Die wissenschaftliche Hausarbeit im Rahmen des Promotionsaufbaustudiums beschäftigt sich aus aktuellem Anlass mit der Vereinbarkeit einer "Kompetenzforderung" und des "Religionsunterrichts". Sowohl der Begriff "Kompetenz" als auch das Phänomen "Religion" werden eingehend analysiert und anschließend auf Vereinbarkeit hin überprüft.
Inhalt
Vorwort: Einführung in Themenstellung,
Inhalt und Vorgehensweise
1. Die Ausgangslage – Bestandsaufnahme und Situationsanalyse
1.1 Religionsunterricht und Schule
1.2 Bildungsreform als Konsequenz von Schulleistungsstudien
1.3 „Outcome“ statt Input - Von Lehrplänen zu Bildungsstandards
1.3.1 Lässt sich Bildung standardisieren?
1.3.2 Zur Einführung von Bildungsstandards in Deutschland
1.4 Die neuen Bildungspläne Baden-Württembergs
1.4.1 Inhalt und Aufbau
1.4.2 Standardisierung des Religionsunterrichts
2. Religion und Kompetenz
2.1 Vom „Heiligen“ einer „kollektiven Zwangsneurose“ - Was ist Religion?
2.1.1 Allgemeine Einführung
2.1.2 Theologie und Religionskritik
2.1.3 Religion „von Außen“
2.1.3.1 Religionspsychologie
2.1.3.2 Religionsphilosophie
2.1.3.3 Religionssoziologie
2.1.3.4 Zur Funktion von Religion
2.2 Zu Herkunft und Entwicklungsgeschichte des Kompetenzbegriffs
2.2.1 Was versteht man unter Kompetenz?
2.2.2 Der Kompetenzbegriff in der Wissenschaftsgeschichte
2.2.3 Der Kompetenzbegriff in der Pädagogik
2.2.4 Der Kompetenzbegriff in der Schule
2.3 Zur Vereinbarkeit zweier Begriffe: „Religiöse Kompetenz“
3. Kompetenzformulierungen und die Frage nach religiöser Grundbildung
3.1 Die Formulierungen des baden-württembergischen Lehrplans
3.1.1 Bildungsplan 2004 - Evangelische Religionslehre
3.1.2 Bildungsplan 2004 - Katholische Religionslehre
3.2 Vorschläge aus Wissenschaft und Praxis
3.3 Die Frage nach schulischem Bedarf und Lehrbarkeit von Religion
Nachwort – Ausblick und abschließende Bemerkungen
Anhang
Abbildungsverzeichnis
Literatur- und Quellenverzeichnis
Internet- Quellen und technische Hilfsmittel:
Vorwort: Einführung in Themenstellung, Inhalt und Vorgehensweise
„Religion“ und „Kompetenz“, ein Begriffspaar, das wohl noch vor einigen Jahren niemand in direkten Zusammenhang gebracht hätte. Die Debatte der letzten Jahre, vor allem angeregt durch Schulleistungsstudien wie PISA, TIMMS oder IGLU, hat im Zuge zahlreicher Standardisierungsversuche aber auch vor dem Religionsunterricht nicht Halt gemacht. Angeregt durch die Bildungspläne Baden-Württembergs, der wohl schnellsten Umsetzung von Standardisierungsforderungen der Kultusministerkonferenz, und die darin enthaltenen Kompetenzformulierungen für den Religionsunterricht, hat mich recht früh schon die Frage danach gepackt, ob sich der Religionsunterricht als „ordentliches Lehrfach“ dem Trend der bundesweit vergleichenden Überprüfungen anschließen und diesbezüglich dem „Kompetenzwahn“ erliegen sollte. Die nicht durchweg ablehnend gemeinte Haltung gegenüber dem Kompetenzbegriff entstand auch erst im Laufe der Beschäftigung mit dem Thema „Religiöse Kompetenz“. Ausschlaggebend für die letztlich definitive Entscheidung, mich mit dem Thema in Form der vorliegenden Arbeit auseinander zu setzen, war dann die Feststellung, dass Deutschland keineswegs als Trendsetter, sondern viel mehr als eine Art „Trittbrettfahrer“ auf den Zug der Standardisierung aufgesprungen ist, ohne über ein klar definierbares Grundrepertoire an Begrifflichkeiten zu verfügen. Doch ohne Begriffe wird es auch schwierig sein, ein einheitliches Verständnis dessen zu erlangen, was mit einer Reform der Bildung in Deutschland eigentlich angestrebt werden soll. Was unterscheidet nun also Standards von Lernzielen und sind Kompetenzen etwas anderes als Qualifikationen oder Bildungsinhalte? Auf all diese Fragen findet man in den Bildungsplänen keine zufrieden stellenden Antworten.
In Anschluss an den allgemeinen Trend haben sich auch die Planungsgruppen für Evangelische und Katholische Religionslehre daran gemacht, Standards für ihre Fächer zu entwickeln und in diesem Zuge Kompetenzen auszuformulieren. Diese Tatsache allein reicht nun noch nicht aus, um sich speziell mit dem Religionsunterricht zu befassen, da er sich nur in eine allgemeine Entwicklung des Bildungssystems einreiht, um möglicherweise eben ein Fach wie jedes andere sein zu können.
Als einziges Fach[1] hat der Religionsunterricht dann jedoch von den vier allgemeinen Kompetenzanforderungen abweichend eigene, übergreifende Kompetenzen formuliert und dabei auch den Begriff der „religiösen Kompetenz“ in die öffentliche Diskussion eingeführt, um vielleicht wieder ein eigenes, eben doch von den anderen Fächern deutlich abweichendes Profil zu behaupten.
Aber was meint das Schlagwort im jeweiligen Kontext des Bildungsplans oder auch der wissenschaftlichen Veröffentlichungen? Dieser Frage möchte ich im Folgenden nachgehen und dabei versuchen, die Formulierungen auf ihre Plausibilität hin, aber auch in Hinblick auf die Übereinstimmungen mit den Vorgaben der Bildungspläne und den Grundsätzen des Religionsunterrichts prüfen. Zu diesem Zweck schien es mir notwenig in Kapitel 1 zunächst diese Rahmenbedingungen offen zu legen, an denen sich die Kompetenzanforderungen messen lassen. Deshalb wird zu Anfang das Verhältnis von Staat und Kirche und damit die rechtliche Grundlage des Religionsunterrichts in Augenschein genommen. Im zweiten Abschnitt habe ich dann versucht, den Trend der Schulleistungsstudien, der letztlich auch „Geburtshelfer“ für Begriffe wie „religiöse Kompetenz“ in Hinblick auf dessen Verwendung in Bildungsstandards gewesen ist, skizziert, um letztlich dann in die gegenwärtige Diskussion über Standardisierung und die baden-württembergischen Bildungspläne einführen zu können.
Im zweiten Kapitel der Abhandlung wird die Frage danach aufgeworfen, was eigentlich hinter dem Begriff „Religion“ steht. Auch wenn diese Frage auf den ersten Blick zur Klärung des Problems von Kompetenzanforderungen nicht unbedingt nötig scheint, ist es mein Anliegen gewesen, zu verdeutlichen, wie prägend das Vorverständnis bezogen auf den Begriffsinhalt sein kann, wenn man in Anschluss daran definieren möchte, was „religiöse Kompetenz“ ausmacht. Nachdem daraufhin die Begriffsgeschichte und –anwendung von „Kompetenzen“ eingehender erörtert wird, woran sich eine kritische Einschätzung des modernen bildungspolitischen Begriffsrepertoires anschließt, steht schließlich das Begriffskombinat an sich zur Diskussion. Kapitel 3 untersucht dessen Verwendung dann speziell in Hinblick auf unterschiedliche Formulierungen des Bildungsplanes und weiteren veröffentlichten Konzepten namhafter Religionspädagogen.
Am Ende des Kapitels wird wieder auf das zentrale Kapitel zurückgegriffen und die begriffliche Kombination von Religion und Kompetenz an Grundfragen der religiösen Bildung erneut in Frage gestellt.
