Neuer Wein in alten Schläuchen - Zur Geschichte und Entwicklung einer flexiblen britischen Sozialpolitik


Trabajo de Seminario, 2007

70 Páginas, Calificación: 1,3


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das Vereinigte Königreich: Seine nationalstaatliche Genese und seine politische Entwicklung
2.1 Großbritannienundder moderne Nationalstaat
2.2 Das parlamentarische Regierungssystem Großbritanniens und seine charakteristischen Merkmale
2.3 Großbritannien als das Mutterland der Industrialisierung

3. Der Beginn britischer Sozialpolitik: Der Konflikt zwischen Individualismus und Kollektivismus in der industrialisierten Phase
3.1 Das neue Armengesetz von 1834 und seine Ursachen
3.2 Die individualistische Grundorientierungdesneuen Armengesetzes
3.3 Erste kollektivistische Formen der gegenseitigen Unterstützung
3.4 Staatliche Sozialpolitik oder Krisenmanagement im 19. Jahrhundert?

4. Wohlfahrtsentwicklungen seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis Ende des Zweiten Weltkriegs
4.1 Politischer Abriss
4.2 Die Reformen der Liberalen Partei in der Edwardianischen Era (1906 -1910)
4.3 Der National Insurance Act von 1911 - Das Sozialversicherungsgesetz von 1991
4.4 Krisenmanagement
4.5 Krieg und Beveridge

5. Aufbau mid Umbau des britisclien Wolilfahrtstaates: von Berveridge bis Thatcher
5.1 Auf- und Ausbau universalistischer Strukturen, Krise und Fall des Nach kriegskonsenses
5.1.1 Postwar-consensus, mixed economy und beginnende Krise 1945 - I
5.1.2 Beginnender wirtschaftlicher Verfall, sanfte soziale Evolution, Verfas­sungskrise und Abschied vom universellen Wohlfahrtsstaat 1960 -
5.2 Der Thatcherismus als Antithese zum universalistischen Wohlfahrtsstaat
5.3 Zwischenfazit

6. Zukunftträchtiges Vorbild oder längst überholt? New Labour und der Dritte Weg
6.1 John Major, ein Wegbereiter für New Labour
6.2 Ursachen für den starken Sieg Labours und die Abgrenzung von Margaret Thatcher
6.3 Die Entwicklung New Labours und ihre Kernelemente
6.4 Die Wirtschaftspolitik Tony Blairs
6.5 Die Arbeitsmarktpolitik New Labours
6.6 Die Bildungspolitik New Labours
6.7 Gesundheit, Familien, Renten
6.8 Die Regierung und die Devolution; die Britische Europapolitik
6.9 Zwischenfazit

7. Zusammenfassung und Ausblick
7.1 Nationalstaatliche Konstanz bedingt sozial-politische Uneindeutigkeit
7.2 Zukunftsausblick

8. Literatur

1. Einleitung

In erster Linie wird sich diese Arbeit mit der Frage beschäftigen weshalb das britische System der sozialen Sicherung einen wechselvollen Weg einschlägt, während die Nationalstaatsbildung und das politische System von großer Konstanz, Stabilität und historischer Kontinuität geprägt sind. Be­trachtet man die britische Sozialpolitik, so lässt sich nur schwer ein roter Faden erkennen, der sich durch die wohlfahrtsstaatliche Geschichte zieht. Der Sozialstaat in Großbritannien hat keinen konti­nuierlichen Verlauf. Sich zwischen individualistischer und kollektivistischer Grundorientierung be­wegend, sind im Vereinigten Königreich auch Schwankungen in den Entwicklungsgeschwindigkei­ten des sozialen Sicherungssystems zu beobachten. Auf der anderen Seite zeichnet sich dieses Land, verglichen mit den meisten kontinentaleuropäischen Nationen, durch eine erstaunlich gleichmäßige und „unaufgeregte“ nationalstaatliche Entwicklung aus. Fällt in anderen europäischen Ländern his­torisch die Genese des Nationalstaates mit der Herausbildung eines Wohlfahrtsstaates weitestge­hend zusammen, so passt sich der britische Nationalstaat nicht diesem Muster an. Seine Nationsbil­dung setzt vergleichsweise früh ein und verläuft ohne größere Umbrüche oder Revolutionen. Da­hingegen setzt eine wirkliche Entwicklung in Richtung Sozialstaat erst zu Beginn des 20. Jahr­hunderts ein. Womit ist diese Diskrepanz zu erklären?

