Sprachgebrauch und Argumentationsstrukturen in Agitationstexten radikaler politischer Gruppen


Magisterarbeit, 2000

73 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Sprachkritik vs. Sprachwissenschaft: Aufgaben und Ziele linguistisch begründeter Sprachkritik
2.1 Das Verhältnis von Sprachkritik und Sprachwissenschaft
2.2 Zum systematischen Ort einer linguistisch fundierten Sprachkritik
2.3 Zum sprachkritischen Selbstverständnis dieser Arbeit

3. Die Sprache der RAF
3.1 Zur kommunikativen Situation
3.2 Die kommunikativen Ziele der RAF
3.2.1 1970 – 1992
3.2.2 1992 – 1998
3.3 Die persuasive Strategie der RAF
3.3.1 Die Texte der RAF als argumentativ strukturierte monologische Äußerungen
3.3.2 Zur Bewertung von Argumentation
3.3.2.1 Die Relevanz des propositionalen Gehalts
3.3.2.2 Der Status der Schlußregel
3.3.3 Die argumentative Struktur der RAF-Texte
3.3.3.1 (Arg.1): Moralische Legitimation des Widerstandes gegen Unfreiheit und menschenunwürdige Lebensbedingungen
3.3.3.2 (Arg.2): Beschreibung von Unfreiheit und menschenunwürdigen Bedingungen als ursächlich durch das kapitalistische System bedingte Erscheinungen
3.3.3.3 (Arg.3): Bewaffneter Kampf als angemessenste Form des Widerstandes gegen das System
3.3.3.4 (Arg.4): Rechtfertigung von Anschlägen auf Personen und Institutionen
3.3.4 Mittel der Affektsteuerung
3.3.4.1 Verwendung von Metaphern
3.3.4.2 Verwendung von Schlagwörtern
3.3.4.3 Verwendung von Plastikwörtern

4. Schlußwort

5. Bibliographie

1. Einleitung

Betrachtet man das Spektrum derjenigen politischen Gruppierungen in der Geschichte der BRD, die im Sinne von „eine extreme politische, ideologische od. weltanschauliche Richtung vertretend u. gegen die bestehende Ordnung ankämpfend“ (Baer/Wermke 2000: 1126) als radikal definiert sind, so ist die prominenteste Gruppierung dieser Art die linksgerichtete Rote Armee Fraktion (RAF), die zwischen 1970 und 1998 in der BRD aktiv war. Die RAF hat als eine der wenigen Gruppen dieser Art durch das Verfassen eines umfangreichen Textkorpus auf sich aufmerksam gemacht und soll daher im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen.

Auffällig an der Auseinandersetzung der Politik, Medien und Wissenschaft mit der RAF ist, daß es bis auf wenige Ausnahmen an einer kritischen Betrachtung der RAF-Sprache fehlt. Ein differenzierter Umgang mit dem Phänomen RAF wurde durch die emotional aufgeladene Atmosphäre der siebziger Jahre fast unmöglich gemacht. Verantwortlich dafür waren unter anderem die restriktive Gesetzgebung wie der Radikalenerlaß sowie Vorverurteilung und Hatz gegen sogenannte Sympathisanten und vermeintliche Täter durch die Medien. Die für das Selbstkonzept der RAF entscheidende Freund - Feind, Gut - Böse, Mensch - Schwein Dichotomie wurde von seiten des Staates sowie der Medien und der Wissenschaft übernommen. Kritiker beider Seiten wurden als Opportunisten, Schleimscheißer und Arschlöcher bzw. Sympathisanten abgetan und somit politisch und sozial diskreditiert. Es verwundert daher nicht, daß die wenigen Aussagen über die Sprache der RAF, die sich in Veröffentlichungen der 70er und 80er Jahre finden, eher durch eine pauschale Verunglimpfung des Gegners motiviert sind, als durch den Versuch einer möglichst vorurteilsfreien Analyse und Kritik der RAF Sprache. Beispielhaft für eine undifferenzierte Auseinandersetzung mit der Sprache der RAF ist die Aussage Günter Rohrmosers, der behauptet, daß die „Texte [des neuen politischen Terrorismus] den Eindruck sprachlicher Deformation, Verwilderung und den einer Monotonie vermitteln, die alle Züge einer geistig-kulturellen Regression an sich trägt“ (Rohrmoser 1981: 278). Auch H. Kuhns Feststellung, die Radikalen von heute würden im Hinblick auf die „Zerstörung der deutschen Sprache“ (Kuhn 1975: 17) unmittelbar an das Zerstörungswerk der Nationalsozialisten anknüpfen (Vgl. ebd.: 17), scheint programmatisch für den damaligen Stil der Auseinandersetzung mit der Sprache der RAF zu sein. Diese Art der Sprachkritik steht in einer Tradition, die aufgrund ihres wertenden Charakters Anlaß zu Kritik von seiten der strukturalistisch geprägten Sprachwissenschaft gab. Ausgehend von dieser Auseinandersetzung zwischen Sprachkritik und strukturalistischer Sprachwissenschaft entwickelte sich jedoch ein Verständnis von Sprachwissenschaft, daß auch Aspekte des Sprachgebrauchs mitberücksichtigt und so eine sprachwissenschaftlich fundierte Sprachkritik ermöglicht. In dieser Arbeit soll zunächst ein sprachwissenschaftlicher Bezugsrahmen für sprachkritische Bewertungshandlungen skizziert werden, innerhalb dessen die Sprachverwendung der RAF untersucht wird. Dabei soll von einem Sprachverständnis ausgegangen werden, das die wirklichkeitskonstituierende Funktion der Sprache betont. Die Sprache der RAF wird im Anschluß daran im Hinblick auf ihre persuasive Funktion beschrieben.

Eins der größten Probleme einer Analyse der RAF-Texte war bisher deren Unzugänglichkeit in Folge von Verboten und Beschlagnahmungen, zu deren Rechtfertigung §129aStGB diente, welcher die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung und „damit implizit auch die Publikation von Texten der betreffenden Gruppe unter Strafe stellt“ (Demes 1994: 5).[1] Noch im Jahr 1994 konnte Uta Demes für die Verfassung ihrer Inaugural Dissertation über die Binnenstruktur der RAF nur unter Schwierigkeiten in Primärliteratur, d.h. autorisierte Texte von Mitgliedern der RAF, Einsicht nehmen. Im Jahr 1997 erschien beim ID-Verlag Berlin eine Sammlung von Texten der RAF, die, ergänzt durch die im World Wide Web veröffentlichte letzte Erklärung der RAF vom März 1998, die Basis für den anwendungsbezogenen Teil dieser Arbeit bildet.