Sollte es letztlich gelungen sein, die Problematik der leichtfertigen Anwendung beziehungsweise Übertragung bildungspolitischen Begriffsguts auf den Religionsunterricht deutlich zu machen, sehe ich das Ziel der Arbeit eigentlich als erreicht an. Auch wenn eine eigene Definition dessen, was „religiöse Kompetenz“ ausmacht, sicherlich einen runderen Abschluss bieten würde, werde ich darauf bewusst verzichten, um nicht erneut Begrifflichkeiten zu zementieren und Standardisierung zu betreiben.
a) Zur Themenfindung
Wie zu Anfang bereits erwähnt, entstammt mein Interesse an den neuen Bildungsplänen vor allem der darin enthaltenen Kompetenzanforderung in punkto Religion. Dennoch beginnt meine Auseinandersetzung mit Standards und Kompetenzformulierungen nicht erst mit der Veröffentlichung der neuen Bildungspläne im Bundesland Baden-Württemberg. Angefacht durch die erste Veröffentlichung der PISA- Studie war der Trend zur Kompetenzorientierung in Deutschland nicht mehr aufzuhalten. So konfrontierten fast alle Studienfächer, insbesondere aber der Fachbereich Schulpädagogik und dessen Aufgabenbereich „Medienpädagogik“ die zukünftige Lehrerschaft mit den Anforderungen der „Medienkompetenz“, wohl einer der Urheber dieser Begrifflichkeit in der breiten Öffentlichkeit. Immer aktueller wurde daneben aber auch die Forderung nach naturwissenschaftlich- mathematischen Kompetenzen und der letztlich wohl medienwirksamsten „Lesekompetenz“. Spätestens hier tauchte aber die Kritik daran auf, dass Tests auf die Überprüfung reiner Fertigkeiten wie dem Vorlesen ausgerichtet waren, wobei Kompetenz einer weiter gefassten, problemorientierten Definition bedürfe. Um diesen Sachverhalt, aus dem auch die Religionspädagogik zweifelsohne etwas lernen kann, einleitend kurz etwas darzustellen, möchte ich nun einen Exkurs in diese Debatte, die hauptsächlich in der Deutschdidaktik geführt worden ist, unternehmen:
In der Forschung beschäftigte man sich in Bezug auf das Lesen bis in die späten siebziger Jahre mit der so genannten „literarischen Sozialisation“ und versuchte herauszufinden, was Kinder und Jugendliche optimalerweise lesen sollten.
Inzwischen hat sich der Begriff „Lesesozialisation“ durchgesetzt und die Betrachtung hat sich in Richtung der Frage verschoben, was unternommen werden kann, damit Kinder und Jugendliche überhaupt lesen.[2]
Um dabei zu einem Ergebnis kommen zu können, muss man sich zunächst einmal damit beschäftigen, welche Komponenten überhaupt zum Lesen gehören beziehungsweise welche Leistungen vollbracht werden müssen, um zu lesen. Als basale Komponenten der Leseleistung nennt Rolf Oerter neben der rein visuellen Leistung der Augen auch in diesem Zuge die „Worterkenntnis, womit er die phonologische Vermittlung des visuellen Erkennens meint, sowie das so genannte „Leseverständnis“, wie er den informationsverarbeitenden Prozess bezeichnet.[3]
Letzteres geht also bereits über den eigentlichen Prozess des informationsaufnehmenden Lesens hinaus und bezieht sich auf die geistige Verarbeitung von Texten. Genauso muss man auch an den Begriff der Lesekompetenz herantreten. Lesen kann demnach nicht nur den Prozess der Aufnahme von Text durch physische und psychische Techniken bezeichnen, sondern meint auch die Verarbeitung des Aufgenommenen. An dieser Stelle kann man den Unterschied zwischen Lesefertigkeit und Lesekompetenz erkennen. Lesefertigkeit unterscheidet schlicht und einfach zwischen Lesern und Nicht- Lesern, grob gesagt also zwischen alphabetisierten Menschen und Analphabeten. Lesekompetenz hingegen bezeichnet den Unterschied zwischen geübten und ungeübten Lesern. Während es sich also bei Lesefertigkeit lediglich um Lesen als Kommunikationsmittel (Medium) handelt, bezieht sich der Lesekompetenz- Begriff auch auf das Verarbeiten von Information und demnach darauf, wie einzelne Menschen mit Texten umgehen, welche Haltung sie gegenüber einem Text einnehmen. Man unterscheidet hier verschiedene Lesehaltungen, wie zum Beispiel das überfliegende, das informierende, das unterhaltende, das einprägende, das utilitaristisch auswählende, das studierende oder erarbeitende, das kritische, das distanzierte, das schöpferische und das korrigierende Lesen. Je nachdem welche Haltung bezüglich des Lesens eingenommen wird, variieren natürlich auch Leseabsicht und –ziel. Erst wenn sich bestimmte Lesestrategien mit der zugehörigen Motivation eigenständig beim Leser verknüpfen, kann man eigentlich von so etwas wie Lesekompetenz sprechen.
Es ist dann auch möglich adaptiv zu lesen, das heißt, Lesestrategien an situative und institutionelle Gegebenheiten (z.B. die Schule) anzupassen. Neben Lesefertigkeit und Lesekompetenz tritt häufig noch die Beschreibung einer „literarischen Rezeptionskompetenz“. Darunter versteht man speziell das Wissen, das zur Teilhabe an der literarischen Kultur einer Gesellschaft befähigt.[4]
Lesekompetenz besteht also aus zahlreichen Teilfähigkeiten. Zum einen sind dies die kognitiven Fähigkeiten wie Worterkennung, Satzidentifikation und vielem mehr, die besonders abhängig von Arbeitsgedächtnis und allgemeinen Denkfähigkeiten sind, zum anderen sind es Motivationen wie Zielstrebigkeit, Ausdauer und so weiter. Zu diesen beiden Dimensionen ergänzt Hurrelmann[5] noch die Emotionen, die sich zum Beispiel in der Fähigkeit der bedürfnisgerechten Lektüreauswahl zeigen, die Dimension der Reflexionen, die vor allem die Kompetenz der Einordnung von Texten in historische, intertextuelle und persönliche Kontexte und Erfahrungen sowie deren Bewertung und möglicherweise sich anschließende Handlungsänderungen bezeichnet, und die Perspektive der Anschlusskommunikation, die darauf bedacht ist, Texte interaktiv und produktiv zu verarbeiten.[6]
„Zum prototypischen Kern von ,Lesekompetenz’ gehören [...] vor allem die kognitiven Fähigkeiten der Bildung kohärenter mentaler Textrepräsentation unter Einschluss von (Vor-) Wissen, die motivationalen und emotionalen Fähigkeiten zur Stützung dieses Prozesses, die Fähigkeiten zu seiner Reflexion und die Fähigkeiten zur Anschlusskommunikation.“[7]
Je mehr dieser Merkmale bei einem Leser zusammentreffen, desto ausgeprägter ist demnach seine Lesekompetenz. Der normative Kern von Lesekompetenz ist also in diesen Teil- Kompetenzen zu sehen und entspricht in der aktuellen Diskussion nicht mehr den spezifisch literarästhetischen und historischen Kompetenzen, die man nun vielmehr unter den Begriff der „literarästhetischen Rezeptionskompetenz“ (s.o.) fasst. Abstufungen im Bereich der Lesekompetenz sind grundsätzlich zwar möglich, können aber nicht in klarer Grenzziehung zwischen Lesekompetenz und –inkompetenz erfolgen.[8]
Dass es jedoch Unterschiede in der Ausprägung unterschiedlicher Teil- Kompetenzen gibt, die zur Lesekompetenz beitragen, ist zumindest seit PISA 2000 nicht mehr zu bestreiten. Unterschiedliche Theorien versuchen deshalb Erklärungen für diese Unterschiede zu finden. Eine davon ist die „Theorie der verbalen Effizienz“ (Perfetti), welche als Ursache der interindividuellen Unterschiede unterschiedliche Prozesse auf der Wortebene verantwortlich macht. Der sichere und schnelle lexikalische Zugriff gilt als Grundvorrausetzung guter Lesefähigkeiten. Die „Kapazitätstheorie des Verstehens“ (Just und Carpenter) sieht die Ursache der teils eklatanten Unterschiede schlicht und ergreifend in der Kapazität des Arbeitsgedächtnisses begründet, welches für die Bewältigung zahlreicher Prozesse auf Satz- und Textebene zuständig ist, indem es Teilinformationen speichert und vereinigt. Während das „Interaktiv-kompensatorische Modell“ (Stanovich) wie Perfettis Theorie der verbalen Effizienz (s.o.) von Defiziten im lexikalischen Zugriff ausgeht, allerdings deren Ausgleich durch Nutzung des Satzkontextes nicht ausschließt, macht ein weiterer Ansatz von Oakhill und Garnham globale Kohärenzbildungs- Fähigkeiten für Unterschiede in der Lesekompetenz verantwortlich. Globale Kohärenzbildung meint dabei das Anreichern von Textinformationen, sowie das Erkennen der übergeordneten Textstruktur und das Extrahieren von Textinformation. Kurz gesagt gilt hier das Vorwissen des Lesers als ausschlaggebender Faktor.[9]
Bei allen Theorien ist auffällig, dass Ursachen für Unterschiede in der Lesekompetenz ausschließlich auf kognitiver Ebene und im Bereich der Lesefertigkeiten (s.o.) gesucht werden und die anderen von Hurrelmann aufgeführten vier Dimensionen scheinbar keine Rolle spielen. Dies liegt sicherlich nicht zuletzt daran, dass sich Defizite bezüglich der Anschlussfähigkeit von Kommunikation und der Reflexion leicht auf die beschriebenen kognitiven Prozesse zurückführen lassen. Lesemotivation, schriftsprachliche Texte als etwas Bedeutungsvolles anzusehen, wäre jedoch ebenfalls evaluierbar und somit ein möglicher Faktor, der Lesende voneinander unterscheiden kann. Auch die emotionale Dimension, einen Text bedürfnisgerecht auszuwählen, bleibt leider auf der Strecke. Könnte aber nicht auch in der „falschen“ Textauswahl (z.B. in der Schule) eine mögliche Ursache für Unterschiede in der Lesekompetenz liegen? So wie die vier zuvor benannten Ansätze auch beschränkte sich PISA allerdings rein auf die kognitive Komponente.