Hier soll die These vertreten werden, wonach der beschriebene Werdegang keinen Widerspruch dar­stellt. Vielmehr kann er als Notwendigkeit betrachtet werden. Die politische und nationalstaatliche Konstanz ermöglicht die sozialpolitische Uneindeutigkeit. Der facettenreiche Charakter des bri­tischen Systems der sozialen Sicherung entwickelt sich nicht trotz, sondern wegen der politischen Konstanz. Zum Beispiel Faktoren wie das Mehrheitswahlrecht, die besondere britische Recht­stradition, die Insellage, die Wandelbarkeit der Monarchie und die historische Fähigkeit sich gerad­linig auf einen gemeinsamen Nenner einigen zu können ermöglichen diese sozialpolitische Ausge­staltung. Die hybride Wesensart dieses Sozialsystems spiegelt sich in er Adaption verschiedener Wohlfahrtstypen wider (Schmidt, 2002). Es weist Elemente des konservativen Typs auf, da zum Teil Versicherungsleistungen dominieren. Allerdings ist das Ausmaß, in dem Einkommen durch Versi­cherungsleistungen ersetzt werden, recht gering. Demnach ist eine Einordnung in den liberalen Wohlfahrtsstaatstyp nicht von der Hand zu weisen. Gleichzeitig sind aber auch Akzente eines sozi­aldemokratischen Typs erkennbar, da in der Entwicklung des britisches Sozialstaats auch universale Tendenzen des Sicherungssystem festzustellen sind.

Die Gleichzeitigkeit der Elemente von konservativer, liberaler und sozialdemokratischer Wohl­fahrtsstaatlichkeit, sowie die Flexibilität sich innerhalb dieses Dreiecks bewegen zu können, wird besonders durch die politische Stabilität geschaffen. Die Stabilität der politischen Sphäre schlägt sich dabei nicht als Starre auf das soziale Sicherungssystem nieder. Vielmehr ermöglicht es ihre Flexibilität. Sollte die Entwicklung der Sozialstaatlichkeit bewegungslos verharren, so wäre dies nicht in erster Linie aus dem Konstrukt des politischen Systems heraus zu erklären.

Um diese These zu erläutern, soll ein historischer Abriss der britischen Sozialstaatlichkeit darge­stellt werden. Ausgangspunkt soll die Reform des Armengesetzes von 1834 und die gesellschaftli­chen Folgen für das 19. Jahrhundert sein. Zwar lässt sich dieser Zeitraum nicht wirklich mit sozial­politischen Kategorien erfassen, jedoch werden hier grundlegende Weichen für nachfolgende Entwicklung gestellt. Erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts setzt in Großbritannien wirkliche Sozial­politik ein, die zur Grundlage nachfolgender Tendenzen wird. Über Beveridge und den Thatcheris­mus soll ein Bogen bis zu den aktuellen Politiken des New Labour gespannt werden. Parallel zu dieser historischen Darstellung sollen die jeweiligen Perioden unter dem Gesichtspunkt der Frage­stellung betrachtet und in die Klassifizierung der Wohlfahrtsstaatlichkeit eingeordnet werden. Um jedoch die historische Entwicklung besser verstehen zu können, wird in diesem Zusammenhang die politische und die nationalstaatliche Genese des Vereinigtes Königreichs von Großbritannien und Nordirland dargestellt.