2. Sprachkritik vs. Sprachwissenschaft: Aufgaben und Ziele linguistisch begründeter Sprachkritik

2.1 Das Verhältnis von Sprachkritik und Sprachwissenschaft

Die Geschichte der Sprachkritik in der Bundesrepublik Deutschland ist geprägt vom Streit zwischen Sprachkritik und Sprachwissenschaft, der sich um die Frage der Methodik und des Sprachbegriffs dreht. Nach 1945 stand die Sprachkritik zunächst im Zeichen der Ideologiekritik. Autoren wie Victor Klemperer, Dolf Sternberger, Gerhard Storz, Wilhelm E. Süßkind und Karl Korn setzen sich in ihren Werken auf eine Weise mit der nationalsozialistischen Sprachverführung und Sprachmanipulation auseinander, die Kritik von seiten der strukturalistisch geprägten Sprachwissenschaft auf sich zog. So distanziert sich Peter von Polenz in seinem Aufsatz „Funktionsverben im heutigen Deutsch“ (1963) von einer Sprachkritik Sternberg-, Storz- und Süßkindscher Provenienz, die „darauf aus war, bestimmte Gebrauchsweisen bestimmter Wörter und Wendungen [sowie grammatisch-syntaktische Phänomene] [...] kulturkritisch, moralisch und politisch zu bewerten“ (Wimmer 1982: 291). Von Polenz sah eine solche wertende Auseinandersetzung mit Sprache als unwissenschaftlich im Sinne einer strukturalistischen Sprachwissenschaft an, da sie auf einem „veralteten oder gar falschen“ (Schiewe 1998: 243) Sprachverständnis aufbaut.

Das Sprachverständnis der Strukturalisten basiert auf der von Ferdinand de Saussure getroffenen Unterscheidung zwischen langue und parole. Da jedes individuelle Sprechen nur auf dem Hintergrund eines Sprachsystems, der langue, funktionieren kann und da das Sprachsystem im geschichtlichen Verlauf veränderlich ist, ergeben sich für eine strukturalistische Sprachwissenschaft zwei Prämissen: Erstens soll einer Beschreibung des Sprachsystems Vorrang gegenüber einer inhalts- und gebrauchsbezogenen Sprachforschung gegeben werden und zweitens gilt es, die diachrone Perspektive auszublenden, da ein Sprachsystem nur zu einem bestimmten Zeitpunkt als Ganzes beschrieben werden kann. Von Polenz erkannte allerdings an, daß sich eine fruchtbare Diskussion ergeben kann,

solange sich Sprachkritik mit Umsicht darum bemüht, alle möglichen Ursachen und Motive zu erwägen, ehe sie ein Urteil fällt. [...] Sobald aber solche Deutung von Sprache zu einer Verurteilung wird [...], müssen sich die Wege von Sprachkritik und Sprachwissenschaft trennen. Sprachkritik hat es dann nur mit Sprache als parole zu tun, ist also Stilkritik gegenüber dem Sprachgebrauch. Erhebt sie dennoch den Anspruch auf Sprache als langue, ist sie nur eine Methode der Kulturkritik (Polenz 1963b: 309).

Der langue Aspekt der Sprache ist dem strukturalistischen Sprachverständnis nach von jeglicher Kritik ausgeschlossen, da langue „ein überindividuelles Gebilde ist, das nur die Möglichkeiten des Sprechens zur Verfügung stellt, selbst aber nie in Aktion tritt“ (Schiewe 1998: 247). Dolf Sternberger wendet sich gegen die von Polenz geforderte strikte Trennung von parole und langue und der damit verbundenen Ausgliederung der Sprachkritik aus einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Sprache.

Solche Unterscheidungen, so Sternberger, könnten für begrenzte Zwecke zwar ihren guten Sinn haben, aber sie würden falsch, wenn sie zu lange festgehalten werden. Auf Ferdinand de Saussure bezogen meinte er: 'Diese Linguistik studiert jede Sprache, als ob sie gar nicht gesprochen würde, als ob sie tot wäre. [...] Die Absonderung der Sprache vom sprechenden Menschen bildet also offenbar das methodische Prinzip dieser Art Wissenschaft. Sie scheint zu verfahren wie der Sammler von Käfern und Schmetterlingen, der die Wesen abtötet und aufspießen muß, bevor er sie untereinander vergleichen kann (Ebd.: 248).

Dieser in den sechziger Jahren ausgetragene Streit zwischen einer strukturalistischen Sprachwissenschaft und einer bewußt wertend vorgehenden Sprachkritik stellt eine Zäsur in der Geschichte der Sprachkritik dar. Peter von Polenz hatte durch seine Kritik am „Wörterbuch des Unmenschen“ (Sternberger/Stortz/Süßkind [1945] 1986) der Sprachkritik „insgesamt den Boden entzogen“ und somit dazu beigetragen, daß die Sprachkritik nicht nur in der Sprachwissenschaft, sondern auch im Bereich der Publizistik diskreditiert war (Vgl. ebd.: 249). Dies kann als Grund dafür angesehen werden, daß bis heute eine Sprachkritik fortdauert, die sich, wie die oben zitierten Beispiele von Rohrmoser und Kuhn zeigen, „wenig um sprachwissenschaftliche Forschungsergebnisse kümmert und ziemlich unreflektiert vom angeblichen Sprachverfall, von Sprachbarbarei u. ä. handelt“ (Wimmer 1982: 293).