PISA, diese Studie ist seit dem Jahr 2000 in aller Munde. Aber welches Modell von Lesekompetenz setzt PISA eigentlich voraus und welche Komponenten wurden daraufhin überhaupt untersucht? Lesekompetenz nach PISA setzt sich aus zwei großen Komponenten zusammen. Eine davon ist das Nutzen von textinternen Informationen, was zum einen durch Betrachtung des Textes als Ganzes zu einem Allgemeinverständnis führen soll, zum anderen aber auch Konzentration auf bestimmte Textteile verlangt, um unabhängige Einzelinformationen zu verstehen und diese zu ermitteln sowie Beziehungen nachzuvollziehen, um eine textbezogene Interpretation entwickeln zu können. Die zweite Komponente der Lesekompetenz nach PISA ist bestimmt durch das Heranziehen externen Wissens, das sich zum einen auf den Inhalt und zum anderen auf die Struktur des Textes bezieht und dabei hilft, über die Form des Textes zu reflektieren. Auch wenn des weiteren als Faktoren der Lesekompetenz nach PISA zu den kognitiven Grundfähigkeiten und der Decodierfähigkeit auch Lernstrategiewissen und Leseinteresse zählen, werden die beiden Letzteren nicht sehr eingehend untersucht.[10]
Zusammenfassend geht die PISA- Studie also davon aus, dass derjenige, der Informationen aus Texten entnehmen kann, Aussagen versteht und zu Deutung und Bewertung von Inhalt sowie Form in der Lage ist, lesen kann.[11]
Genau dort findet sich jedoch ein Faktor, der möglicherweise zu dem schlechten Abschneiden deutscher SchülerInnen führte. In der deutschen, auf Buch und Schrift fixierten, Lehr- Lerntradition wurde das Lesen viel zu sehr als spezifische Aufgabe des Deutschunterrichts angesehen und dort oft schon nach dem elementaren Erwerb der Lesefähigkeit auf einen kulturellen Unterricht mit Literatur fixiert. PISA begreift Lesen jedoch als Basiskompetenz einer Gesellschaft, da es für persönliche und wirtschaftliche Lebensführung sowie die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben von höchster Bedeutung ist. Bei dieser Bedeutung handelt es sich jedoch weniger um den kulturellen Faktor der Traditionen und der Ästhetik als um eine Grundfähigkeit, die Lernen in allen Bereichen erst möglich macht und zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben befähigt. Genau aus diesem Grunde, der auch eine interdisziplinäre Herangehensweise erfordert, spielten bei der PISA- Untersuchung Sachtexte eine wesentlich stärkere Rolle als literarische Texte.
Es ging hauptsächlich darum, Leseverstehen mit Wissensbeständen zu verknüpfen. Lesen wird dabei primär als Werkzeug zum Problemlösen angesehen und nicht als kreative Fähigkeit. Wichtige Dimensionen des Lesens als kultureller Praxis blieben demnach bei den Untersuchungen außen vor. Deshalb war auch für die emotionalen, motivationalen und interaktiven Dimensionen, wie sie von Hurrelmann beschrieben wurden, kein Platz.[12] Hiermit möchte ich den Ausflug in die Lesekompetenzdebatte nun auch abschließen. Was dennoch bleibt, ist die Frage nach deren Notwendigkeit.
Meines Erachtens zeigt der bereits in den neunziger Jahren einsetzende Streit um die richtige Lesekompetenz und die bis heute andauernden Bemühungen, jene bei Schülern nachweislich zu verbessern, eine beeindruckende Parallele zur noch recht jungen und durchaus auch bisher auf kleinerer Basis geführten Bildungsdebatte um „religiöse Kompetenz“. Die Frage danach, was diese Kompetenz im Inneren ausmacht, ist nämlich ebenso wenig mit Fertigkeiten zu beschreiben, wie das beim Lesen der Fall ist. Genauso wie zur Fertigkeit des Lesens auch Informationsverarbeitung und das Verstehen hinzukommen müssen, kann es nämlich auch nicht ausreichend sein, einfach nur „religiös“ zu sein, was das auch immer bedeuten mag (s. Kap. 3). Ebenso kann im Rahmen einer Kompetenz keine schwarz-weiß Unterscheidung getroffen werden, während man sie im Rahmen von Religionszugehörigkeit der Lesefertigkeit entsprechend erfolgen könnte. Ebenso, wie es streng zu unterscheidende Leseverfahren beziehungsweise –haltungen gibt, stehen sich sicherlich auch unzählige Varianten im Umgang mit Religion gegenüber. Auch in der Haltung, sei sie zweckgebunden oder intuitiv, gegenüber (einer) Religion gibt es sicherlich zahlreiche Unterschiede.
Das, was in der Deutschdebatte als „literarische Rezeptionskompetenz“ bezeichnet wurde und die Bedingungen der Teilnahme an literarischer Kultur einer Gesellschaft meint, kann ebenfalls ohne weiteres auf Religion übertragen werden, auch wenn die in beiden Fällen selbstverständlich aufbrechende Kanonfrage dabei zunächst außer Acht bleibt. Besonders interessant erscheint mir schließlich das Modell Hurrelmanns, in dem sie kognitive Fähigkeiten, Motivationen, Emotionen, Reflexion und Anschlusskommunikation als Bestandteile der Lesekompetenz aufführt. Kognitive Fähigkeiten, die nicht nur beschränkt sind auf Gedächtnisleistungen, sondern auch auf das Erkennen eines religiösen Sachverhalts zielen,
müssten doch zweifelsohne ebenso wie Motivationen, ohne die grundsätzlich kein Lernarrangement auskommen kann, auch Bestandteile einer religiösen Kompetenz sein. Man sollte auch meinen, dass Reflexion und Anschlusskommunikation mindestens im Sinne des öffentlichen Eintretens für eigene (religiöse) Ansichten unabdingbare Bestandteile „der“ im Religionsunterricht zu vermittelnden Kompetenz sind. Dass Religion und Emotion quasi Hand in Hand gehen, wenn der Unterricht nicht in rein religionswissenschaftlicher Betrachtung aufgehen möchte, ist wohl ebenfalls nicht zu bestreiten. Auffällig ist außerdem, dass die Dimension der Kognitionen auch im Bereich der aktuellen religionspädagogischen Diskussion deutlich überwiegt, was nicht zuletzt sicherlich der Standardisierungstendenz zu verdanken ist, die überprüfbare Kompetenzen fordert, deren Beschreibung sowohl für die Lesekompetenz nach „Hurrelmann- Manier“ als auch für Religion nicht leicht fallen dürfte. Vielleicht haben die Bildungskommissionen für das Fach Deutsch eben aus diesem Grund auch darauf verzichtet, in den Bildungsplänen Baden-Würtembergs „Lesekompetenz“ zwischen den allgemein formulierten Grundkompetenzen (s. 1.4.2) einzuordnen.
Für Evangelische wie auch Katholische Religionslehre wurde allerdings auf die „Sonderkompetenz“ nicht verzichtet. Das germanistische Intermezzo in diesem Vorwort sollte nicht zuletzt aus diesem Grund nicht ausschließlich dazu dienen, „religiöse Kompetenz“ in eine Reihe mit anderen fachspezifischen oder interdisziplinären Kontexten zu stellen, was in gewisser Art und Weise auch möglich wäre, sondern eben auch die Einzigartigkeit dieser Bildungs- und Fachdebatte deutlich werden lassen. Auch wenn sich Lesekompetenz allem Anschein nach also nicht in der technischen Fertigkeit des (Vor-) Lesens erschöpft, ist es zumindest möglich, eben diese klar zu bestimmen. Eine Basis, die „religiöse Kompetenz“ nicht ohne weiteres bieten kann.