2. Das Vereinigte Königreich: Seine nationalstaatliche Genese und seine poli­tische Entwicklung

2.1 Großbritannien und der moderne Nationalstaat

Der im 18. und 19. Jahrhundert entstandenen Vorstellung eines Nationalstaates wohnten eine Viel­zahl an begründenden und begünstigenden Faktoren inne. Jedoch ist diesbezüglich für das kontinen­tale Europa sicherlich die Französische Revolution, einschließlich ihrer Folgen, als ein wesentliches Moment zu verstehen. Auch die zeitgleich anbrechende oder bereits angebrochene Industrielle Re­volution und die mit ihr einhergehende gestiegene Mobilität erwies sich als den Grundgedanken des modernen Nationalstaates dienlich. Je nach zeitlichen oder örtlichen Umständen entwickelte diese Idee verschiedene Ausdrucksformen, die sich gegen Aristokratie und Feudalismus (zum Beispiel Frankreich), Kleinstaaterei (Deutschland) oder imperiale Herrschaftsform (Österreich) richtete. Neben allen Faktoren und Indikatoren, die man aufzählen mag, kann der grundsätzliche Probleman­satz in der Frage gefunden werden, was eigentlich eine Nation ausmacht. So formulierte sie der französische Schriftsteller und Historiker Ernest Renan 1882 in einer Rede vor der Sorbonne folgendermaßen: „Warum ist Holland eine Nation, während Hannover oder das Großherzogtum Parma es nicht sind? Wie kommt es, dass Frankreich weiter eine Nation bleibt, auch wenn das Prinzip, durch das es geschaffen wurde, verschwunden ist? Wie kommt es, dass die Schweiz mit drei Sprachen, zwei Religionen, drei oder vier Rassen eine Nation ist, während beispielsweise die so homogene Toskana keine ist? Warum ist Österreich ein Staat, aber keine Nation?“ (Renan, 1993: S. 296). Die hier aufgeworfenen Fragen erörtern die substantiellen Komplexe, die für die Bearbeitung des Begriffes Nation zu beachten sind. Das Verhältnis von Staat, Nation, Volk oder Kultur, deren Homogenität und Kongruenz, beziehungsweise deren mögliche Inhomogenität und Inkongruenz, ist für dieses Problem grundsätzlich. Es zeigt aber auch, dass Sprache, Religion oder sogar Territorium keine absolute Grundlagen und Indizien für die Errichtung einer Nation nach modernem Verständnis sein können. Renan selbst argumentiert, dass es konstitutiv für eine Nation ist, wenn sie eine Seele hat, ein geistiges Prinzip ist, welche aus einer Art spirituellen Familie resultiert (Renan, 1993). Die Nation ist hier also als eine Solidargemeinschaft zu verstehen. Wobei zwei Dinge wesentlich für dieses geistige Prinzip sind. Zum einen ist es der gemeinsame Besitz an Erinnerungen, an nationalen (Gründungs-) Mythen. Zum anderen ist es der gemeinsame Wunsch zusammen zu leben. Ein Wunsch, der aus der Mitte der Nation (des Volkes) kommt und nicht von oben herab oder gar fremd bestimmt wird. Dieser Wunsch, der Wille, als einvernehmlicher Ausdruck.

Betrachtet man dabei die europäische Geschichte sowohl im Ganzen, als auch die Geschichte der einzelnen europäischen Länder aus der Perspektive des modernen Nationalstaates, so wird sehr schnell deutlich, dass man nicht von einer einheitlich abgelaufenen Genese sprechen kann. Unter­schiede lassen sich schon allein darin erkennen, dass in einigen Teilen Europas die Nationalstaats­bildung später begann als in anderen. Neben dieser zeitlichen Ungleichheit lassen sich noch einige andere erkennen, da die Vorbedingungen, auf die das Konzept der Nation traf, sich sehr unterschie­den. Zum einen erschwerte vielerorts eine mehr oder minder große Inhomogenität von Völkern, Sprachen, Territorien, Religionen oder historischen Hintergründen die Nationalstaatsbildung. Zum anderen stand ihr nicht selten eine starke Aristokratie entgegen, welche diese Entwicklung zu verhindern suchte. Daher ist es notwendig nach verschiedenen Ansätzen zu unterscheiden oder zu klassifizieren, um dem Konzept der Nation näher zu kommen.

Verschieden Möglichkeiten gibt es diese Prozesse einzuordnen und darzustellen (Anderson, 1993).6 Am bekanntesten dürfte die Gegenüberstellung von Staatsnation und Kulturnation sein. Die Staats­nation lehnt sich an die Idee der individuellen und kollektiven Selbstbestimmung an. Das bedeutet, dass sie sich über den freien Willen und das subjektive Bekenntnis der Bürger zu ihrer Nation definiert. Es handelt sich hierbei also um einen subjektiven Nationenbegriff. Die Bevölkerung eines bestimmten, nicht selten historisch gewachsen Territoriums versteht sich als Nation. Dabei wird die Staatsangehörigkeit mit der Nation gleichgesetzt. Großbritannien ist ein typisches Beispiel dafür. Die Nation entstand als eine Gemeinschaft rechtsgleicher Bürger, wobei der religiöse Glaube, die Konfession, die ethnische Herkunft, die soziale oder wirtschaftliche Stellung formal keine Rolle spielt. Lediglich das Bekenntnis zur Nation macht aus dem Bürger einen Staatsbürger. Nation und Staat fallen zusammen, wobei die Grundlage der Staatsgewalt die Volkssouveränität ist (Alter, 1985)1.