2.2 Zum systematischen Ort einer linguistisch fundierten Sprachkritik

Trotz der scheinbar unüberbrückbaren Gegensätze, die im oben skizzierten Streit offenbar geworden sind, wurde in der Folgezeit der Versuch unternommen, beide Positionen miteinander zu verbinden, um die Basis für eine sprachwissenschaftlich begründete Sprachkritik zu schaffen. So erkennt Rainer Wimmer in seinem 1982 erschienenen Aufsatz „Überlegungen zu den Aufgaben und Methoden einer linguistisch begründeten Sprachkritik“ an, daß beide Seiten „ihren Teil Recht“ (Ebd.: 292) behalten haben. Er betont, daß die kultur- und gesellschaftskritisch orientierten Sprachkritiker mit Recht auf der Wertung des Sprachgebrauchs bestanden haben, da Sprachkritik immer erst durch eine Wertung für die als konfliktträchtig erkannten gesellschaftlichen und politischen kommunikativen Zusammenhänge relevant wird. Er sieht es als Fehler an, daß sich die Sprachwissenschaftler dadurch, daß sie den Blick primär auf das Sprachsystem gerichtet und so von den individuellen (sprachlichen) Handlungen der einzelnen Sprecher abstrahiert haben, in eine Lage brachten, in der sie sprachkritische Bewertungshandlungen nicht in den Griff bekommen konnten und somit die Sprachkritik aus der Sprachwissenschaft ausblenden mußten (Vgl. ebd.: 293-295). Wie die weitere Entwicklung der Sprachwissenschaft hin zur Pragmatik zeigt, hat Sternberger mit Recht die Berechtigung der methodischen Trennung von langue und parole angezweifelt. Peter von Polenz hat später selbstkritisch seine 1963 vertretene Position revidiert und anerkannt, daß sein strukturalistischer Ansatz zu wirklichkeits- und gesellschaftsfern war. Es hätte auf Basis dieser Erkenntnis und der richtigen Analyse der von den oben genannten Sprachkritikern gemachten methodischen Fehlern eine neue Sprachwissenschaft entwickelt werden müssen (Vgl. Schiewe 1998: 249).

Rainer Wimmer skizziert 1982 ein methodisches Konzept, in dem die von Sternberger kritisierte „Absonderung der Sprache vom sprechenden Menschen“ aufgehoben wird und auf dessen Basis eine linguistisch fundierte Sprachkritik möglich ist. Sowohl er wie auch Jürgen Schiewe sehen die Aufgaben der Sprachkritik weder in einer vermeintlich objektiven Beschreibung des Sprachsystems noch in einer Kritik am individuellen Sprechen, sondern sie definieren den Gegenstandsbereich der Sprachkritik neu. Beide gehen davon aus, daß der systematische Ort der Sprachkritik zwischen den beiden von Saussure definierten Ebenen der langue und der parole anzusiedeln ist. Dieser Bereich wird Sprachnorm oder auch usage oder sozialer Sprachgebrauch genannt, und er bezeichnet eine „Gebrauchsnorm des Sprachsystems, die einerseits überindividuell ist, andererseits aber immer individuell realisiert wird“ (Schiewe 1998: 18; Vgl. auch Coseriu 1975).

2.3 Zum sprachkritischen Selbstverständnis dieser Arbeit

Die Existenz einer überindividuellen Gebrauchsnorm stellt eine wichtige Voraussetzung für verständigungsorientiertes sprachliches Handeln dar. Sie garantiert den Erfolg kommunikativer „Sinn- oder Bedeutungskonstitution“ (Wengeler 1992: 20), da diese ein sozialer Vorgang ist, in den das gesellschaftlich konstituierte kollektive Weltwissen, kommunikative und soziale Konventionen miteinfließen (Vgl. ebd.: 20). Dieses kollektive Wissen einer Sprechergemeinschaft, das letztendlich nur durch die Konventionalisierungsstufe des Sprachgebrauchs, d.h. durch die Existenz von Gebrauchsnormen wahrnehmbar ist, stellt also einerseits die Voraussetzung erfolgreicher Kommunikation dar, wird andererseits aber selber erst durch kommunikative Handlungen „intersubjektiv konstituiert“ (Ebd.: 20). Diese auf die Veränderung von Gebrauchsnormen gerichtete Funktion der Sprache ist daher der Punkt, an dem eine sprachwissenschaftlich fundierte Sprachkritik ansetzen muß. Die Verfestigungen von Gebrauchsweisen, auch Normen genannt, entstehen auf Basis eines bestimmten Denkstils und enthalten einen Impetus zur Reglementierung, da sie zur Veränderung von Handlungsmustern beitragen können. Genau diese Veränderung von Handlungs- und somit Sprach- und Denkmustern ist das Ziel öffentlicher, politischer Rede. Die Texte der RAF müssen gerade im Hinblick auf diesen Aspekt als politische Äußerungen verstanden werden, da sie sind explizit auf die Veränderung des Bewußtseins der Rezipienten angelegt. Der RAF ist es weder durch ihre Praxis noch durch ihre Texte gelungen, die ihrer Meinung nach angemessenste Wirklichkeitsauffassung und die damit korrespondierende Sprachverwendung in den Status des kollektiven Wissens zu überführen. Dies hätte die Basis für einen von der breiten Masse der Bevölkerung getragenen revolutionären Aufstand dargestellt. In dieser Arbeit soll nun mit Hilfe eines pragmalinguistischen Ansatzes geklärt werden, inwiefern die RAF versucht, die ihrer Meinung nach angemessenste Form der sprachlichen und gedanklichen Konstitution der Wirklichkeit im Bewußtsein der Rezipienten zu etablieren, mit welchen Mitteln dies geschieht und welche Faktoren für ein Scheitern dieser Bemühungen ausschlaggebend waren. Für eine Auswahl der hier zu untersuchenden Texte ist der Aspekt der Konfliktträchtigkeit des Kommunikationsbeitrags im gesellschaftlich-politischen Zusammenhang von Bedeutung. Sprachkritik im Sinne einer Sprachnormen- bzw. Denkstilkritik, die sich mit der Wechselwirkung zwischen Erkenntnis und sprachlicher Gegenstandskonstitution beschäftigt, kann nur gesellschaftlich relevant sein, wenn sie dort ansetzt, wo Sprache in die Öffentlichkeit tritt und der Sprachgebrauch bzw. die durch die Sprache vermittelten Interpretationsmuster Anlaß zur Auseinandersetzung geben. Für den Komplex RAF ist dies der Fall bei Strategiepapieren, Bekennerschreiben und diversen ereignisbezogenen Erklärungen, die daher auch im Mittelpunkt der Analyse stehen werden.

3 Die Sprache der RAF

Die RAF, entstanden gegen Ende der sechziger Jahre zur Zeit der sich auflösenden Außerparlamentarischen Opposition (APO), war eine paramilitärisch organisierte Gruppe mit politischem Anspruch. Anders als eine kriminelle Bande[2], deren primäres Ziel meist die persönliche Bereicherung ist und die selten durch das Verfassen umfangreicher Texte auf sich aufmerksam macht, formulieren die Protagonisten der RAF in verschiedenen Texten ihr sozialpolitisches Selbstverständnis und ihre politischen Ziele. Um den Sprachgebrauch der RAF angemessen beschreiben zu können, ist es daher nötig, den genuin politischen Charakter des Phänomens RAF anzuerkennen (Vgl. Wunschik 1997: 35) und ihre Texte als Form der politischen Rede zu interpretieren, deren kommunikatives Ziel mittels einer persuasiven Strategie zu erreichen versucht wird.