Was ist Religion und wann ist man religiös und vor allem wie zeigt sich diese Religiosität nach außen? Fragen, die in einem auf bestimmte Art und Weise religiös sozialisierten Umfeld zwar oft leichtfertig beantwortet werden, aber bereits im muslimischen, jüdischen oder atheistischen Haushalt nebenan an ihre Grenze stoßen.
Aus diesem Grund wird es auch schwer möglich sein, Vergleichsstudien zu erstellen und in Anschluss daran, differierende Leistungen empirisch zu fassen und analysierend zu erforschen, wie dies im Fall der Theorien zu den Unterschieden der Lesekompetenz geschehen ist. Besonders interessant ist aber meines Erachtens auch die Feststellung, dass in Deutschland tendenziell Lesen weniger als Werkzeug zur Informationsbeschaffung und –verarbeitung sondern eher als notwendige Kulturtechnik zur Einübung von Tradition und Erkennen von Ästhetik fungiert. Bleibt zu fragen, ob dies so falsch ist, wie es im marktwirtschaftlich orientierten Vergleich dargestellt wurde. Ebenso müsste man sich fragen, ob Religion eher als Kulturgut kennen gelernt werden sollte oder ob eine „religiöse Grundbildung“ gerade das notwendige Wissen über unterschiedliche „Techniken“ im Umgang mit Religionen beinhalten muss. Man könnte diesbezüglich auch Diskussionen über die wesentliche Bezugsdisziplin (Theologie, Philosophie, Religionswissenschaft usw.) der Religionspädagogik und des Religionsunterrichts eröffnen. Auf all diese Verästelungen werde ich aber in den Hauptteilen dieser Arbeit noch näher zu sprechen kommen.
Wichtig an dieser Stelle war es mir, zu zeigen, wo die Ansatzpunkte der Beschäftigung mit der Formulierung „religiöse Kompetenz“ für mich lagen und welch außergewöhnliche Rolle dieser Ausschnitt aus der aktuellen Bildungsdebatte meiner Meinung nach einnimmt. Ein weitaus pragmatischerer Grund für die Aufnahme der Arbeit lag aber auch in der Tatsache, dass das Thema bisher relativ unberührt geblieben ist, obwohl das Wort Kompetenz, unter anderem auch mit dem zu diskutierenden Zusatz, durchaus häufig auftaucht. Der Nachteil der spärlichen Quellenlage wurde meines Erachtens durch den Reiz eines nur verhalten angetasteten Themas entschädigt, das zudem auch eine Art autobiographische Auseinandersetzung mit meinem aller Wahrscheinlichkeit nach zukünftigen Arbeitsfeld als evangelischer Religionslehrer darstellt.
b) Methodisches Vorgehen
Da Arbeitsweise und wissenschaftliche Methoden durch die im vorangegangenen Teil beschriebenen thematischen Prozess eigentlich schon vorgezeichnet wurden, soll dieser Abschnitt nun nur noch in Kürze die Vorgehensweise meiner Arbeit skizzierend verdeutlichen.
Ausgehend von einer Analyse der Lehrpläne Baden-Württembergs für die Fächer Evangelische und Katholische Religionslehre steht die Frage nach Standardisierungsversuchen im Religionsunterricht und dabei zentral die Diskussion der Kompetenzanforderung „religiöse Kompetenz“ im Zentrum der vorliegenden Untersuchung. Nach Findung einer Problemstellung und Schilderung der Ausgangslage widme ich mich zunächst den unterschiedlichen Definitionen des Religionsbegriffs.
Diesen Schritt, den ich eigentlich erst an späterer Stelle platziert hatte, stelle ich den weiteren Überlegungen deshalb voran, weil es mir im Nachhinein logischer erschien, auch mein eigenen Verständnis diesbezüglich zu klären, bevor ich zu den Überlegungen übergehen konnte, ob und inwiefern eine Kombination dieser Vorstellung mit anzustrebender Kompetenz sinnvoll sein kann.
Anschließend stand dann die Beschäftigung mit der Anwendungsgeschichte des Kompetenzbegriffs auf dem Plan, um schließlich in einer dritten begrifflichen Auseinandersetzung beide Elemente wieder aufgreifen und deren Kombination dahingehend prüfen zu können, ob sie den intendierten Deutungen der beiden Einzel- Begrifflichkeiten noch gerecht wird oder zwangsläufig zu einer Verengung beziehungsweise Veränderung führen muss. Dies geschieht zum Ende dann anhand unterschiedlicher Formulierungsbeispiele, die versuchen, religiöse Kompetenz, religiöse Grundbildung oder Ähnliches für die Schulpraxis zu definieren.
Nach Sichtung und Vergleich verschiedener Begriffsdefinitionen findet an dieser Stelle also eine Darstellung exemplarischer Veröffentlichung zur Füllung der fachspezifischen Kompetenz statt, deren Inhalte sowohl am begrifflichen Background als auch an den Bildungsplanvorgaben zu messen sein werden. Eine arbeitsbegleitende Aufgabe wird es dabei stets sein, Vermutungen dahingehend anzustellen, worin der Grund für die Einführung des problematischen Begriffspaars „religiöse Kompetenz“ durch die entsprechenden Kommissionen lag und ob so etwas wie eine für alle SchülerInnen gültige, von Konfessionen unabhängige Minimaldefinition dessen denkbar ist, was als elementare Kompetenz bezeichnet werden könnte.
Um den Arbeitsvorgang und die Verortung der Ergebnisse anschaulich werden zu lassen, habe ich zusätzlich zur verbalen Einleitung die folgende Abbildung erstellt.[13]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb: 2 Schnittmenge „religiöse Kompetenz
1. Die Ausgangslage – Bestandsaufnahme und Situationsanalyse
Welche Rolle spielt der Religionsunterricht in Deutschland? Dieser Frage möchte ich in dem nun folgenden einleitenden Teil der Arbeit auf eine bestimmte Art und Weise nachgehen. Weniger die Begründung des schulischen Religionsunterrichts aus Schülerbedürfnissen[14] oder kultureller Notwendigkeit ist allerdings das zu verfolgende Anliegen, ebenso bleiben empirische Erfassungen in dieser Abhandlung außer Acht. Ziel des Einleitungsteils soll vielmehr sein, rechtliche Grundlagen und die Stellung des Religionsunterrichts in der Schule zu dokumentieren. Neben der Feststellung des Status quo soll aber auch der Stellenwert des Faches in der aktuellen Bildungsdiskussion bestimmt werden. Dazu wird geschildert, um was es sich bei den Bildungsstudien alias PISA, IGLU oder TIMMS handelte, die einen neuen Trend in Deutschland ausgelöst haben, mit dem auch zahlreiche neue Begrifflichkeiten unsere Bildungspläne eroberten. Daran anschließend möchte ich einen Blick in diese neuen Bildungspläne des Bundeslandes Baden-Württemberg werfen, das in einer Vorreiterrolle neue Wege eingeschlagen hat und damit den Beschlüssen der Kultusministerkonferenz besonders eifrig folgt. Hierbei soll vor allem die Standardorientierung als Nachfolge der Lernzielorientierung in den Blick geraten. Speziell mit Blick auf den Religionsunterricht schließt das Kapitel mit einer Beschreibung der Standardisierung in den Bildungsstandards für den Religionsunterricht, der in Baden-Württemberg in Absprache mit den Religionsgemeinschaften als katholischer, evangelischer und jüdischer Religionsunterricht in konfessioneller Trennung erteilt wird. Auch so genannte „Alternativfächer“ sollen dabei berücksichtigt werden.
1.1 Religionsunterricht und Schule
„Der Religionsunterricht ist ein obligatorisches Unterrichtsfach, von dem Schüler(innen) sich abmelden können“[15], mit einer solch kurzen und prägnanten Aussage bringt Christian Grethlein den Stellenwert der Religionslehre in seinem aktuellen Lehrbuch zum Ausdruck und stellt damit die rechtliche Situation an öffentlichen deutschen Bildungseinrichtungen dar.