Im Gegensatz dazu wird bei der Kulturnation zur Vermittlung eines Gemeinschaftsgefühls nicht der Staat benutzt. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das Bewusstsein eine Einheit zu sein, entwi­ckelt sich hier unabhängig vom Staat. Es handelt sich um einen objektiven Nationenbegriff, da er sich, auf angeblich objektiv vorgegeben Kriterien basierend, definiert. In der Geschichte Deutsch­lands sind gute Beispiele dafür zu finden. Wie bei der Bildung vieler anderer mittel- oder osteuro­päischer Nationen auch, spielten hier Kriterien wie die gemeinsame Sprache, Herkunft, Geschichte, Siedlungsgebiet oder auch Religion eine gewichtige Rolle. Der Schwerpunkt einer Kulturnation und seiner Bürger liegt demnach auf der Betonung ihrer gemeinsamen Abstammung. Für beide Vorstel­lungen besitzt die Gleichung Staat = Nation = Volk Gültigkeit, jedoch gibt für das Verständnis einer Kulturnation die Staatsnation keine Aussagekraft darüber, was ihr Volk eigentlich ausmacht. Zeitlich entstand der moderne Nationalstaat, der sich als Staatsnation erschuf, vor denen, die den Weg der Kulturnation einschlugen. In den Staatsnationen konnte auf ein bereits bestehender Staat zurückgegriffen werden, den die Gemeinschaft der Bürger mittels eines gewissen Volkswillens zu einer Nation, und damit als Willensgemeinschaft, neu gründeten. Die politische Nationalität, die Staatsbürgerschaft, und nicht die nationale Abstammung bildet die Nation. Dahingegen gestaltete der nachrevolutionäre Nationalismus nicht einen vorhanden Staat um, sondern musste einen neuen schaffen. Ziel war ein höchstes Maß an sozialer und territorialer Homogenität um die integrativen Kräfte eines Nationalstaates freisetzen zu können. Die besten Ergebnisse werden erreicht, wenn der Prozess der Staatsbildung und der Prozess der Nationsbildung zusammen läuft (Alter, 1985). Dies lässt sich besonders am Modell des westeuropäischen Nationalstaates, wie zum Beispiel Frankreich oder Großbritannien, beobachten. Aber auch außerhalb Europas, wie am Beispiel der USA, können ähnliche Verläufe beobachtet werden.

Mit Hilfe der dargestellten Kategorien lässt sich das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland, so die offizielle internationale Bezeichnung des Staates, als eine Staatsnation charakte­risieren, die aus einem über Jahrhunderte andauernden Verschmelzungsprozess von vier Nationen entstand. Nämlich England, Wales, Schottland und Irland. Die einzelnen Staatsteile wurden im Laufe der Zeit durch unterschiedliche verfassungspolitische Akte einverleibt. Durch zwei Parlamentsgesetze von 1536 und 1543 wurde Wales mit England verbunden. Schottland wurde 1707, ratifiziert durch das schottische und englische Parlament, vertraglich Teil des Königreichs, welches von da an Großbritannien hieß und ein einheitliches Parlament in Westminster hatte. Irland wurde schließlich 1800 durch Parlamentsgesetze des irischen und britischen Parlaments Teil des Königreichs2. Die Nationalstaatsbildung Großbritanniens ist daher geprägt durch die Auflösung der englischen, schottischen und irischen Parlamente und die Unterordnung dieser Nationen unter ein gemeinsames, souveränes und oberstes Parlament (Becker, 2002). Innerhalb dieses Nationalstaates dominieren die Institutionen des flächenmäßig, demographisch und machtpolitisch stärksten Teils: des englischen Staates.

