Walter J. Ongs Werk „Oralität und Literalität” im Blickpunkt

Warum das Schreiben das Denken neu konstruiert


Dossier / Travail, 2006

18 Pages, Note: 1,3


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Ongs Kernthese

3. Platons Schriftkritik

4. Das Schreiben als Technologie

5. Was ist Schrift?

6. Die Geschichte der Schrift

7. Die Leistung der Schrift

8. Schrift und kulturelles Gedächtnis

9. Warum die Schrift das Denken neu konstruiert

10. Fazit

11. Ausblick

Literaturverzeichnis

Vor etwa 17000 Jahren tauchten die Höhlenmalereien auf. In diesen ersten Bildern fixierten die Steinzeitmenschen Dinge, die sie bewegten: Gegenstände oder Lebewesen aus ihrer unmittelbaren Umgebung, aber auch Darstellungen des Übernatürlichen. Der erste Gebrauch von Schrift diente daher weniger der Dokumentation oder der Erinnerung; vielmehr diente die er der Verbindung zwischen eigener Realität und anderen Welten.[1] Zwischen den ersten auf Felswänden aufgemalten Zeichnungen bis hin zu multimedialen Texten im 21. Jahrhundert hat sich die Schrift sowohl optisch als auch hinsichtlich ihrer Bedeutung und Funktion stark gewandelt. Der Frage nachzugehen, inwiefern Schrift auch im Zeitalter der digitalen Medien eine Rolle spielt, wird Inhalt folgender Arbeit sein.

1. Einleitung

In seinem berühmten Werk „Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes.” stellt Walter J. Ong die These auf, das Schreiben konstruiere das Denken neu. Wie keine andere Technologie habe das Schreiben unser Bewusstsein und unser Denken verändert, so Ongs Behauptung.

Folgende Arbeit wird sich mit der Bedeutung der Schrift näher auseinandersetzen und dabei versuchen zu erklären, ob und inwieweit das Schreiben unser Denken neu konstruiert. Die Arbeit wird sich weitestgehend chronologisch an Ongs Werk orientieren, jedoch auch einige neue Aspekte einbringen. So wird im achten Kapitel der Begriff des kulturellen Gedächtnisses eingeführt, anhand dessen Ongs Thesen bestätigt werden sollen. Im neunten Kapitel sollen Ongs Thesen mit jenen von Eric A. havelock kontrastiert werden. Zentraler Kern der Arbeit ist die Frage, ob und inwiefern das Schreiben unser Denken beeinflusst.

2. Ongs „Oralität und Literalität“

Ongs zentrale These ist, daß die Erfindung der Schrift über die Funktion eines technischen Hilfsmittels weit hinausgeht. Vielmehr hat die Schrift die menschlichen Denkweisen grundlegend und nachhaltig umstrukturiert. Das Schreiben ermöglicht seiner Meinung nach einen autonomen Diskurs, das heißt einen Diskurs, der im Gegensatz zur mündlichen Sprache nicht befragt oder angefochten werden kann, da er autorunabhängig ist.[2] Diese Distanz zwischen Inhalt und Autor bedingt, dass geschriebene oder gedruckte Texte grundsätzlich widerspenstig sind: Texte können nicht unmittelbar zur Verantwortung gezogen werden.

Die durch Schrift verursachte Distanz ist für Ong ein zentraler und - wie später zu zeigen sein wird - positiv besetzter Begriff. Während die Distanz heutzutage im Allgemeinen also als positiv auffasst, wurde sie in der Vergangenheit nicht immer so bewertet: Platon beispielsweise kritisierte eben diese Autorunabhängigkeit - neben anderen Kritikpunkten, die er im vierten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung gegen die Schrift vorbrachte.[3] Zu diesem Zeitpunkt war die Schrift bereits einige hundert Jahre[4] alt. Doch was genau kritisiert Platon an der Schrift?