3.1 Zur kommunikativen Situation

Anders als in der Alltagskommunikation, die durch eine eindeutig dialogische Kommunikationssituation gekennzeichnet ist, fehlt in der von der RAF gewählten Kommunikationsform Text der Gesprächspartner, der die Geltungsansprüche einer Äußerung direkt bestreiten oder anzweifeln kann und der den Sprecher durch seine Gegenrede dazu nötigt, seine strittige Äußerung argumentativ zu erhärten. Der Text stellt also eine monologische Kommunikationsform dar, die sich durch ein wesentliches Element von der dialogischen Form unterscheidet: Während in der dialogischen Kommunikation die Strittigkeit eines Sachverhalts durch die Gegenrede des Opponenten erkennbar wird, tritt diese Strittigkeit in der monologischen Form in sehr viel indirekterer Form auf. Diese Indirektheit nötigt den Redner bzw. den Autor dazu, prophylaktisch zu argumentieren. Die Unterscheidung zwischen monologischer und dialogischer Kommunikationssituation macht im Hinblick auf die Beschreibung argumentativer Äußerungen Sinn, da sie das Augenmerk auf den Anspruch an die Leistung des Sprechers lenkt. Diese Trennung ist jedoch nur dann sinnvoll, wenn man den Unterschied zwischen den beiden Formen als eine Unterscheidung gradueller Natur versteht, auf deren Basis man den besonderen Anspruch beschreiben kann, dem monologisch kommunizierende Sprecher aufgrund der fehlenden Rückkopplung an den Oppononenten zu genügen haben. Achten diese Sprecher nicht im besonderen Maße auf die Erfüllung der sich aus dem oben beschriebenen Defizit ergebenden Ansprüche an den Sprecher, so wird es ihnen durch die Mittelbarkeit monologischer Rede schwerfallen, die sich zwangsläufig ergebenden Kommunikationsstörungen zu thematisieren und aufzuheben. Betrachtet man die beiden Kommunikationsformen jedoch unter den Gesichtspunkten einer allgemeinen Theorie der Kommunikation, so wird deutlich, daß die Unterscheidung zwischen Monolog und Dialog nur auf der „formalen, situativen Ebene“ (Weigand 1989: 40) angesiedelt ist. Sprachverwendung ist nach Weigand formal als dialogisch zu bezeichnen, wenn

der Kommunikationspartner sprachlich reagiert. Doch auch in den sog. monologischen Fällen, in denen der Kommunikationspartner nicht präsent ist bzw. keine sprachliche Reaktion von ihm erwartet wird [...] ist Sprachverwendung inhaltlich dialogisch: Sie ist immer gerichtet an einen Kommunikationspartner [...]. Eine andere Möglichkeit scheidet aus, da es keinen autonomen Sprechakt gibt. Jeder Sprechakt zielt auf einen folgenden oder verweist als ein reagierender zurück auf einen vorausgehenden (Ebd.: 40f).

Inhaltliche Dialogizität der Sprachverwendung ergibt sich demnach aus der grundsätzlichen Gerichtetheit von Sprache, die als natürliches Phänomen immer der Verständigung dient. Kommunikative Äußerungen, wie die der RAF, die unter formalen und situativen Gesichtspunkten als monologische gelten, lassen sich also genauso wie sog. dialogische Äußerungen als „verständigungsorientiertes dialogisches Handeln“ (Ebd.: 6) beschreiben. Grundsätzlich ist also eine jede monologische Äußerung (und dies gilt insbesondere für persuasiv strukturierte Äußerungen) in eine ‚dialogische‘ Situation eingebettet, denn „der monologisch agierende Redner reagiert immer schon auf Reden anderer Redner vor ihm oder hat zumindest die Reaktion des Publikums zu berücksichtigen, der Verfasser eines Textes muß prinzipiell damit rechnen, daß Gegenpositionen publiziert werden“ (Ottmers 1996: 70).

Das dialogische, verständigungsorientierte Prinzip wurde als allgemeiner Wesenszug von Sprache schon von Wilhelm von Humboldt erkannt, der feststellt: „Es liegt aber in dem ursprünglichen Wesen der Sprache ein unabänderlicher Dualismus, und die Möglichkeit des Sprechens selbst wird durch Anrede und Erwiderung bedingt“ (zitiert aus: Weigand 1989: 6). Da also die grundsätzliche Gerichtetheit von Sprache auf das Erzielen eines Konsens’ das die Möglichkeit von Sprache bedingende Prinzip ist, wird ein jeder Sprecher versuchen, seine kommunikative Äußerung so zu strukturieren, daß sie dem regulativen und konstitutiven Charakter eines solchen Prinzips genüge trägt. Jürgen Habermas bezeichnet dieses Prinzip verständigungsorientierter Sprache als „Geltungsbasis“ (Vgl. u. a. Habermas 1976: 175ff) jeglichen kommunikativen Handelns. Diese Geltungsbasis besteht in der „reziproken Anerkennung von mindestens vier GA [Geltungsansprüchen, d.V.], die kompetente Sprecher mit jedem ihrer Sprechakte gegenseitig erheben müssen: Beansprucht wird die Verständlichkeit der Äußerung, die Wahrheit ihres propositionalen Bestandteils, die Richtigkeit ihres performativen Bestandteils und die Wahrhaftigkeit des sprechenden Subjekts“ (Habermas 1973: 220). Das System dieser Ansprüche buchstabiert also einen Hintergrundkonsens bzw. die „normative Geltungsbasis“ (Kopperschmidt 1985: 103), die „jede kommunikative Verwendung von Sprache in Rede immer schon begleitet“ (Ebd.: 102) und deren Anerkennung das Prinzip vernünftiger Rede ausmacht.

Betrachtet man im Zusammenhang dieser normativen Theorie von Kommunikation den Sprachgebrauch der RAF, fallen einige beachtenswerte Aspekte ins Auge: Die RAF bedient sich der monologischen Form Text als Kommunikationsmittel. Wie in Kapitel 3.2 deutlich wird, stellt die Tatsache, daß die RAF zwischen 1970 und 1998 zahlreiche Texte verfaßt und mittels der Medien einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat, ein Zeichen für die Bedeutung der verbalen Komponente im Gesamtkontext ihrer Handlungen dar. Die kommunikativen Bemühungen der RAF sind unter anderem durch das offensichtliche Interesse gekennzeichnet, die Rezipienten mittels persuasiv strukturierter Texte von der Richtigkeit ihrer revolutionären Praxis zu überzeugen. Einen Rezipienten überzeugen, sprich ihn mittels Beweisen bzw. einer Argumentation „dazu bringen, etwas als wahr, richtig, notwendig anzuerkennen“ (Drosdowski 1989: 829), kann man jedoch nur, wenn man die oben formulierten grundlegenden Geltungsbedingungen und damit auch die prinzipielle inhaltliche Dialogizität einer monologisch-kommunikativen Handlung anerkennt. Eine Anerkennung des Dialogizitätsprinzips hätte sich in den Texten der RAF darin niederschlagen müssen, daß die theoretischen Prämissen, die dem Weltbild der RAF zugrunde liegen, zur Diskussion gestellt werden. Die Weigerung der RAF, diese Prämissen in ihren Texten zu diskutieren, ergibt sich aus ihrem Selbstverständnis als revolutionäre Avantgarde.