Der Vergleich mit einem Vielvölkerstaat ist daher nicht völlig unberechtigt. Die Besonderheit Groß­britanniens liegt unter diesem Gesichtspunkt jedoch in der Tatsache, dass diese Union mehrerer Staaten nicht zu einem staatszerstörenden Nationalismus, wie etwa mit der Föderativen Republik Jugoslawien geschehen, führt. Bedingt durch die Kategorien einer Staatsnation, auf denen Groß­britannien aufgebaut ist, haben solche Tendenzen kein Gewicht. Trotz, oder gerade wegen der zunehmenden Übertragung administrativer Unabhängigkeit an regionale Körperschaften, besonders in jüngerer Zeit (Stichwort Devolution), lässt sich ein staatszerstörender Nationalismus in Groß­britannien nicht ausmachen. Dies ist auch der Tatsache geschuldet, dass das Vereinigte Königreich ein Inselstaat ist, somit seine Homogenität begünstigt wird. Dieser Umstand hat zudem eine große wirtschaftliche und politische Bedeutung. Diese Insellage hatte unter anderem zur Folge, dass die letzte erfolgreiche Invasion durch eine ausländische Macht im Jahre 1066 stattfand (Saalfeld, 1998). Die Insellage mit ihren geographischen und außenpolitischen Faktoren ist nicht unerheblich für die nationalstaatliche Entwicklung. Die geographisch eindeutig vorgegebenen Grenzen vereinfachen die Entwicklung eines Landes hin zu einer Nation. Und sei es nur deswegen, weil sie damit eine Abgrenzung nach außen erleichtern. Großbritannien hat sich bei seiner inneren Entwicklung in einer privilegierten Stellung befunden. Hingegen habe sich auf dem europäischen Festland, mit sei­nen uneindeutigen Grenzen, der militärische und politisch Machtkampf der Territorialfürsten dahin entwickelt, dass die Stärke eines Staates in der Sicherung eines einheitlichen Staatsgebietes lag. Die geographische Lage Großbritanniens hatte diesbezüglich den Vorteil schon frühzeitig mit der Kon­solidierung eines britischen Staates begonnen zu haben (Saalfeld, 1998). Das Militär war als innen­politischer Machtfaktor nur von geringer Bedeutung. Dies begünstigte die schrittweise Entwicklung der politischen Institutionen des Königreichs, die vergleichsweise liberale Entwicklung der bri­tischen Politik sowie die große Bedeutung des Handelskapitals.

Natürlich fanden auch in Großbritannien politische Umstürze, Gewalt und Verfolgung statt (z. B. der als Rosenkrieg bezeichnete Erbfolgekrieg von 1455-85, oder die Revolution unter Oliver Crom­well 1653-60). Dennoch hat sich das Vereinigte Königreich, anders als beispielsweise Deutschland, dessen Geschichte durch vielfältigste Brüche gekennzeichnet ist, in langen Zeiträumen weiterentwi­ckeln können. Seine politischen Institutionen können teilweise ihre Wurzeln bis in das Mittelalter zurückverfolgen.

2.2 Das parlamentarische Regierungssystem Großbritanniens und seine charakte ristischen Merkmale

Bereits mit der Magna Charta von 1215 wurde die Kontrolle der Zentralgewalt und damit die indi­viduellen Freiheitsrechte gegenüber staatlicher Gewalt definiert. Ab dem späten 13. Jahrhundert kann man in England von der Entwicklung eines Parlamentarismus sprechen. Die auf den britischen Inseln bereits vergleichsweise früh entstandenen politischen Prinzipien und Institutionen prägen teilweise bis heute noch viele demokratische Verfassungsstaaten (Saalfeld, 1998). Das Resultat der historischen Entwicklung in Großbritannien war ein parlamentarisches Regierungssystem, welches von einer konstitutionellen Monarchie umrahmt wird. Diese Regierungssystem beruht auf einer nicht niedergeschriebenen Verfassung. Historisch gewachsene Konventionen legen eine unge­schriebene und unumstrittene Verfassung fest3. Die wesentlichen Elemente der Verfassung sind (Lehner & Widmaier, 1995: S. 30): die Parlamentssouveränität, die exekutive Regierungsgewalt des vom Premierminister geleiteten Kabinetts, die parlamentarische Verantwortlichkeit des Kabinetts, eine alternierende Parteienherrschaft und das allgemeine Wahlrecht.