3. Platons Schriftkritik

Erstens, so Platon, vermehrt Schrift nicht das Wissen des Menschen, sondern zerstört das Gedächtnis. So sagt bei Platon der ägyptische König Thamus zu Theuth, der ihm seine Erfindung der Schrift vorstellt: „[...] diese Kunst wird Vergessenheit schaffen in den Seelen derer, die sie erlernen, aus Achtlosigkeit gegen das Gedächtnis, da die Leute im Vertrauen auf das Schriftstück von außen sich werden erinnern lassen durch fremde Zeichen, nicht von innen heraus durch Selbstbesinnen. Also nicht ein Mittel zur Kräftigung, sondern zur Stützung des Gedächtnisses hast du gefunden.”[5] Die Schrift dient demzufolge nur der Erinnerung an bereits erworbene Einsicht, ohne jedoch aus sich heraus zur persönlichen Einsicht führen zu können. Für wahre Einsicht ist allerdings keine Wissensanreicherung von außen (Schrift), sondern eine Selbstbesinnung von innen notwendig.

Zweitens sieht Platon die Schrift als verdinglicht und unmenschlich an. Das Schreiben ist „ein Ding, ein hergestelltes Etwas”[6] und als solches künstlich. Zudem täuscht das Schreiben vermeintliches Wissen vor. In der Regel bedard man jedoch mündlicher Unterweisung, um sicher zu gehen, den Text wirklich verstanden zu haben. Ohne einen mündlichen Diskurs glaubt der Leser nur zu wissen. So bemerkt Thamus: „Von Weisheit gibst du deinen Lehrlingen einen Schein, nicht die Wahrheit: wenn sie vieles gehört haben ohne Belehrung, werden sie auch viel zu verstehen sich einbilden, da sie doch größtenteils nichts verstehen und schwer zu ertragen sind im Umgang, zu Dünkelweisen geworden und nicht zu Weisen.”[7]

Drittens kritisiert Platon, dass ein Text nicht befragt werden kann. Die Möglichkeit, Fragen zu stellen, gebe es nur im Dialog. Daher ist ein Text nicht nicht in der Lage, auf den Leser einzugehen, sodass es ebenfalls wieder zu Missverständnissen kommen kann: „Ebenso auch die Worte eines Aufsatzes: du möchtest glauben, sie sprechen und haben Vernunft; aber wenn du nach etwas fragst, was sie behaupten, um es zu verstehen, so zeigen sie immer nur ein und dasselbe an.”[8]

Als letztes bemängelt Platon, dass sich der Text nicht selbst gegen Kritik zur Wehr setzen kann. Vielmehr ist er auf den Autor als Verteidiger angewiesen: „Einmal niedergeschrieben, treibt sich jedes Wort allenthalben wahllos herum, in gleicher Weise bei denen, die es verstehen, wie auch genau bei denen, die es nichts angeht, und weiß nichts zu sagen, zu wem es kommen sollte und zu wem nicht. Wenn es dann schlecht behandelt und ungerechterweise geschmäht werden wird, so bedarf es immer seines Vaters, der ihm helfen sollte: denn selbst kann es weder sich wehren noch sich helfen.”[9]

Die Schwäche von Platons Schriftkritik liegt Ong zufolge in ihrer Verschriftlichung. „Um seinen Einwänden Wirkung zu verschaffen, musste er sie schriftlich formulieren.”[10] Die Schrift hat das Wort technologisiert. Doch „ist erst das Wort technologisiert, gibt es keinen effektiven Weg, dies zu kritisieren, es sei denn mit Hilfe fortgeschrittenster technischer Errungenschaften”[11]. Die neue Technologie wird also zur Kritikausübung und -verbreitung benutzt, sodass sich Platons Kritik selbst ad absurdum führt. Doch weshalb ist die Schrift als Technologie aufzufassen?

4. Das Schreiben als Technologie

Platon, so die Feststellung Ongs, hielt das Schreiben für eine „äußerliche, fremde Technologie”[12]. Dies ist für uns heute nicht mehr nachvollziehbar. Die Bedeutung, welche die Schrift in unserem Alltag spielt, ist Resultat eines langen Prozesses der Gewöhnung. Das betont auch Ong, indem er als Grund für unser Unverständnis gegenüber Platons Schriftkritik unsere Vertrautheit mit der Schrift nennt. „Wir haben das Schreiben heute derartig tief verinnerlicht [...], wie dies zu Platos Zeiten noch undenkbar war [...]. Deswegen fällt es uns schwer, das Schreiben [...] als Technologie zu begreifen.”

