trotz der negativen Entwicklungen und der anders lautenden Verpflichtungen aus dem Prager Friedensvertrag gab Österreich seine Position als Fürsprecher und Protektor der katholischen süddeutschen Staaten und der großdeutschen Bewegung noch nicht gänzlich auf. Besonders mit dem Amtsantritt des ehemaligen sächsischen Ministerpräsidenten Friedrich Ferdinand Graf von Beust 1867 als österreichischer Staatskanzler, erhöhten sich wieder die Bemühungen um eine Stärkung der Position Österreichs in Deutschland. Auch eine Wiederherstellung der Hegemonie Österreichs über die Gebiete des alten Deutschen Bundes stand als mögliches Ziel im Raum. Eine kriegerische Auseinandersetzung wurde letztlich aber nicht in Betracht gezogen, oder nur als „ultima ratio“ angesehen.[29] Diese Einschränkungen erklären sich durch zwei Punkte: Einerseits ließ der notorisch verschuldete österreichische Staatshaushalt einen Krieg kaum zu, andererseits konnte ein weiterer deutscher „Bruderkrieg“ und die damit einhergehenden Bündnisse mit ausländischen Großmächten, insbesondere mit Frankreich, der Großdeutschen Bewegung nicht vermittelt werden. Beust setzte darauf, die liberal gesinnten süddeutschen Staaten mit liberalen Reformen in Österreich von der Reformfähigkeit der Habsburger Monarchie zu überzeugen und Österreich als neue, alte Schutzmacht erscheinen zu lassen. Nicht zuletzt sollte die gemeinsame katholische Religionszugehörigkeit ein weiteres Zugpferd gegen das protestantischen Preußen bilden. Seine Idee, den im Prager Frieden angeregten „deutschen Südbund“ zu installieren, war allerdings bereits in den Anfängen zum Scheitern verurteilt. Die Verflechtungen Süddeutschlands mit Preußen waren durch die geheimen „Schutz und Trutzbündnisse“[30] und die wirtschaftlichen Verbindungen aus dem Zollverein zu groß geworden. Hinzu kam, dass insbesondere Baden an den politischen Entwicklungen in Norddeutschland partizipieren wollte.

2.2.3 Das „dritte Deutschland“ – Rolle und Position der süddeutschen Staaten

Sowohl Frankreich wie auch Österreich sahen im Artikel 4 des Prager Friedens die absolute Unabhängigkeits- und Souveränitätsgarantie für Süddeutschland gegen mögliche preußische Expansionsbestrebungen. All diese Bemühungen wurden allerdings bereits im Vorfeld des Prager Friedens vom 23. August 1866 von Preußen unterlaufen. In Einzelverhandlungen mit den süddeutschen Staaten am 13., 17. und 22. August schlossen Bayern, Baden und Württemberg geheime „Schutz- und Trutzbündnisse“ mit Preußen. Diese defensiven Bündnisse verpflichteten die Vertragsparteien bei einem Angriff durch eine ausländische Macht zu militärischem Beistand. Die Truppen standen in einem solchen Fall unter dem Oberbefehl des preußischen Königs. Gleichzeitig verpflichteten sich die süddeutschen Staaten zu Heeresreformen nach preußischem Vorbild und verzichteten darauf, einen Südbund nach den Möglichkeiten des Artikels 4 des Prager Friedens zu errichten. Eine einheitliche Front der süddeutschen Monarchien gegen die preußischen Forderungen war nicht vorhanden, zeigte sich doch auch, dass die einzelnen süddeutschen Länder versuchten, Gewinne auf Kosten der anderen ehemals verbündeten Staaten zu erreichen. Bismarck schürte in den Verhandlungen um die Verträge von Anfang an die Ängste vor einem möglichen französischen Expansionsdrang.[31] Dieses Bedrohungspotential aus der Zeit Napoleon I. hatte sich unter Napoleon III. wieder erneuert, strebte er doch nach territorialen Erweiterungen oder zumindest danach, einen eventuellen Südbund „als französische Filiale auszubilden“[32], wie Bismarck es umschrieb. Der preußische Ministerpräsident bediente sich der im südlichen Teil Deutschlands noch allgegenwärtigen Angst vor dem französischen Nachbarn, die aus der Zeit der napoleonischen Kriege herrührte. Diese Ängste und der Wegfall der österreichisch-katholischen Schutzmacht trieben die südlichen deutschen Staaten in die Arme des protestantischen Preußens. In dieser Frage der religiösen Zugehörigkeit darf nicht übersehen werden, dass Süddeutschland keinen homogenen katholischen Block bildete. Besonders in Baden und Württemberg gab es eine starke protestantische Minderheit, die Preußen aufgeschlossen gegenüberstand.