Die revolutionäre Avantgarde, bestehend aus den sozialistischen Arbeitern und der sozialistischen Intelligenz, habe dem revolutionären Subjekt in der BRD, d.h. dem Proletariat bzw. der Arbeiterklasse, voranzugehen (Vgl. Hoffmann 1997 (April 1971): 37). Einen Dialog mit der Arbeiterklasse über die Übertragbarkeit der marxschen Gesellschaftstheorie auf die Verhältnisse in der BRD zu führen, d.h., die Problematik dieser Übertragung in ihrer Komplexität zu diskutieren, hält die RAF für nicht angebracht, da „ihre Sprache schon deren Mitsprache ausschließt“ (Ebd.: 38). Diese 1971 zum Ausdruck gebrachte Einschätzung der intellektuellen (Un)Fähigkeit der zu befreienden Massen hält die RAF bis zu ihrer Auflösung im Jahr 1998 für richtig, denn im März 1998 ist immer noch die Rede vom reaktionär eingeschlossenen Bewußtsein, zu dem der Schlüssel zu finden sei und vom Bedürfnis nach Emanzipation und Befreiung (Vgl. RAF 1998: 14), das es zu wecken gelte. Am deutlichsten kommt die Einstellung der RAF zur Rolle der revolutionären Intelligenz und deren Verhältnis zum proletarischen Bewußtsein in der Schrift „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa“ vom Mai 1971 zum Ausdruck. Hier ist die Rede von sinnlichen Eindrücken der gegenständlichen und sozialen Umwelt, die der Mensch durch seine praktische Tätigkeit erfahre. Auf Grundlage dieser sinnlichen Erfahrung entstünden im Laufe der Zeit „gedankliche Kategorien, die die in der Natur und der Gesellschaft vorhandenen, aber den Sinnesorganen nicht unmittelbar zugänglichen Beziehungen der objektiven Umwelt widerspiegeln“ (Hoffmann 1997 (Mai 1971): 64). Im menschlichen Denken entwickle sich die Fähigkeit zur Abstraktion und zu rationalen, von unmittelbar-sinnlichen Vorstellungsinhalten abgelösten Schlußfolgerungen, deren Endglieder (Ergebnisse) in der praktischen Tätigkeit überprüft und erforderlichenfalls verworfen oder korrigiert würden. Jede Generation, so heißt es weiter, nähme in diesem Prozeß den Erkenntnis- und Erfahrungsschatz der vorangegangenen in ihr Weltbild auf und entwickle es auf dieser Grundlage weiter. Um zu neuen, gültigen Ergebnissen zu kommen, müsse jede folgende Generation mehr Erfahrungen und Resultate vorläufiger Abstraktionen in ihren Erkenntnisprozeß einbeziehen (Vgl. ebd.: 64). Das Proletariat, das ja die revolutionären Volksmassen ausmachen und somit das Rückrad und Subjekt der Revolution bilden soll, habe aber, so die RAF, aufgrund der Klassenlage nicht das Abstraktionsvermögen, das nötig sei, um zu gültigen und neuen Ergebnissen zu kommen:

Für die Klassenlage des Proletariats im Kapitalismus ist es aber kennzeichnend, daß es im Laufe seiner Anpassung an seine ökonomische Funktion im Produktionsbereich auch nicht annähernd das Erfahrungswissen und den Grad von Abstraktionsfähigkeit vermittelt bekommt, die notwendig sind, um aus den im gesellschaftlichen Bereich gesammelten Erfahrungen richtige Schlußfolgerungen ziehen zu können, die auf der Höhe ihrer Zeit sind und nicht mehr oder weniger modifizierte, längst überholte Vorstellungsinhalte vergangener Perioden wiederholen (Ebd.: 64).

Neben dem elitären Selbstkonzept der RAF als Avantgarde und dem Praxis -Postulat ergibt sich noch ein weiteres Erklärungsmuster zur anti-dialogischen Grundhaltung der RAF, das auf dem dualistischen Weltbild der RAF basiert, welches als ein weiteres Grundelement terroristischer Ideologie gilt (Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981: 44). Als Produkt der Protestbewegungen der sechziger Jahre, in deren Verlauf sämtliche gesellschaftlichen und politischen Strukturen als systemetablierend und systemerhaltend interpretiert und kritisiert wurden, tritt die RAF eben diesen Strukturen nicht nur skeptisch sondern offen feindselig gegenüber. Diese Feindseligkeit offenbart sich in der Ablehnung der wissenschaftlichen Institutionen als Horte der Theoriediskussion und –bildung und in der Ablehnung der parlamentarisch-demokratischen Kultur an sich, in der das Prinzip der formalen, situativen und inhaltlichen Dialogizität zumindest theoretisch eine axiomatische Position innehat. Sprachliche Manifestationen dieser Ablehnung etablierter gesellschaftlicher Strukturen und Ausdrucksformen finden sich in den Texten der RAF zuhauf: die stark an Mündlichkeit erinnernde Sprache ihrer Texte mit zerstückelter Syntax und umgangssprachlichen Formulierungen, die Verwendung von Schimpfwörtern und Fäkalausdrücken, die konsequent praktizierte Kleinschrift[3] sowie explizite Anfeindungen von Personen des öffentlichen politischen Lebens. In diesem Zusammenhang wird auch die prinzipielle Ablehnung des auch der monologischen Rede immanenten Prinzips der Dialogizität als Absage an einen etablierten gesellschaftlichen bzw. intersubjektiven Koordinationsmechanismus verständlich. Das Vertrauen auf die Reformfähigkeit des Systems und auf die Möglichkeit des politischen Meinungsbildungsprozesses mittels Dialog ist den Apologeten der RAF, die das System als menschenverachtend und ursächlich verantwortlich für soziale Mißstände interpretieren, zutiefst suspekt. Die Ablehnung des Dialogizitätsprinzips bestimmt den Sprachgebrauch sowie die Argumentationsstruktur und ist als solches mitverantwortlich für das Scheitern der kommunikativen Ziele der RAF.