Im Grundgesetz verankert sind nämlich zum einen die Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 4 GG) und zum anderen die Anerkennung des Religionsunterrichts als „ordentliches Lehrfach“, das in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt werden soll (Art. 7 Abs. 3 GG).[16] Während damit die Grundlage des „Obligatorischen“ gesichert ist, macht die Freiheitszusage in Artikel 4 eine Abwahl ebenso möglich, wie die Tatsache, dass Erziehungsberechtigte das Entscheidungsrecht bezogen auf die Teilnahme ihrer Kinder am Religionsunterricht besitzen (Art. 7 Abs. 2). Auch Lehrer dürfen entgegen sonstiger Praxis nicht gegen ihren Willen zum Unterrichten des Bekenntnisfaches verpflichtet werden.[17]
Neben der Achtung des Staates vor der Religionsfreiheit der Bürger ist wohl vor allem die Selbstbegrenzung des Politischen, das in einem säkularen Staat religiöse Fragen zugunsten einer Gewaltenteilung mit den Religionsgemeinschaften ausspart, Grund für diese Regelung, auf die auch die neuen Bildungspläne bereits in den Leitgedanken hinweisen. Beispielhaft sei hier aus den Leitgedanken zur Evangelischen Religionslehre aus dem Bildungsplan Hauptschule/ Werkrealschule Folgendes zitiert: „Der Religionsunterricht ist nach Art. 7 Abs. 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland und nach Artikel 18 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg ordentliches Lehrfach, das von Staat und Kirche gemeinsam verantwortet wird.“[18]
Damit bezieht sich der Bildungsplan ausdrücklich auch auf die Landesverfassung und unterstreicht zusätzlich die Bildungshoheit der Länder.
Die Bundesgesetze von 1949, darunter natürlich auch der Gleichberechtigungs- Grundsatz in Artikel 3 GG, sowie sämtliche Länderverfassungen garantieren Schülern das Recht auf religiöse Bildung[19] und schreiben den Religionsunterricht als „ordentliches Lehrfach“ fest. Diese Einordnung, die noch aus der Weimarer Reichsverfassung stammt, verpflichtet die Schulträger[20] zur Einrichtung des versetzungsrelevanten Unterrichtsfachs und dazu, für
Personal- und Sachkosten aufzukommen. Ziele und Inhalte werden allerdings von den zuständigen Religionsgemeinschaften festgesetzt, sofern sie den allgemeinen Erziehungszielen des Staates und der Struktur der jeweiligen Schulart nicht zuwiderlaufen.[21]
Besonders diese säkulare Kooperation von Kirche und Staat ist mit Blick auf die Lehrplanentwicklung überaus interessant, sofern man den „Sonderweg“ der Religions(lehr)pläne daran messen müsste, ob sie den allgemeinen Erziehungszielen noch entsprechen (können). Die Verknüpfung staatlicher Zuständigkeit und der Verantwortung der Religionsgemeinschaften führt auch zur Praxis der Einsetzung von Lehrkräften durch „vocatio“ auf evangelischer und „missio canonica“ auf katholischer Seite, die von den zuständigen Religionsgemeinschaften verliehen werden. Ausnahmen bezüglich des konfessionellen Religionsunterrichts sind jedoch in manchen Bundesländern durchaus zu konstatieren.
Durch spezielle Regelungen, die teilweise auf Gesetzen beruhen, welche bereits vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes Geltung hatten (z.B. Art. 141 GG, „Bremer Klausel“) und deshalb zu Sonderregelungen im Umgang mit den Religionsgemeinschaften führen, finden sich in Bremen, Berlin und Brandenburg.[22] Auch umgangssprachlich oft als „Ersatzfächer“ bezeichnete Angebote wie Ethik- oder Philosophieunterricht, „Werte und Normen“ und so weiter sind keine Seltenheit mehr und bieten Eltern religionsunmündiger Kinder oder den Jugendlichen nach Erreichung des entsprechenden Alters (15) die Möglichkeit, bekenntnisgebundenen Religionsunterricht nicht nur zu meiden, sondern auch durch ein alternierendes Unterrichtsangebot zu ersetzen.[23]
Auch die Stimmen von Religionspädagogen, Religionswissenschaftlern und Erziehungswissenschaftlern, die ein gemeinsames Fach auf religionswissenschaftlicher Basis fordern, mehren sich in ganz Deutschland. Auf der anderen Seite ist die Klage über die zunehmend geringer werdende christliche beziehungsweise konfessionelle Substanz des Religionsunterrichts in der Öffentlichkeit nicht zu überhören. In dieser Lage, in der eine Spannung
zwischen notwendigem Religionsunterricht und der Suche nach geeigneten, weniger konfessionell geprägten Alternativen besteht, ist das „ordentliche Lehrfach“ immer mehr in Begründungsnot geraten und muss versuchen, seinen noch weithin selbstverständlichen Status zu verteidigen. Grethlein[24] argumentiert zum Beispiel pädagogisch (Bildungsgehalte des Religionsunterrichts sprechen Jugendliche besonders an), theologisch (mit Verweis auf den biblischen Pluralismus) und politisch (keine staatliche Kontrolle, daher Widerstand gegen ideologische Uniformierung möglich) für die Beibehaltung des weit verbreiteten Modells konfessionellen Religionsunterrichts.
Religionsunterricht muss demnach bei derzeitiger Gesetzeslage immer daran gemessen werden, ob er beiden Trägern, Schulen und Kirchen, noch gerecht werden kann. So ist zum Beispiel die Frage zu stellen, ob der konfessionell orientierte Unterricht angemessen seinen Beitrag zu den Funktionen von Schule leistet und demnach sowohl fürs Leben qualifiziert, erzieht und sozialisiert als auch selektiert und zur Persönlichkeitsbildung beiträgt. Besonders die Funktion der Sozialisation und Erziehung in Form von „Werterziehung“ schreibt man hierbei gerne dem Religionsunterricht zu, wobei genau an dieser Stelle auch die Ansprüche der ebenfalls auf Norm- und Wertfragen ausgerichteten Fächer, wie beispielsweise des Ethikunterrichts, erwachen. Stärkere Probleme hat der Religionsunterricht bezüglich der Allokations- und Selektionsfunktion. Bei Personalitäts- und Bildungsfunktion verweisen Religionspädagogen gerne auf die begriffsgeschichtlich von der Gottesebenbildlichkeit abstammende Definition von Bildung als Eigentätigkeit des Subjekts im Lernprozess.[25]
Genau dieser Bildungsbegriff, in dem die eigentliche Unverfügbarkeit von Bildung begründet liegt, welche sich gegen jede Verzweckung von pädagogischen Prozessen wehrt, stellt aber in Hinblick auf überprüfbare Bildungsstandards ein Problem im Verhältnis von Schule und Religionsunterricht oder auch von Bildung und Schule dar.[26]
Zwischenresümee:
Ziel dieses Unterkapitels war es, auf die gesetzliche Verankerung des Religionsunterrichts an den meisten staatlichen Schulen Deutschlands aufmerksam zu machen und damit dessen Verpflichtung zur Teilnahme und Befolgung des allgemeinen Bildungsauftrags und damit in Einklang stehender Reformen zu verdeutlichen. Religionslehre ist eben auch nur ein Fach wie jedes andere!
Ziel des Unterkapitels war aber auch, in der Geschichte der nunmehr seit dem 16. Jahrhundert praktizierten „rex mixta“[27] in gemeinsamer Verantwortung von Staat und Kirche für den Religionsunterricht Schwierigkeiten und Ausnahmeregelungen aufzudecken. Keine schulische Einrichtung ist wohl so umstritten wie die des konfessionellen Unterrichts in oder über Religion, weshalb schon Lehrergemeinschaften um die Wende zum 20. Jahrhundert dessen Ersetzung durch einen „Sittenunterricht“ forderten. Bereits 1909 wurde dem bekenntnisgebundenen Religionsunterricht eine Legitimationskrise konstatiert. Dennoch schrieb die Weimarer Reichsverfassung 1919 die bis heute anhaltende Verhältnisbestimmung fest. Aber auch die Freiwilligkeit der Teilnahme und die Freiwilligkeit der Erteilung, die das Grundrecht der Religionsfreiheit sichern, sind Bestandteile der heutigen Gesetzeslage und lassen das Fach zu einem Unterrichtsangebot werden, das eben nicht alle Schüler erreicht.[28] Religionslehre ist eben doch kein Fach wie jedes andere!
Bedenkt man außerdem, dass die öffentlichen Bekenntnisschulen erst seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts weitgehend durch „christliche Gemeinschaftsschulen“ abgelöst worden sind, die sich aber bis heute auf christliche Grundwerte verpflichten, ist das eine weitere Bekräftigung dafür, dass bei weitem keine Einigkeit über die Behandlung des Religionsunterrichts in der Schule besteht.[29] Irgendwie gehört er eben einfach unabdinglich dazu, passt aber auf der anderen Seite wieder nur schwer in das Selbstverständnis der Bildungsinstitutionen eines säkularen, wie jedoch deutlich wurde keineswegs laizistischen Staates in Europa.