Für die süddeutschen Staaten waren die Verträge mit Preußen das geringere Übel, um nach dem verlorenen Krieg gegen Preußen milde Friedensbedingungen zu erreichen und gleichzeitig gegenüber ausländischer Aggression den Schutz zu erlangen, der mit der Auflösung des Deutschen Bundes verloren gegangen war. Über die Rechtmäßigkeit dieser Schutz- und Trutzbündnisse wurde und wird in der Geschichtswissenschaft intensiv gestritten. Im Allgemeinen überwiegt die Ansicht, dass diese Vereinbarungen, obwohl im Vorfeld des Prager Friedens geschlossen, eine Verletzung der Bestimmung des Artikels 4 des Prager Friedens bedeuten[33]. Dieser Argumentation ist zuzustimmen, jedoch muss gleichzeitig festgehalten werden, dass die süddeutschen Staaten, die nicht Vertragsparteien des Prager Friedens waren, in Ausübung ihrer souveränen Rechte die Schutz- und Trutzbündnisse abschließen konnten. Einen scharfen aber treffenden Kommentar zu Bismarcks Verhandlungstaktik in diesem Punkt liefert sein Widersacher Beust in seinen Memoiren, wenn er feststellt, dass „ein Vertrag anticipando verletzt wird, das war eine Neuerung, die dem Genie des Fürsten Bismarck vorbehalten blieb“[34].

2.3 Die liberale Bewegung

2.3.1 Die Ausgangslage

Neben den außenpolitisch-militärischen Auseinandersetzungen des Jahres 1866 schwelte in Preußen innenpolitisch ein Konflikt zwischen der Regierung Bismarck und dem liberal dominierten Parlament. Der preußische Verfassungskonflikt, der seit 1859, und im verstärktem Maße seit dem Amtsantritt Bismarcks 1862, zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Liberalen und der preußischen Regierung führte, lähmte erheblich die politische Entwicklung in Preußen.

Der Ausgang dieser innenpolitischen Auseinandersetzung war für die liberale Sache von entscheidender Bedeutung, ging es hier doch um die Frage, wie weit die Kompetenzen des Parlamentes im Staat reichen sollten. Insbesondere die Frage, ob das Parlament Entscheidungen der vom König eingesetzten Regierung `aufheben` konnte, in dem es die Haushaltsmittel in diesem Bereich verweigerte, stand im Zentrum des Konflikts. Bismarck führte seine umstrittenen Heeresreformen gegen den Beschluss des Parlaments durch und erzielte mit dem so reformierten Heer die entscheidenden Erfolge von 1866. Dieser offensichtliche Erfolg der Politik Bismarcks entzog den Liberalen entscheidende Argumente für ihre Verweigerungspolitik und stärkte die innenpolitische Position Bismarcks. Seinen Niederschlag fand dies in den Neuwahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus am Tag der Schlacht von Königgrätz am 3. Juli 1866.