Schreiben ist jedoch eine Technologie, die bestimmte Werkzeuge voraussetzt, wie Flusser feststellt. „Um schreiben zu können, benötigen wir - unter anderem - die folgenden Faktoren: eine Oberfläche (Blatt Papier), ein Werkzeug (Füllfeder), Zeichen (Buchstaben), eine Konvention (Bedeutung der Buchstaben), Regeln (Orthographie), ein System (Grammatik), ein durch das System der Sprache bezeichnetes System (semantische Kenntnis der Sprache), eine zu schreibende Botschaft (Ideen) und das Schreiben.”[13] Die Komplexität des Schreibens, so Flusser weiter, „liegt nicht so sehr in der Vielzahl der unterschiedlichen Faktoren als in deren Heterogenität. Die Füllfeder liegt auf einer anderen Wirklichkeitsebene als etwa die Grammatik, die Ideen oder das Motiv zum Schreiben.”[14]

Das Schreiben technologisiert das Wort insofern, als es aus dem primären Medium Sprache ein sekundäres Medium Schrift schafft. Plötzlich sind zur Hervorbringung von Schrift technische Hilfsmittel notwendig. Schrift ist somit - anders als Sprache und die natürliche Rede - ein künstlicher Sachverhalt.[15] Im Gegensatz zum Sprechen, das jeder (nicht behinderte) Mensch automatisch und unbewusst lernt, muss das Schreiben in mühevoller Arbeit bewusst erlernt werden. In der Künstlichkeit der Schrift sieht Ong jedoch keinen Nachteil, im Gegenteil: „Genau wie andere künstliche Schöpfungen [...] ist es unschätzbar wertvoll und von wesentlicher Bedeutung für die Realisierung des ganzen humanen Potentials.”[16] Doch was genau ist Schrift eigentlich?

5. Was ist Schrift?

Bußmann definiert Schrift als ein auf einem „konventionalisierte[n] System von graphischen Zeichen basierendes Mittel zur Aufzeichnung von mündlicher Sprache”[17]. Das Metzler Lexikon der Sprache ergänzt: „Schriften konstituieren die geschriebene Form von Sprache und sind die mediale Voraussetzung für zeitliches und räumliches im Prinzip unbegrenztes Konservieren und Transportieren von Sprachprodukten.”[18]

Anhand obiger Definitionen wird deutlich, dass zwischen Sprache und Schrift ein sehr enger Zusammenhang besteht. Letztere gilt als Form des graphischen Ausdrucks der ersteren. Doch Schreiben ist weder ein „bloßes Anhängsel des Sprechens”[19] noch jedes beliebige semiotische Zeichen. Ong warnt davor, den Begriff Schrift zu trivialisieren und zu extensiv zu gebrauchen: „Nicht als einfache semiotische Zeichen aufkamen, geschah der kritische und einzigartige Durchbruch des menschlichen Bewusstseins zur neuen Welt der Erkenntnis. Vielmehr bedurfte es hierfür eines kodierten Systems sichtbarer Zeichen, durch welches ein Schreibender den genauen Wortlaut festlegen konnte, den der Leser aus dem Text würde entstehen lassen.”[20]

Um Schrift und Sprache zu verbinden, benötigt man also ein kodiertes System. Haarmann stellt fest, dass „das Problem, wie die Zeichen der Schrift mit sprachlichen Elementen verbunden werden”[21], auf zwei verschiedene Arten gelöst wurde: „Entweder man orientiert sich am Inhalt dessen, was durch Sprache ausgedrückt wird, also an der Wortbedeutung, oder man schreibt, unabhängig von der Bedeutung, die Laute der Sprache.”[22] Erstere Möglichkeit, die Orientierung am Inhalt, bezeichnet man als Logographie, die zweite Möglichkeit, also die Orientierung am Laut, als Phonographie.[23] Doch wie bildeten sich diese Alternativen heraus?