Die Spannungen, die sich eigentlich auf der gesamten Ebene der Gesellschaft im Verhältnis zum Religiösen zeigen, haben in unserem als „postmodern“ geltenden Zeitalter des unbegrenzten Pluralismus auch dazu geführt, dass die herkömmlichen Religionsgemeinschaften mit einer Mehrzahl von Deutungssystemen konkurrieren müssen und kirchlich verfasste Religion immer stärker in den Hintergrund tritt, was selbstverständlich auch die Ansprechpartner für die Schule im diffusen Individualismus verschwimmen lässt und schon allein deshalb langfristig einen gemeinsam verantworteten Unterricht von Staat und „Kirchen“ erschwert.[30]
Die „bleibende Spannung des Religionsunterrichts zum Lernort Schule und zu den allgemeinen staatlichen Erziehungs- und Bildungszielen“[31] ist also ein erster Ansatzpunkt, der als Ausgangslage für die Diskussion der Standardisierung zu berücksichtigen ist. Bemühungen, solche Spannungen nicht weiter zu vertiefen, aber auch der Versuch eben gerade das Besondere des Unterrichtsgegenstandes „Religion“ heraus zu heben, stehen meines Erachtens auch hinter den Formulierungen der neuen Bildungspläne Baden-Württembergs. Auf diesem Hintergrund werden die Entscheidungen der „Lehrplankommissionen“[32] im Folgenden zu reflektieren sein.
1.2 Bildungsreform als Konsequenz von Schulleistungsstudien
„Die PISA- Lüge“, so ist ein Aufsatz im diesjährigen Jahresheft des Friedrich-Verlags überschrieben, in dem harte Kritik an den sogenannten Bildungsstudien geleistet wird, die sich vor allem auf die Annahme bezieht, dass Bildung und wirtschaftliches Wachstum proportional zueinander verlaufen würden.[33]
In Einsprüchen gegen die „technokratische Umsteuerung des Bildungswesens“[34] haben ganze Zusammenschlüsse von namhaften Hochschullehrern darauf hingewiesen, dass es eine Illusion sei, zu glauben, man könne das Bildungssystem mit betriebswirtschaftlichen Mustern in den Griff bekommen. Damit würden nur Schulen von weniger erfolgreichen Schülern entlastet.[35] Doch was ist PISA eigentlich und warum hat die Studie bei ihrem ersten Erscheinen in Deutschland schon für eine Reform der Bildungspläne gesorgt?
Im Oktober 1997 beschloss die Kultusministerkonferenz, das deutsche Schulsystem in wissenschaftlichen Studien dem internationalen Vergleich zu unterziehen.[36]
Das „Programme for International Student Assesment“ ist ein solcher Versuch Schülerleistungen im internationalen Vergleich zu erfassen. Er wird von der Organisation für wirtschaftliche[37] Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) durchgeführt und soll Anhaltspunkte für Verbesserungen von Unterricht liefern. Die ausschlaggebende Studie für die aktuellen Reformbemühungen im Jahr 2000 erfasste „Lesekompetenz“, „mathematische Grundbildung“ und „naturwissenschaftliche Grundbildung“.[38] Hinzu kam außerdem die Dimension der „fächerübergreifenden Kompetenz“. Außer Acht blieben bei PISA bisher Aussagen zu geisteswissenschaftlichen, ästhetischen oder kulturhermeneutischen Bereichen der Bildung, zu denen auch religiöse Grundbildung zu rechnen wäre. Ebenso verfuhr übrigens auch die EU- Kommission im Jahre 2002, die „Benchmarks“ für die Bildungssysteme der europäischen Mitgliedstaaten entwickelte.[39] Demnach scheint religiöse Erziehung sowie die Werteerziehung tendenziell eher im Hintergrund zu stehen, was sich auch in den Empfehlungen zeigte, die das „Forum Bildung“ in Anschluss an PISA im Jahr 2001 vorlegte. Diese Ausgrenzung ist möglicherweise auch der internationalen Reichweite von Vergleichen à la PISA zu verdanken, die laizistische Länder wie Frankreich natürlich ebenfalls berücksichtigen müssen. Ohne an dieser Stelle weit ausschweifen zu wollen, bleibt jedoch anzumerken, dass gerade unter den Eindrücken des religiös- motivierten Terrorismus, zu den Schlüsselerlebnissen zählt sicherlich der 11. September 2001, religiöse Bildung, in welcher Form auch immer, keineswegs unwichtig ist.[40] Sieht man sich außerdem die 1973 formulierten, allgemeinen Bildungsziele der Schule an, an denen die Kultusministerkonferenz auch im Jahre 2005 noch festhält, erscheint die Ausgrenzung des im weitesten Sinne religiösen und wertebasierten Bereichs doch als äußerst fragwürdig:
„Die Schule soll Wissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten (i.S. von Kompetenzen) vermitteln, zu selbstständigem kritischem Urteil, eigenverantwortlichem Handeln und schöpferischer Tätigkeit befähigen, zu Freiheit und Demokratie erziehen, zu Toleranz, Achtung vor der Würde des anderen Menschen und Respekt vor anderen Überzeugungen erziehen, friedliche Gesinnung im Geiste der Völkerverständigung wecken, ethische Normen sowie kulturelle und religiöse Werte verständlich machen, die Bereitschaft zu sozialem Handeln und zu politischer Verantwortung wecken, zur Wahrnehmung von Rechten und Pflichten in der Gesellschaft befähigen, über die Bedingungen in der Arbeitswelt orientieren.“[41]
Im Religionsunterricht werden natürlich auch „Kompetenzen“ entwickelt, die in bestimmten Lebensfeldern von Bedeutung sind und die auch in der vorigen Aufzählung zur Sprache kamen, zum Beispiel Fähigkeiten zur Positionierung in existentiellen Fragen, die aus Sachgründen nicht zu beantworten sind, zum Aushalten weltanschaulicher, religiöser und ethischer Differenzen oder zum Respekt und zur Toleranz gegenüber Andersdenkenden.[42]
Nun aber zurück zur Bestandsaufnahme: In Deutschland waren an der PISA- Studie insgesamt 220 ausgewählte Schulen beteiligt, in denen von Mai bis Juni 2000 durchschnittlich 23 zufällig ausgewählte Schüler an den zweitägigen Tests teilnahmen. Das verheerendste Ergebnis war dann die Tatsache, dass 15 von 31 teilnehmenden Ländern beim Lesen deutlich besser abgeschnitten hatten als Deutschland und zudem nur fünf Länder überhaupt deutlich schlechtere Resultate aufwiesen. Auch in anderen Bereichen gehörten die Deutschen nur zum Mittelmaß.[43] Daraus folgerte die Kultusministerkonferenz, dass die bisher praktizierte „Input- Steuerung“, also die Lehrplanvorgaben von Inhalten und Zielerwartungen nicht zu den erwünschten Ergebnissen im Bildungssystem führt. Festlegung und Überprüfung zu erwartender Leistungen sollten demnach unbedingt hinzukommen.[44]
Die immer wieder neu aufkommenden, hauptsächlich quantitativ vergleichenden Studien, wie beispielsweise auch die Grundschuluntersuchung IGLU, bei der Deutschland leicht besser abschnitt als bei PISA, oder die naturwissenschaftlich- mathematisch orientierte Studie TIMMS, sind allerdings keineswegs etwas erschreckend Neues. Bereits 1973 wurde eine OECD- Studie veröffentlicht, die Deutschland ein mangelhaftes Bildungswesen bescheinigte und zu Qualitätsdiskussionen führte. Nicht zuletzt deshalb ist auch ab und an die Rede von „Deja-vu-Erlebnissen“[45], die an die Testeuphorie der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts erinnert.[46]
Ganz ähnliche Fragen hatten damals zur Revision des Curriculums geführt. Der Ansatz, der damals Fachsystematiken durch Situationsorientierung und das Abarbeiten „epochaler Schlüsselprobleme“ (Klafki) ersetzen wollte, hat jedoch an den Fachdomänen weitgehend
nichts geändert außer der Anordnung von Lehrplänen nach dem Modell eines Spiralcurriculums, in dem bestimmte Themen in einer Art „hermeneutischer Spirale“ immer wiederkehren.[47]
Die Fragen danach, was Schüler können sollen und was sie wirklich können, sind nach der neuesten Welle an Schulleistungsmessungen nun für eine Bildungsreform wieder wesentlich geworden, was sich daran zeigt, dass die Kultusministerkonferenz bereits im Dezember 2001 beschloss, verbindliche Bildungsstandards und ergebnisorientierte Evaluationen bundesweit einzuführen.[48]
1.3 „Outcome“ statt Input - Von Lehrplänen zu Bildungsstandards
Dieses Unterkapitel soll nun dazu dienen, zunächst den bereits vielfach verwendeten Begriff der Bildungsstandards und die damit verbundenen Hoffnungen und Probleme zu erläutern. Anschließend folgt ein historischer Abriss zur Einführung von Bildungsstandards in Deutschland.