Die konservative Partei erhöhte die Anzahl ihrer Sitze von 35 auf 136 und war nun mit 38,6 % stärkste Einzelkraft. Die liberale Fortschrittspartei und das linke Zentrum verloren 99 Sitze und erreichten nunmehr 148 Sitze, wobei die Fortschrittspartei 27% der Sitze erringen konnte. Die eher regierungstreuen Altliberalen, die sich im Vorfeld der Gründung der Fortschrittspartei 1861 von dieser Richtung abgespaltet hatten, erhielten 24 Sitze.[35] Die linksliberale Richtung hatte also deutliche Verluste zu beklagen.

Diese Entwicklung bedeutete für die Liberalen eine schwere Niederlage und zugleich eine Stärkung der bismarckschen konservativen Politik. Die konservative Führung des Landes drohte sogar zum „neuen Kristallisationskern der nationalen Einigungserwartungen zu werden“[36]. Bismarck kam schließlich mit der Vergrößerung Preußens und der bevorstehenden Konsolidierung in Norddeutschland einer deutschen Einigung näher, als es die Liberalen mit ihren Mitteln je gewesen waren. Für die Liberalen bestand sogar die Gefahr, durch die neuen Machtverhältnisse im preußischen Parlament aufgerieben zu werden. Nicht wenige Konservative erwarteten den „vernichtenden Schlag gegen die bisherige Opposition“[37]. Auch in diesem Fall ging Bismarck einen ähnlichen Weg wie in der Behandlung der auf dem Schlachtfeld geschlagenen Kriegsgegner: Er bot den Liberalen einen maßvollen Frieden an. Mit der Eröffnung des Landtages am 5.August 1866 bat die königliche Regierung um „Indemnität“[38], also um nachträgliche Bewilligung der bereits geleisteten Ausgaben für die Heeresreform.

2.3.2 Die neue Rolle der Liberalen

Die Liberalen standen nun vor einem der größten Probleme in der Geschichte ihrer Bewegung: Sollten sie das Friedensangebot annehmen und somit die zuvor als Verfassungsbruch gegeißelte Politik der Regierung Bismarck gutheißen oder weiter in strikter Opposition zu der preußischen Regierung bleiben und auf zukünftige, für ihre Sache positive Entwicklungen hoffen.

Die Debatte hierüber und die folgende Entscheidung sollten die Politik der Liberalen für die folgenden Jahre prägen. Auch findet sich hier der erste Baustein der Erklärung, wie den Liberalen die Rolle des `Juniorpartners` bei der deutschen Reichseinigung zufiel.

Die Fortschrittspartei spaltete sich in der Diskussion über die Indemnitätsvorlage in die bereits erwähnten Lager. Die Kritiker der Vorlage, unter ihnen so namhafte Vertreter wie Virchow, Hoverbeck und Waldorf, sahen in ihr den „Höhepunkt des Machiavellismus“ und eine Korrumpierung der liberalen Ideen. Die Befürworter, die die Mehrheit der Fortschrittspartei ausmachten - darunter führende Köpfe wie Twesten, Unruh und Lasker - sahen die vorangegangene Politik der Liberalen im Angesicht der außenpolitischen Erfolge der Regierung Bismarck kritisch und strebten nun nach einer Kooperation mit der Regierung. Twesten rechtfertigte die Hinwendung zu Bismarck damit, dass der Verlauf der Ereignisse dem preußischen Ministerpräsidenten die Indemnität in die Hände gespielt habe.[39] In der parteiinternen Diskussion setzten sich die Befürworter der Bismarckschen Politik klar durch. Die Indemnitätsvorlage wurde schließlich mit 230 gegen 70 Stimmen angenommen. Mit dieser Entscheidung errang das Prinzip der „Einheit“ für die Politik der Liberalen Vorrang vor dem Prinzip der „Freiheit“. Die Quelle dieser Umschreibung der liberalen Politik bildete eine Aussage der liberalen Führungsfigur Miquel, wonach „jedes Opfer selbst [das] der Freiheit für den Augenblick zu erbringen [ist], welches wahrhaft nötig und wirklich notwendig ist für die Gründung des Bundesstaats“[40].