3.2 Die kommunikativen Ziele der RAF

Zur Betrachtung der kommunikativen Ziele sollen die Texte der RAF hier in zwei Gruppen aufgeteilt werden. Diese Aufteilung ergibt sich daraus, daß die RAF im Jahr 1992 ihren bewaffneten Kampf eingestellt hat: Die nach Beendigung des bewaffneten Kampfes veröffentlichten Texte unterscheiden sich daher im Hinblick auf die kommunikativen Ziele der RAF in zweierlei Weise von den nach 1992 veröffentlichten Texten: 1) Die nach 1992 verfaßten Texte weisen nicht mehr die Oberflächenstruktur ereignisbezogener Rechtfertigungen dieses Kampfes auf und 2) haben die nach 1992 verfaßten Texte nicht mehr den agitatorischen Duktus, von dem die zuvor erschienen Texte geprägt waren.

3.2.1 1970-1992

Zwischen 1970 und 1992 war es primäres Ziel der RAF, einen von der breiten Basis der Bevölkerung getragenen revolutionären Aufstand zu initiieren. Die RAF wollte eine „pro revolutionäre Öffentlichkeit herstellen, die das Totschweigen der Befreiungskämpfe der dritten Welt überwinden könnte“ (Musolff 1996: 159). Der eigene bewaffnete Kampf sollte der Bevölkerung den Weg weisen, Beispiel sein und zur Nachahmung anregen. In den Texten, die die RAF zwischen 1970 und 1992 über Nachrichtenagenturen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat, rechtfertigt die RAF ihr Vorgehen, erklärt ihr Weltbild und ruft zur Teilnahme am bewaffneten Kampf auf. Besonders deutlich läßt sich die agitatorische Natur der Texte an den (häufig passivischen) Imperativen ablesen, mit denen 27 der insgesamt 52 zwischen 1970 und 1992 veröffentlichten Erklärungen der RAF enden. Als Beispiel sei hier die Erklärung vom 15. September 1981 angeführt, in der die RAF den Anschlag auf den Oberkommandierenden der US-Armee Kroesen rechtfertigt und die mit den Worten: „Kämpft mit uns!“ (Ebd.: (September 1981): 290) endet.

Einer öffentlichen Reflexion des ihrer Weltsicht zugrundeliegenden Theoriekomplexes weist die RAF explizit eine untergeordnete Rolle zu, denn um den eingeschliffenen Gehorsamsreflex der Bevölkerung gegenüber der bürgerlichen Rechtsordnung zu überwinden, bedarf es in ihren Augen der unmittelbaren Erfahrung der Möglichkeit des Ungehorsams. Diese Erfahrung will die RAF der Bevölkerung durch „wiederholte, bewußte und praktische Normverletzung“ (Hoffmann 1997 (Mai 1971): 88) vermitteln. Theoretische, sprich sprachliche Reflexion, könne diese „verhängnisvolle Bewußtseinsstruktur“ (Ebd.: 88) nicht aufbrechen. Als wiederholte, bewußte und praktische Normverletzung versteht die RAF dabei ihren eigenen bewaffneten Kampf. Der potentiell revolutionäre Teil der Bevölkerung sei zudem in der Lage, die Tat sofort, sprich ohne sprachliche Erläuterung, zu begreifen (Vgl. Hoffmann 1997 (1970): 24). Diese Haltung, die die RAF mit dem Begriff Primat der Praxis bezeichnet, steht jedoch in einer „rhetorischen Spannung“ (Leeman 1991: 60) zu dem offensichtlichen Kommunikationsbedürfnis der RAF, das sich in den zahlreichen Veröffentlichungen von Texten äußert. Diese rhetorische Spannung stellt für Leeman einen allgemeinen Wesenszug terroristischen Diskurses dar (Vgl. ebd.: 62-63): „Exhorting the body politic to act contains within itself the seeds of the contradiction. Terrorists are engaged in communication itself as they negatively contrast communication to action“ (Ebd. 63).

Das Primat der Praxis bildet ein „konstituierendes Element der terroristischen Ideologie“ (Fetscher 1981: 45) und ist, obwohl dieses Diktum bis 1992 seine Gültigkeit behält, als solches von der RAF hauptsächlich in den ersten Schriften thematisiert worden. Kernpunkt dieser Theorie ist das Verhältnis, in dem die revolutionäre Tat zur Bildung einer revolutionären Theorie steht. Demnach erfolgt die revolutionäre Tat nicht auf Basis einer zuvor entwickelten Theorie, sondern die revolutionäre Theorie kann laut RAF überhaupt erst auf Basis der Tat, der revolutionären Praxis, entwickelt werden. So heißt es in der Schrift „Das Konzept Stadtguerilla“ vom April 1971: „Die Klassenanalyse, die wir brauchen, ist nicht zu machen ohne revolutionäre Praxis, ohne revolutionäre Initiative.“ (Hoffmann 1997 (April 1971):: 39) Diese „Theorie der Theoriefeindlichkeit“ (Fetscher 1981: 43), die zu den „elementaren Grundvoraussetzungen terroristischen Denkens, [Sprechens] und Handelns“ (Ebd.: 45) gehört, ist laut Fetscher nur auf dem Hintergrund „der Ende der 60er Jahre nach dem Zerfall des SDS und der Fraktionierung der ‚Außerparlamentarischen Opposition‘ überbordenden Theoriediskussion verständlich“ (Ebd.: 44). Dementsprechend finden sich in den frühen Texten der RAF auch vielfach hämische Seitenhiebe auf die theoretischen Debatten der Vertreter der Studentenbewegung und anderer Sprecher der sogenannten Neuen Linken, deren theoretisches Niveau zwar als wichtige Errungenschaft im antikapitalistischen Protest (Hoffmann 1997 (April 1971): 34) gelobt wird, die von der RAF wegen der fehlenden praktischen Konsequenzen aber dennoch als Reformisten und kleinbürgerliche Intellektuelle denunziert werden. Die Auflösung der Studentenbewegung erklärt die RAF im April 1971 durch das Unvermögen, eine „ihren Zielen angemessene Praxis zu entwickeln“ (Ebd.: 36):