1.3.1 Lässt sich Bildung standardisieren?
Was versteckt sich hinter Standards, „dem neuen bildungspolitischen Heilswort“[49] eigentlich? Während unter dem Schlagwort umgangssprachlich häufig nichts anderes als heimliche, oft unbewusste Zielvorgaben vermutet werden, die etwas Bestimmtes zur Norm erklären, formuliert man im Bildungswesen „Qualitätsstandards“. Diese legen fest, welche Kompetenzen bei Schülern zu einem gewissen Zeitpunkt vorhanden beziehungsweise welche Inhalte gelernt worden sind. Überprüfbare Leistungsniveaus, die in einem Kerncurriculum des Bildungsplans formuliert werden, sollen für einen bestimmten Bildungsgang Verbindlichkeit besitzen und Bildungsqualität steigern.[50] Ob Standardisierung aber auch wirklich für qualitative Bildung sorgt, ist keineswegs unumstritten. Bereits 1860 tauchte der Begriff „Standard“ in England auf, wo er später dazu diente, Lehrerhandeln nicht direkt und explizit, sondern lediglich anhand der erreichten Ergebnisse der Schülerschaft zu bewerten. Die Kontrollinstanz wurde schließlich als „Office for Standards in Education“ (OFSTED) unter der Regierung Magret Thatchers institutionalisiert und fand unter anderem auch in den USA Nachahmer.
Auch in den skandinavischen Ländern wurde das Konzept etabliert, wenn auch mit deutlich weniger Leistungsdruck. Ein Zusammenhang von Standards und Bildungsqualität müsste jedoch, stärker als geschehen und in Deutschland vorgezeichnet, systematische Schul- und Unterrichtsentwicklung betreiben, um nicht bei der technischen Überprüfung von Ergebnissen stehen zu bleiben.[51] Bildungsqualität sollte sich demnach immer auch auf den Prozess, also beispielsweise auf Unterrichtsformen und -methoden beziehen und kann nicht nur Bildung in Form von Wissen oder Können als Endprodukt anzielen. Zu bezweifeln ist nämlich, ob ein Mensch schon dann gebildet ist, wenn er vorgegebenen Standards entspricht. Versteht man nicht unter Bildung auch etwas Einzigartiges, das sich in jedem Schüler auf andere Weise vollzieht, und wäre es nicht wünschenswert, wenn jeder Mensch sein eigener Standard sein dürfte? Dieser romantische Bildungsbegriff scheitert natürlich an der Selektionsfunktion der Schule, aber vielleicht wäre es dann zumindest besser von Leistungsstandards (anstatt Bildungsstandards) zu sprechen, die operationalisierbar sind, um das Gemenge von Bildung und Standardevaluation zu vermeiden.[52]
Bildungsstandards sind „normative Vorgaben für die Steuerung von Bildungssystemen“[53], was auch den Zweck ihrer Einführung verdeutlicht, nämlich die Verbesserung des Bildungssystems oder besser dessen internationalen Ansehens. Sind sie dann aber nicht einfach das, was man noch vor kurzem als „Lernziele“ bezeichnete? Tatsächlich ist festzustellen, dass sich hinter dem Begriff des Standards sehr oft Lernzielformulierungen wieder finden, die sich von denen ihrer bildungsgeschichtlichen Vorgänger nur im Alter unterscheiden. Dieser Meinung sind auch nicht wenige Pädagogen, die Standards zum Beispiel als „Lernziele in anderer, ungleich komplexer Form“[54] bezeichnen und ihnen Nichtbeachtung seitens der Lehrer prognostizieren.[55] Und dabei nahmen die Kultusminister der Bundesländer doch an, dass Bildungsstandards „die Unterrichtsplanung im Hinblick auf definierte Leistungserwartungen, die diagnostische Kompetenz der Lehrerinnen und Lehrer, den Umgang mit Heterogenität, die Evaluation von Unterricht durch interne und externe Verfahren“ aber vor allem auch „die Arbeit mit den Lehrplänen“ fördern.[56]
Des weiteren bleibt zu befürchten, dass Standards, sollten sie doch wahrgenommen werden, nicht als Mittel zur Leistungsförderung, sondern eher als Selektionsinstrumente Verwendung finden werden.[57] Kritisch beäugt man deshalb auch Vorbilder wie die Vereinigten Staaten von Amerika und ihre ausgeprägten Testreihen und wirft die Frage auf, ob unausgereiftes „Testing“ soziale Benachteiligungen wirklich beseitigen kann.[58] Es liegt sogar nahe, zu vermuten, dass die Bedrohung durch permanente Tests und Prüfungen die Ungleichheit von Bedingungen und Chancen für Bildung sogar noch verstärkt.[59] „Teaching to the test“ nennen das die Angelsachsen und meinen damit einen Unterricht, der nur darauf abzielt, gute Testergebnisse zu erzielen.[60] So verstandene Standardisierung kann den Blick von den Möglichkeiten des Machbaren auf das Überprüfbare einengen, womit zweifelsohne Entwicklungspotential eingeschränkt und Innovationsbereitschaft seitens der Lehrenden geschwächt würde.[61]
Was die Kultusministerkonferenz unter Bildungsstandards versteht, soll im Folgenden dargestellt werden: Bildungsstandards sind auch dort als „normative Vorgaben für die Steuerung von Bildungssystemen“[62] definiert worden. Sie greifen dazu allgemeine Bildungsziele auf und legen Kompetenzen fest, die Schüler bis zu einer bestimmten Jahrgangsstufe erreicht haben sollen.[63] Als Niveauanforderungen in Form von Regelstandards hat man sie formuliert. Das bedeutet, dass sie nicht organisatorisch reglementieren, sondern allein auf der Ergebnisebene. Dennoch bestehen die Bildungspolitiker auch darauf, von inhaltlichen Standards zu sprechen, die durch das Kerncurriculum vorgegeben sind. Mit Regelstandards ist im Unterschied zu Mindeststandards (was jeder beherrschen sollte) und Maximalstandards (was die Besten beherrschen sollten) eine Orientierung am Durchschnittsschüler vorgenommen worden (was der Durchschnittliche beherrschen sollte).[64]
Historisch betrachtet sind auch Standards, ebenso wie die bereits oben angesprochenen Leistungsstudien, in Deutschland nichts Neues. Schon immer gibt es Erwartungen, die verbindlich erfüllt werden sollten, als simples Beispiel hierfür sei an die Einteilung in Klassen
und Schularten erinnert, die nichts anderes als auf erwartete Leistung bezogene Aufgabensysteme erschuf.[65] Standards bezüglich organisatorischer Rahmenbedingungen gibt es sogar bereits seit dem General- Landschul- Reglement von 1763, das Schulzeit, Schulbesuch, Umgang mit Versäumnissen, Höhe des Schulgeldes, Lehrerauswahl, Unterrichtsdurchführung, Stundenpläne, Lehrmittel, disziplinarische Maßnahmen und Schulaufsicht mit verbindlichen Vorgaben festschrieb.[66]
Die Allokationsfunktion der Schule, also Pflicht und Recht Berechtigungen als Zulassung für die weitere berufliche Laufbahn auszusprechen, war zwar zunächst auf die höhere Bildung beschränkt, dehnte sich aber auch bereits Ende des 19. Jahrhunderts auf die Volksschulen aus. Der Standard, nach dem „Berechtigungen“ vergeben werden, ist bis heute erhalten geblieben. Schulentlassungen ohne Zeugnisse, die im Endeffekt nichts anderes sind, als Beurteilungen zur Standarderfüllung, wurden bald unmöglich.[67] Das Problem scheint also nicht im Fehlen von Standards in der Vergangenheit begründet zu sein, sondern könnte eher auf deren unpräzise Formulierung, die Unverbindlichkeit und das Fehlen nötiger Kontrollen zurückgeführt werden. Deshalb muss auch die instrumentelle Seite der Schule verbessert und eine ausschließliche Neugestaltung von Lehrplänen als unzureichend anerkannt werden.[68]
Aus diesem Grund werden in der breiten Diskussion verstärkt „starke Standards“[69] gefordert, die bestimmten Kriterien zu genügen haben. So zeichnen sich solche Standards in offiziellen Verlautbarungen unter anderem aus durch Fachlichkeit, Fokussierung auf Kernbereiche, Kumulativität zum Ziel vernetzten Lernens, Verbindlichkeit für alle, Differenzierung in Kompetenzstufen, Verständlichkeit und Realisierbarkeit.[70] Besonders die letzten beiden Forderungen erscheinen dabei in Hinblick auf die Standardisierung im Religionsunterricht als problematisch.[71]
Bevor nun aber das Land Baden-Württemberg und dort speziell der Religionsunterricht in den Blick geraten kann, soll der nächste Abschnitt noch über den Prozess der Einführung länderübergreifender Bildungsstandards in Deutschland sowie deren Aufbau und wesentliche Neuerungen informieren.
