„Man soll und darf die Vergangenheit nicht ‚auf sich beruhen lassen’, weil sie sonst auferstehen und zu neuer Gegenwärtigkeit werden könnte.“ Diese Mahnung äussert Jean Améry in seinem Vorwort zur Taschenbuchausgabe von ‚Jenseits von Schuld und Sühne’ im Jahr 1977. Heute, vierzig Jahre später oder anders gesagt rund sechzig Jahre nach Kriegsende und der Befreiung der Überlebenden der Konzentrationslager der Nazi wird deutlich, dass Literatur über die Shoah anders ist und anders sein muss als Literatur über das ‚alltägliche’ Werden und Vergehen. Literatur über die Shoah – das Trauma des 20. Jahrhunderts - will mehr als ästhetisch, tragisch und episch sein, Literatur über die Shoah will bestechen, will betroffen machen, will die Leser aufwühlen und verstören, sie will Bildungsroman und Unterhaltungslektüre ad absurdum führen, und sie will sich immer wieder von neuem einschreiben ins subjektive und kollektive Gedächtnis. Ausgehend von der Annahme, dass literarische Texte Teil des übergeordneten, kulturellen Sinnstiftungsprozesses sind und sie aufgrund ihrer fiktionalen Gestaltungsmöglichkeiten ein besonderes Leistungsvermögen für die Erinnerungskultur besitzen, soll in dieser Arbeit der Roman eines Schicksallosen von Imre Kertész als der wegweisende literarische Zeugenbericht betrachtet werden, an dem sich die nachgeborene Erzählerschaft zu messen hat, von dem sie sich aber aufgrund zeitlich-räumlicher Distanz, die sekundäre Zeugenschaft impliziert, in neuer Form abgrenzen muss. Wie und auf welche Weise dies geschehen kann, wird im Vergleich mit Austerlitz, dem Hauptwerk des deutsch-stämmigen Nachgeborenen W.G. Sebald untersucht. Inwiefern, wenn überhaupt, unterscheiden sich Narrativik und Mnemotechnik aus der Sicht des direkt Betroffenen und aus der Perspektive des Nachgeborenen? Und welchen Einfluss können die diversen Strategien auf die Leserschaft ausüben? Die vorliegende Arbeit sucht nach literaturwissenschaftlichen Kriterien, die Antworten auf diese zentralen Fragen liefern sollen. Denn das Ereignis dieses ethnischen Massenmordes ist, wie Imre Kertész schreibt, keine Angelegenheit zwischen Deutschen und Juden, sondern die immer noch aktuelle und künftige Angelegenheit des aufgeklärten Menschen schlechthin. Der vorliegende Text ist Teil einer Lizentiats-/Masterarbeit ‚in progress’, die sich noch ausführlicher und in grösserem Umfang mit dem Thema auseinandersetzen wird. Zürich, Juni 2007
Inhaltsverzeichnis
- EINLEITUNG
- TRAUMA UND LITERATUR: Schreibende Annäherung an das Unbeschreibliche
- ROMAN EINES SCHICKSALLOSEN
- DAS ANTHROPOLOGISCHE ATTRIBUT
- ROMAN UEBERSICHT
- TRAUMA STRUKTUREN IM ROMAN EINES SCHICKSALLOSEN
- AUSTERLITZ
- UEBER UNTER- UND ABGRÜNDE
- BUCH UEBERSICHT
- TRAUMA STRUKTUREN IM BUCH AUSTERLITZ
- „DER FÜHRER SCHENKT DEN JUDEN EINE STADT“ (S. 350 bis 362)
- „THERESIENSTADT – EIN DOKUMENTARFILM AUS DEM JÜDISCHEN SIEDLUNGSGEBIET. HISTORISCHE DATEN.
- DER FILMTITEL UND SEINE NENNUNG IM BUCH AUSTERLITZ
- AUSTERLITZ UND DER SCHICKSALLOSE : ABSCHLIESSENDE GEDANKEN
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit zwei herausragenden literarischen Werken zur Shoah, um die spezifische Darstellung von Trauma und Erinnerung in den Texten zu analysieren. Die zentrale Frage ist, ob sich in den Werken des direkt Betroffenen und des Nachgeborenen fundamentale Unterschiede in der Narrativik und Mnemotechnik zeigen.
- Trauma und Literatur: Wie gelingt die literarische Annäherung an das Unsagbare?
- Die Rolle von Erinnerung und Geschichte in der Literatur zur Shoah.
- Analyse der Narrativik und Mnemotechnik in den Werken von Imre Kertész und W.G. Sebald.
- Vergleich des literarischen Umgangs mit dem Holocaust durch Zeitzeugen und Nachgeborene.
- Die Bedeutung von literarischen Texten für die Erinnerungskultur.
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in das Thema ein und beleuchtet die Frage, wie literarische Texte mit der Darstellung des Holocaust umgehen können. Kapitel 2 analysiert den Roman "Roman eines Schicksallosen" von Imre Kertész. Hier werden die zentralen Figuren, die Handlung und die Traumastrukturen im Roman beleuchtet. Kapitel 3 widmet sich dem Werk "Austerlitz" von W.G. Sebald. Es wird die Bedeutung von Unter- und Abgründen in der Geschichte und die spezifischen Traumastrukturen im Buch untersucht. Im Fokus stehen dabei die Rolle der Geschichte Theresienstedt und des Dokumentarfilms sowie die Bedeutung des Filmttitels im Buch.
Schlüsselwörter
Die Arbeit befasst sich mit den zentralen Themen Trauma, Erinnerung und Geschichte, insbesondere in Bezug auf den Holocaust. Im Vordergrund stehen die literarische Analyse, die Narrativik, die Mnemotechnik sowie der Vergleich von Zeitzeugen- und Nachgeborenenliteratur. Zentrale Konzepte sind die Unsagbarkeit des Grauens, die Herausforderung der ästhetischen Sinnstiftung und die Bedeutung von Literatur für die Erinnerungskultur.
- Quote paper
- Franziska Amsel Muheim (Author), 2006, Zu: "Austerlitz" und der "Roman eines Schicksallosen", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/70987