Es ist das Verdienst der Studentenbewegung in der Bundesrepublik und West-berlin [sic], ihrer Straßenkämpfe, Brandstiftungen, Anwendung von Gegengewalt [...] kurz: ihrer Praxis, den Marxismus-Leninismus im Bewußtsein wenigstens der Intelligenz als diejenige politische Theorie rekonstruiert zu haben, ohne die politische, ökonomische und ideologische Tatsachen und ihre Erscheinungsformen nicht auf den Begriff zu bringen sind, ihr innerer und äußerer Zusammenhang nicht zu beschreiben ist. [...] Ideologiekritisch hat die Studentenbewegung nahezu alle Bereiche staatlicher Repression als Ausdruck imperialistischer Ausbeutung erfaßt. [...] Die Studentenbewegung zerfiel, als ihre spezifisch studentischkleinbürgerliche Organisationsform, das ‚Antiautoritäre Lager‘ sich als ungeeignet erwies, eine ihren Zielen angemessene Praxis zu entwickeln, ihre Spontaneität weder einfach in die Betriebe zu verlängern war noch in eine funktionsfähige Stadtguerilla, noch in eine sozialistische Massenorganisation“ (Ebd: 34f).

An dieser Stelle wird die rhetorische Spannung zwischen der Textproduktion der RAF auf der einen und dem Praxispostulat auf der anderen Seite besonders deutlich: Die Studentenbewegung habe die (eigentlich heterogenen) gesellschaftlichen Erscheinungen auf einen Begriff gebracht, nun ginge es darum, eine dementsprechende Praxis zu entwickeln. Warum hat es die RAF dann aber für nötig gehalten, sich weiterhin sprachlich in Form von Texten mit dem „inneren und äußeren Zusammenhang“ politischer Erscheinungen zu befassen? Schließlich bezweifelt die RAF, daß sich unter den „gegenwärtigen Bedingungen“ (Ebd.: 37) in der Bundesrepublik das „Bündnis zwischen der sozialistischen Intelligenz und dem Proletariat durch programmatische Erklärungen [...] ‚schweißen‘“ (Ebd.: 37) lasse, da anders als in Rußland des Jahres 1905, wo „massenhaft Klassenkämpfe in Gang waren“ und daher die „Notwendigkeit von Klassenanalyse und Organisation“ bestand, in Deutschland ebendiese Klassenkämpfe erst zu entfalten seien, um somit den „Vereinheitlichungsprozeß“ in Gang zu setzen (Ebd.: 37). Sie geht sogar soweit, diejenigen Linken und Sozialisten, die sich dem „Studium des wissenschaftlichen Sozialismus“ hinwenden, als Opportunisten und Reformisten zu denunzieren, die zu ihren „studentischen Schreibtischen“ zurückkehrten, anstatt den „Widerstand jetzt zu organisieren“ (Ebd.: 37). Warum hat es die RAF also für nötig gehalten, ihre Praxis und ihr Weltbild dem potentiell revolutionären Teil des Volkes in einer großen Zahl von Texten zu erklären, obwohl die Praxis ja für diesen Teil des Volkes aus sich selber heraus verständlich sein soll? Erklären läßt sich dieser Tatbestand nur daraus, daß sich die RAF der wirklichkeitskonstituierenden Funktion von Sprache bewußt gewesen sein muß. Sie muß gewußt haben, daß es nur über die Etablierung einer überindividuellen Gebrauchsnorm möglich ist, ein Anspruch auf Richtigkeit der eigenen Interpretation von gesellschaftlichen Zusammenhängen längerfristig aufrechtzuerhalten. Nur so läßt sich die regelmäßige Veröffentlichung explikativer, rechtfertigender und agitatorischer Texte erklären. Es scheint daher gerechtfertigt, die Einflußnahme auf den sozialen Sprachgebrauch ihrer Rezipienten und damit verbunden die Etablierung einer sprachlichen Gebrauchsnorm als Ziel ihrer kommunikativen Bemühungen zu bezeichnen. Diese Annahme scheint besonders vor dem Hintergrund der folgenden Aussagen der RAF angemessen, in denen sie die Bedeutung der Bewußtseinsveränderung für ihren Ansatz thematisiert. So heißt es im Mai 1971:

Wir müssen also einen Angriff unternehmen, um das revolutionäre Bewußtsein der Massen zu wecken. Unvermeidlich treffen wir dabei auf den Widerstand, den das falsche Bewußtsein zur Aufrechterhaltung der Anpassung, zur Einhaltung des mühsam erworbenen seelischen Gleichgewichts in der Unterdrückungssituation mobilisiert. Dieser Widerstand – in bestimmter Weise dem mechanischen Trägheitsmoment vergleichbar – ist der Statthalter des Ausbeutersystems in den Köpfen der Unterdrückten. Die Bomben gegen den Unterdrückungsapparat schmeißen wir auch in das Bewußtsein der Massen (Ebd. (Mai 1971): 100).

Die Verwendung des Begriffs Bombe zu einer Zeit, in der die RAF ausschließlich verbal in Erscheinung getreten ist, scheint dabei metaphorisch verwendet zu werden und schließt somit die Sprache mit ein. Einen konkreteren Bezug zur Sprache als Mittel dieser Bewußtseinsbeeinflussung stellt die RAF an anderer Stelle her, an der betont wird, daß in ihren Texten die Probleme der Menschen so formuliert und dargestellt werden müssen, „daß wir von den Menschen verstanden werden, nicht nur unsere Aktionen [...], sondern auch unsere Propaganda, unsere Sprache, unsere Wörter“ (Ebd. (November 1972): 166f). Bei den Menschen, von denen hier die Rede ist, handelt es sich dabei primär um das Proletariat, das nach Einschätzung der RAF das revolutionäre Subjekt und somit die Gruppe der Rezipienten ausmachen soll. Die Propaganda, die Sprache und die Wörter müssen daher dazu in der Lage sein, die Erfahrungswirklichkeit dieser Menschen auf eine komplexitätsreduzierende und schematisierende Art und Weise darzustellen, denn die RAF traut dem Proletariat nicht die intellektuelle Leistungsfähigkeit zu, ihr eigenes abstraktes Theoriegebäude verstehen zu können (Vgl. Kapitel 3.1). Diese komplexitätsreduzierte Darstellung der konkreten Erfahrungswirklichkeit muß außerdem für das revolutionäre Subjekt sprachlich reproduzierbar sein, da nur über die Sprache Wirklichkeit wahrgenommen werden kann. Hier wird deutlich, daß die oben formulierte Annahme gerechtfertigt ist, die Etablierung einer sprachlichen Gebrauchsnorm sei kommunikatives Ziel der RAF. Ferner wird verständlich, warum für die RAF die Notwendigkeit besteht, die einzelnen Elemente dieser sprachlichen Gebrauchsnorm so zu gestalten, daß sie auch für das Proletariat nachvollziehbar und reproduzierbar sind. D.h., diese Elemente müssen komplexitätsreduzierend wirken und dazu in der Lage sein, die Erfahrungswirklichkeit mittels einer überschaubaren Anzahl von Begriffen, die auf ein geschlossenes Weltbild verweisen, darzustellen.