1.3.2 Zur Einführung von Bildungsstandards in Deutschland
Bei allen vorausgegangenen Erläuterungen handelt es sich keineswegs um landestypische Entwicklungen Baden-Württembergs. Auch die Konsequenzen sind zum Teil im gesamten Bundesgebiet spürbar. Im Jahre 2003 hat die Kultusministerkonferenz nämlich die bundesweite Einführung einheitlicher Bildungsstandards in den Fächern Deutsch und Mathematik sowie der ersten Fremdsprache für den mittleren Schulabschluss beschlossen, 2004 kamen die Standards für den Hauptschulabschluss und den Abschluss der Primarzeit (Jahrgangsstufe 4)[72] hinzu. Ebenso wurden Bildungsstandards für den mittleren Schulabschluss in Biologie, Chemie und Physik ergänzt, um dem dritten Testbereich der PISA- Studie (s. 1.2) gerecht zu werden. Mit den Aufgaben der wissenschaftlichen Begleitung und Durchführung von Evaluationen wurde das 2004 gegründete Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) beauftragt.[73]
Vom „Input“ zum „Outcome“, so ließe sich eine erste, durch Einführung der Bildungsstandards vollzogene Wandlung überschreiben. Schulen gestalten fortan nämlich zu maximal 50 Prozent ihr eigenes Schulcurriculum, für das sich die Schulbehörden nicht mehr in erster Linie verantwortlich zeigen, werden aber nach festgesetzten „Standards“ überprüft. Neben einem vorgeschriebenen Kerncurriculum, das die Hälfte der Schuljahreszeit in Anspruch nehmen soll und nicht mehr als zwei Drittel davon umfassen darf, steht also das eigenverantwortete Schulcurriculum, das autonom von den jeweiligen Schulen festgelegt werden muss.[74] Diese scheinbare Freiheit der Schulen wird aber bereits jetzt scharf kritisiert. Mit den Worten „Wir widersprechen der völlig irreführenden Behauptung, bei der gegenwärtigen Umorganisation der Bildungsinstitutionen gehe es um mehr Autonomie von Schulen und Hochschulen“ legte ein Zusammenschluss von Pädagogen aus zahlreichen deutschen Hochschulen Einspruch ein und machte darauf aufmerksam, dass durch von außen vorgeschriebene und erzwungene Kontrollmaßnahmen selbst verantwortete Praxis im Keim erstickt werden kann.[75]
[...]
[1] Im Folgenden werden die konfessionellen Trennungen vorerst nicht weiter differenziert. Gemeint sind immer sowohl Katholische als auch Evangelische Religionslehre.
[2] vgl. Eggert u.a. 1995, S. 8
[3] vgl. Oerter 1999, S. 28 ff.
[4] vgl. Eggert u.a. 1995, S. 9 ff.
[5] Hurrelmann 2002a
[6] vgl. ebd., S. 285 f.
[7] ebd., S. 286
[8] vgl. ebd., S. 286
[9] vgl. Christmann u.a. 2002, S. 46 ff.
[10] vgl. Hurrelmann 2002b, S. 8 f.
[11] vgl. Baurmann 2002, S. 10
[12] vgl. Hurrelmann 2003, S. 4 ff.
[13] Abkürzungen in der Abbildung: K = Kompetenzbegriff, R = Religionsbegriff
[14] Zum Zweck der besseren Lesbarkeit verzichte ich im Folgenden auf sämtliche Schreibweisen, die der Verdeutlichung verschiedengeschlechtlicher Gruppierungen dienen. Selbstverständlich sind aber dennoch immer beide Geschlechter angesprochen.
[15] Grethlein 2005, S. 17
[16] vgl. Heiligenthal u.a. 1999, S. 263
[17] vgl. ebd., S. 263
[18] Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2004b, S. 23
[19] natürlich in höchst unterschiedlicher inhaltlicher Differenzierung
[20] Ausgenommen sind Schulen in privater Trägerschaft.
[21] vgl. Becker 2000, S. 285 f.
[22] Bremen bietet einen bekenntnisfreien Unterricht in biblischer Geschichte auf christlicher Grundlage an. Berlin hat die volle Zuständigkeit und Aufsichtspflicht für den Religionsunterricht an die Religionsgemeinschaften übergeben. Brandenburg räumt den Religionsgemeinschaften die Möglichkeit ein, außerhalb der regulären Stundentafel in schulischen Räumen Religionsunterricht zu erteilen, obligatorisch ist das weltanschaulich neutral konzipierte Fach Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde.
[23] vgl. Becker 2000, S. 285 f.
[24] vgl. Grethlein 2005, S. 20 ff.
[25] vgl. ebd., S. 82 ff.
[26] Ein Problem, das sich natürlich auch anderen Fächern stellt, die an diesem Bildungsverständnis festhalten.
[27] Simon 2002, S. 363
[28] vgl. ebd., S. 363 f.
[29] vgl. ebd., S. 364
[30] vgl. Gabriel 2002, S. 139 ff.
[31] Grethlein 2005, S. 242
[32] Der Begriff Lehrplan trifft nicht mehr zu, wie sich noch zeigen wird, eine geeignetere Beschreibung für die Zusammenstellung aus Leitgedanken und Bildungsstandards hat sich aber ebenfalls noch nicht ergeben.
[33] vgl. Arnold 2005, S. 65
[34] Gruschka u.a. 2005, S. 480
[35] vgl. ebd. 2005, S. 480
[36] vgl. Kultusministerkonferenz 2005, S. 5
[37] Die wirtschaftlich ausgerichteten Interessen sind also nicht zu leugnen.
[38] vgl. Baurmann 2002, S. 10
[39] vgl. Lindner 2004, S. 55 ff.
[40] vgl. Schweitzer 2004, S. 40
[41] Kultusministerkonferenz 2005, S. 7
[42] vgl. Englert 2004, S. 88 f.
[43] vgl. Baurmann 2002, S. 10 f.
[44] vgl. Kultusministerkonferenz 2005, S. 5
[45] Faulstich 2004, S. 94
[46] vgl. Arnold 2005, S. 65
[47] vgl. Priebe 2003, S. 18
[48] vgl. Hovestadt u.a. 2005, S. 8
[49] Schratz 2003, S. 26
[50] vgl. ebd., S. 27 f.
[51] vgl. Klieme 2005, S. 6 f.
[52] vgl. Becker 2004, S. 17 f.
[53] Maag Merki 2005, S. 12
[54] Oelkers 2005, S. 19
[55] vgl. ebd., S. 19
[56] Kultusministerkonferenz 2005, S. 12
[57] vgl. Demmer u.a. 2005, S. 69
[58] vgl. Oelkers 2005, S. 19
[59] vgl. Gruschka u.a. 2005, S. 481
[60] vgl. Becker 2004, S. 19
[61] vgl. Schratz 2003, S. 28
[62] Kultusministerkonferenz 2005, S. 8
[63] vgl. Maag Merki 2005, S. 12
[64] vgl. ebd., S. 8 f.
[65] vgl. Oelkers 2004, S. 14 f.
[66] vgl. ebd., S. 18
[67] vgl. ebd., S. 21
[68] vgl. ebd., S. 35 f.
[69] Böttcher 2003, S. 4
[70] vgl. Becker 2004, S. 14 f.
[71] dazu mehr in Kap. 1.4.2 und 3.1
[72] Für die Grundschule wurden nur Bildungsstandards für Deutsch und Mathematik formuliert.
[73] vgl. Kultusministerkonferenz 2005, S. 5 f.
[74] vgl. Reinert 2004, S. 7 ff.
[75] vgl. Gruschka u.a. 2005, S. 480
- Arbeit zitieren
- Ingo Stechmann (Autor:in), 2006, Religion und Kompetenz. Versuche der Standardisierung religiöser Bildung in den Bildungsplänen Baden-Württembergs, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/71604
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