„Jetzt, wo es darauf ankommt“, so kommentierte Adolf Cohn am 6. September 1866 die Zustimmung des Abgeordnetenhauses zur Indemnitätsvorlage, „den unermäßlichen Fortschritt, den wir auf der Bahn nationaler Entwicklung gemacht, zu sichern, muß alles andere in den Hintergrund treten“[41]. Hier manifestiert sich ein Bruch in der Politik der liberalen Bewegung, dessen Anfänge nach der Einschätzung Theodor Schieders bereits in die Zeit nach der Revolution 1848 zurückreichen.[42] Die liberale Politik löste sich in ihrer Hauptströmung von einer rein idealistisch geprägten Politik und vollführte den Übergang zur Realpolitik. Dabei koppelte sie sich an das politische Wirken ihres ehemaligen Gegners Bismarck.

Diese neue Ausrichtung und auch Unterordnung unter das Prinzip einer Realpolitik wie sie Bismarck prägte, führte dazu, dass sich die Ziele der Liberalen ändern mussten. Stärker als früher richteten sie sich nach dem situationsbedingt politisch Machbaren und Erreichbaren. Eine solche Hinwendung zur Realpolitik führte jedoch in vielen Fällen bei liberalen Politikern zu Selbstzweifeln und darüber zu der Frage, ob sie noch die liberalen Fundamente vertreten würden. Besonders deutlich wird dies in der Betrachtung des Werkes von Hermann Baumgarten „Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik“, das in den „Preußischen Jahrbüchern“ erschien. Baumgarten erklärt die Regierungsfähigkeit der Liberalen zum erstrebten Ziel. Es sei besser in der „Regierung ein Geringes [zu] tun“, als in der „Opposition ein Unbegrenztes zu fordern“[43]. Nach seiner Ansicht hat Preußen den Sieg erlangt, weil es nicht danach strebte „liberaler Musterstaat“ zu sein, sondern „ernste Zucht, militärische Straffheit und aristokratische Unterlage“[44] bewahrte. Diese Feststellung ist für ein herausgehobenes Mitglied des politischen Bürgertums bemerkenswert, strebte die bürgerliche Gesellschaft doch immer mehr nach politischer Mit- und Selbstbestimmung. Die Widersprüchlichkeit des liberalen Denken und Handelns spiegelt sich in der Aussage Heinrich von Treitschkes wieder: „Unsere Revolution wird von oben vollendet, wie begonnen, und wir mit unserem beschränkten Untertanenverstande tappen im Dunkeln“[45].

[...]


[1] vgl.:Huber, Ernst Rudolf: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Band III, Stuttgart 1963 (im Folgenden Huber genannt), S.615

[2] ab 1871 in den Fürstenstand erhoben; im Folgenden aus Abkürzungsgründen als `Bismarck` bezeichnet

[3] vgl.: Gall, Lothar: Bismarck. Der weiße Revolutionär, Berlin 1980, S.340

[4] Petersdorff, H. v., Thimme, F., et al. (Hrsg.): Otto von Bismarck: Die gesammelten Werke, 15 Bde., Berlin 1924 bis 1935 (im folgenden GW genannt), Bd. VI, S.120

[5] GW, Bd. V, S.365ff

[6] vgl.: Mommsen, Wolfgang J.: Das Ringen um den nationalen Staat. In Groh, Dieter (Hrsg.): Propyläen Geschichte Deutschlands 7,1.( im folgenden Propyläen 7,1. genannt), Berlin 1993, S. 166

[7] ebd., S.137

[8] Gall, Lothar: Bismarck. Der weiße Revolutionär, Berlin 1980, S.341

[9] Präliminarfrieden von Nikolsburg: Hohlfeld, Johannes (Hrsg.): Dokumente der Deutschen Politik und Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart, Bd. I, Berlin o. J. (im Folgenden Hohlfeld genannt), S.168 f.