Abschließend soll darauf hingewiesen werden, daß die RAF mit der Verwendung des Begriffs Propaganda nicht die negativen Konnotationen verbindet, die dem Begriff in der Umgangssprache der BRD zugewiesen werden. Vielmehr verwendet die RAF den Begriff mit einer dem kommunistischen Sprachgebrauch typisch positiven Konnotation (Vgl. Strauß/Haß/Harras 1989: 305). Allerdings fällt auf, daß die RAF mit Propaganda zwar Positives konnotiert, aber ihn dennoch so anwendet, daß er mehr an den kommunistischen Gebrauch des Begriffs Agitation erinnert. In der kommunistischen Literatur wird Propaganda als Prozeß der Verbreitung „der kommunistischen Lehre, der Theorie des Marxismus-Leninismus “ (Kalnis 1966: 18) definiert. Propaganda richtet sich in diesem Sinne ausschließlich an die kommunistische Elite sowie an die akademisch gebildete Bevölkerung (Vgl. ebd.: 18) und ist explizit auf eine Darstellung der theoretischen Grundlagen ausgerichtet. Die großen Volksmassen können und müssen hingegen nur die Grundbegriffe der kommunistischen Lehre beherrschen. Diese zu vermitteln ist Aufgabe der Agitation, die sich demnach an die „großen Massen des Volkes richtet und jedesmal auf eine konkrete Frage oder Aktion konzentriert ist“ (Ebd. 17f). Diese Überlegungen scheinen auch den Texten der RAF zugrundezuliegen, die größtenteils ereignisbezogen, d.h. auf eine „konkrete Frage oder Aktion konzentriert“ sind und die explizit auf die „eigene, selbstbewußte Aktion der Massen“ (Hoffmann (Mai 1971): 59) zielen.

3.2.2 1992-1998

1992 zeichnet sich ein Bruch mit der 22jährigen Tradition des Praxis-Postulats ab. In zwei Texten kündigt die RAF das vorläufige Ende des bewaffneten Kampfes an, beleuchtet kritisch ihre 22jährige Geschichte und bestimmt die Ziele ihrer kommunikativen Bemühungen neu. Von nun an dienen die Texte der RAF nicht mehr der Rechtfertigung und der Agitation. Die RAF erkennt an, daß es ein Fehler war, die Suche nach gesellschaftlichen Alternativen nicht in ihre Politik einzubeziehen (Vgl. Hoffmann 1997 (April 1992): 411). Der Prozeß der Neubestimmung, der 1990 eingesetzt habe, sei nicht nachvollziehbar, sondern nur bruchstückhaft als Ergebnis der RAF-internen Diskussion in den Erklärungen und Briefen vermittelt worden (Vgl. ebd. (April 1992): 411). Die RAF sieht nun nicht mehr den Aufruf zum bewaffneten Kampf als primäres Ziel ihrer kommunikativen Bemühungen an, sondern möchte einen Raum aufmachen für die „seit langem notwendigen gemeinsamen Diskussionen und den Aufbau von Zusammenhängen unter den verschiedenen Gruppen und Menschen“ (Ebd. (April 1992): 411). Im August 1992 veröffentlicht die RAF einen Text, in dem sie „eine offene Diskussion unter allen [fordert], die hier um Veränderung kämpfen“ (Ebd. (August 1992): 420). Sie will sich der „Kritik stellen, über Erfahrungen reden“ (Ebd.: 421) und eine „gesellschaftliche Alternative finden“ (Ebd.: 454).

[...]


[1] 1975 wurde z.B. das Buch „Wie alles anfing“ von B. Baumann im Rahmen einer Durchsuchung des Trikont-Verlags beschlagnahmt und seine Publikation verboten. 1987 wurde zeitweilig der Vertrieb des Buches „das info, briefe von gefangenen aus der raf aus der diskussion 1973-1977“, Hrsg.: Bakker-Schut, Pieter, Neuer Malik Verlag, Kiel, 1987 untersagt.

[2] Zu der Diskussion um die Bezeichnung der RAF als „Gruppe“ oder „Bande“ Vgl. Betz, Werner, 1982. „’Gruppe’ oder ‚Bande’?“ In: Heringer (Hrsg) 1982; 198-203.

[3] Der dieser Arbeit zugrundeliegende Textkorpus von RAF-Texten enthält Texte der RAF von 1970-1996, die in überarbeiteter Form abgedruckt sind. Wie mir auf telefonische Anfrage vom Herausgeber mitgeteilt wurde, sind die Texte aus Gründen der besseren Verständlichkeit unter Berücksichtigung der Regeln zur Groß- und Kleinschreibung abgedruckt. Leider finden sich weder im Vorwort noch in den Anmerkungen Hinweise auf diese und andere editorische Änderungen.

Ende der Leseprobe aus 73 Seiten

Details

Titel
Sprachgebrauch und Argumentationsstrukturen in Agitationstexten radikaler politischer Gruppen
Hochschule
Universität zu Köln  (Institut für deutsche Sprache und Literatur)
Note
2,0
Autor
Jahr
2000
Seiten
73
Katalognummer
V716
ISBN (eBook)
9783638104708
ISBN (Buch)
9783640611843
Dateigröße
629 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Linguistik, Agitation, Propaganda, Habermas, Argumentation, Analyse, AUssagenlogik, Rote Armee Fraktion, RAF, Argumentationsanalyse, Argumentationsstruktur, Plastikwörter, Sprachkritik
Arbeit zitieren
Johannes Klaas (Autor:in), 2000, Sprachgebrauch und Argumentationsstrukturen in Agitationstexten radikaler politischer Gruppen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/716

Kommentare

  • Gast am 31.10.2008

    Empfehlung.

    Eine sehe aufschlussreiche Arbeit... Dem Autor gelingt es, die Texte der RAF als Fiktion argumentativen Handelns zu entlarven. Besonders nützlich hat sich für mich die umfangeiche Bibliografie erwiesen!! Vielen Dank,

    M. Dreier

Blick ins Buch
Titel: Sprachgebrauch und Argumentationsstrukturen in Agitationstexten radikaler politischer Gruppen



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