6. Die Geschichte der Schrift

Die Anfänge der Schriftkultur werden auf das Ende des vierten Jahrtausends vor Christus datiert. Bereits Zehntausend Jahre zuvor waren die ersten Höhlenmalereien entstanden.[24] Winter und Eckert weisen jedoch darauf hin, dass die Eiszeitmenschen Schrift in „magischen (und allenfalls spielerischen) Kontexten”[25] verwendet hätten: Nicht das Ziel realistischer Abbildungen, sondern viel eher die Darstellung von Visionen und Träumen seien im Vordergrund ihrer Bemühungen gestanden.[26] Ferner erlaubten es die harten Lebensbedingungen nicht, eine Schrift als Kommunikationsmittel zu entwickeln, obwohl die technischen und zeichnerischen Voraussetzungen erfüllt gewesen seien.[27] So kommen die beiden Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass das „Bedürfnis nach schriftlicher Fixierung von Mitteilungen [...] erst mit der Sesshaftigkeit des Menschen”[28] entstanden sei.

Die ersten differenzierten Schriftsysteme entwickelten sich daher wesentlich später: in Mesopotamien die Keilschrift und nahezu zeitgleich in Ägypten die Hieroglyphen. Die Entwicklung dieser beiden Schriften, so Stocker, verlief in einem „komplizierten Prozess mit wechselnden Phasen gegenseitiger Beeinflussung und Nicht-Beeinflussung”[29]. Im Laufe dieser Entwicklung vollzog sich bei den Sumerern der Übergang von einer Bilderschrift zu einer Wortschrift, d.h. also von der Piktographie zur Logographie. Bei den Ägyptern tauchte um 2800 v.Chr. erstmals die phonetische Schrift auf, hier vollzog sich daher der Übergang von der Piktographie zur Phonographie.[30]

[...]


[1] Kerlen (2003): S.31.

[2] Vgl. Ong (1987): S.81.

[3] Vgl. Hörisch (2004): S.91.

[4] Vgl. Ong (1987): S.82.

[5] Platon. In: Sloterdijk (1995): S.74.

[6] Ong (1987): S.82.

[7] Platon. In: Sloterdijk (1995): S.74.

[8] Platon. In: Sloterdijk (1995): S.75.

[9] Platon. In: Sloterdijk (1995): S.75.

[10] Ong (1987): S.82.

[11] Ong (1987): S.83.

[12] Ong (1987): S.84.

[13] Flusser (1993): S.33.

[14] Flusser (1993): S.33.

[15] Vgl. Ong (1987): S.84.

[16] Ong (1987): S.85.

[17] Bußmann (2002): S.585.

[18] Metzler Lexikon Sprache (2005): S.568.

[19] Ong (1987): S.87.

[20] Ong (1987): S.87.

[21] Haarmann (1991): S.147.

[22] Haarmann (1991): S.147.

[23] Vgl. Haarmann (1991): S.147.

[24] Vgl. Kogler. In: Hiebel; Hiebler; Kogler; Walitsch (1998): S.33.

[25] Winter; Eckert (1990): S.19

[26] Vgl. Winter; Eckert (1990): S.18.

[27] Vgl. Winter; Eckert (1990): S.20.

[28] Winter; Eckert (1990): S.20.

[29] Stocker (1997): S.21.

[30] Vgl. Kogler. In: Hiebel; Hiebler; Kogler; Walitsch (1998): S.35.

Fin de l'extrait de 18 pages

Résumé des informations

Titre
Walter J. Ongs Werk „Oralität und Literalität” im Blickpunkt
Sous-titre
Warum das Schreiben das Denken neu konstruiert
Université
University of Mannheim
Cours
Mediengeschichte
Note
1,3
Auteur
Année
2006
Pages
18
N° de catalogue
V71527
ISBN (ebook)
9783638812146
ISBN (Livre)
9783640330645
Taille d'un fichier
505 KB
Langue
allemand
Mots clés
Warum, Schreiben, Denken, Mediengeschichte
Citation du texte
Lydia Gaukler (Auteur), 2006, Walter J. Ongs Werk „Oralität und Literalität” im Blickpunkt, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/71527

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