[10] Gall, Lothar: Bismarck. Der weiße Revolutionär, Berlin 1980, S.349

[11] Jaspert, Reinhard (Hrsg.): Otto von Bismarck. Gedanken und Erinnerungen, Berlin 1951 (im Folgenden G. u. E. genannt), S.193

[12] ebd., S.193

[13] GW, Bd. XIV, S.717

[14] Artikel vier bis sechs des Prager Friedens: Hohlfeld, S.168 f.

[15] Huber, S.576

[16] Moltke, Helmut von: Gesammelte Schriften und Denkwürdigkeiten. Band III, Berlin 1891, S.426

[17] Reiners, Ludwig: Bismarck. Band II 1864-1871, München 1957, S.334

[18] vgl.: Huber, S.580

[19] Propyläen 7,1., S.151

[20] Heuss, Theodor: Das Bismarck-Bild im Wandel. In G. u. E., S.11

[21] vgl.: Huber, S.580

[22] so zum Beispiel schon im Titel: Gall, Lothar: Bismarck. Der weiße Revolutionär, Berlin 1980

[23] GW, Bd. XIV, S.571

[24] Heuss, Theodor: Das Bismarck-Bild im Wandel. In G. u. E., S.11

[25] vgl.: Huber, S.586

[26] Siemann, Wolfram: Vom Staatenbund zum Nationalstaat. Deutschland 1806 – 1871, München 1995, S.423

[27] Huber, S.605

[28] GW, Bd. VII, S.123

[29] vgl.: Propyläen 7,1., S.193

[30] Exemplarisch der Vertrag zwischen Preußen und Bayern: Hohlfeld, S.172

[31] vgl.: Gall, Lothar: Bismarck. Der weiße Revolutionär, Berlin 1980, S.375

[32] G. u. E., S.197

[33] so etwa Huber, S.602 f. und Propyläen 7,1., S.169 f.

[34] Beust, Friedrich F. v. : Aus Drei Viertel-Jahrhunderten, Bd. II, Stuttgart 1887, S.117

[35] vgl.: Gall, Lothar: Bismarck. Der weiße Revolutionär, Berlin 1980, S.377 und Langewiesche, Dieter: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt am Main 1988, S.305

[36] Gall, Lothar: Bismarck. Der weiße Revolutionär, Berlin 1980, S.376

[37] Wandruszka, Adam: Zwischen Nikolsburg und Bad Ems. In Schieder, Theodor und Deuerlin, Ernst (Hrsg.): Reichsgründung 1870/71, Stuttgart 1970 (im Folgenden Schieder/Deuerlin genannt), S.43

[38] Indemnitätsgesetz: Hohlfeld, S.181

[39] vgl.: Gall, Lothar: Bismarck. Der weiße Revolutionär, Berlin 1980, S.378f

[40] zitiert nach Propyläen 7,1., S.186

[41] vgl.: Propyläen 7,1., S.177

[42] vgl.: Schieder, Theodor: das Jahr 1866 in der deutschen und europäischen Geschichte. In Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Entscheidungsjahr 1866, Bonn 1966, S.18f

[43] Baumgarten, Herrmann: Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik, Berlin 1866, S.149

[44] ebd., S.139

[45] Cornelius, Max (Hrsg.): Heinrich von Treitschkes Briefe, Bd. III, Leipzig 1920, S.103

Excerpt out of 63 pages

Details

Title
Politische und verfassungsrechtliche Veränderungen im Vorfeld der deutschen Einheit 1866-1870/71
College
European University of Applied Sciences Bruel
Grade
1,7
Author
Year
2006
Pages
63
Catalog Number
V69265
ISBN (eBook)
9783638601207
ISBN (Book)
9783638711876
File size
666 KB
Language
German
Keywords
Politische, Veränderungen, Vorfeld, Einheit, Verfassungsgeschichte, Verfassungsrecht
Quote paper
Dipl. Verwaltungsw. Matthias Neeser (Author), 2006, Politische und verfassungsrechtliche Veränderungen im Vorfeld der deutschen Einheit 1866-1870/71, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/69265

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