Anders als in den meisten kontinentaleuropäischen Staaten sind die politischen Parteien Groß­britanniens nicht erst ein Produkt des einsetzenden demokratischen Zeitalters. Ähnlich wie bei einem großen Teil der politischen Institutionen sind ihre Wurzeln viel früher zu finden. Damit hatten sie ebenfalls im internationalen Vergleich viel früher die Möglichkeit auf die sich bildenden konstitutionellen Strukturen Großbritanniens einzuwirken (Saalfeld, 1998). Bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verstärkte sich die Bildung von Parteien. Im Kontext der kapitalis­tischen Entwicklung waren sie Heimstätten für die Auseinandersetzungen zwischen den Liberalen und den Konservativen (Lehner & Widmaier, 1995). Diese Periode ist der Beginn eines Zweipartei­ensystems mit den Whigs (Liberale) und den Tories (Konservative) als Akteure. Zunächst waren die Parteien Repräsentanten mächtiger Aristokratenfamilien. Sie besaßen weder ein Programm noch waren sie nach heutigen Vorstellungen organisiert. Die Beschränkungen im Wahlrecht (die Stimmberechtigung richtete sich nach dem Einkommen) waren der maßgebliche Grund für das Fehlen weiterer parteipolitischer Organisationen (Becker, 2002). Erst nach den Wahlrechtsreformen von 1832 und 1867 bildeten sich aus diesen politische Clubs nationale Parteiorganisationen.

Im Unterschied zu der Entwicklung der Parteien in der Bundesrepublik Deutschland liegen die Wurzeln der britischen Parteien im Parlament. Längst bevor sie vor der Aufgabe standen Wähler zu mobilisieren oder Programme, Ideologien, Strukturen auszuarbeiten, waren sie in Parlaments- und Regierungstätigkeiten erfahren. Die politischen Parteien in Großbritannien besitzen noch heute den Rechtsstatus einer privaten, freiwilligen Vereinigung. Für sie gibt es keine gesetzlichen Rechts­grundlagen, die mit dem Artikel 21 des deutsche Grundgesetzes vergleichbar wären. Ebenfalls im starken Unterschied zur Bundesrepublik steht das britische Parteiensystem als ein klassisches Bei­spiel für ein Zweiparteiensystem. Die beiden großen Parteien des Landes (Konservative und La­bour)4 üben, begünstigt durch das Mehrheitswahlrecht, abwechselnd die Regierungsmacht aus. Dritte Parteien haben kaum eine Chance auf die Beteiligung an der Regierungsgewalt. Groß­britannien lässt sich daher als ein System von zwei dominierenden Parteien beschreiben, die wegen des Wahlrechts vor der Konkurrenz dritter Kräfte geschützt werden (Becker, 2002). Zusammen mit der langen Tradition des parlamentarischen Regierungssystems sind diese Merkmale für die Einord­nung vergangener und aktueller Entwicklungen Großbritanniens heranzuziehen.

2.3 Großbritannien als das Mutterland der Industrialisierung

Um jedoch die politische und besonders die nationalstaatliche Entwicklung Großbritanniens noch besser verstehen zu können, ist das Zeitalter der Moderne und der industriellen Revolution beson­ders zu betrachten. Grundsätzlich ist es in weiten Teilen Europas mit dem Anbruch der Moderne zu großen gesellschaftlichen Umbrüchen gekommen. Bisherige Mechanismen, wie die Religion oder das monarchische System, waren bei der Aufgabe der gesellschaftlichen Integration nicht mehr er­folgreich. Neue Strukturen, neue Interessen oder auch Klassen sind entstanden, die mit sich neue Herausforderungen brachten, welche durch das alte System nicht mehr bearbeitet werden konnten. Was ist aber die Grundlage dessen? Wodurch entstanden neue Strukturen und wodurch wurde das alte System herausgefordert? Es ist dabei der Kapitalismus als wesentliche Begleiterscheinung der Moderne zu nennen (Langewiesche, 2000). Ein wichtiges Merkmal der Industrialisierung und damit des Kapitalismus ist der Prozess des Übergangs von der handwerklichen, der manuellen Fertigung zur maschinellen. Arbeitsteilung war ein wesentliches Charakteristikum dafür und stand für die Ab­lösung der feudalen Gesellschaften. Alte Gemeinschaften wie zum Beispiel Innungen oder Gilden brachen auf oder hörten auf zu existieren. Die Gesellschaften wurden mobiler und alte Be­zugspunkte verloren ihre Grundlagen und ihre Notwendigkeiten. Der Wandel von Produktion und Produktionsbeziehungen ermöglichte den Wandel vom Ancien Régime zum Nationalstaat. Es bleibt daher festzuhalten, dass sich mit der Erfindung der Nation das beschriebene Integrationsproblem auflöst. Ursprüngliche Identitäten, individuelle Fixpunkte und gesellschaftliche Koordinatensyste­me wurden im Zuge der Industrialisierung in Frage gestellt. Ein Bedürfnis nach neuen Be­zugspunkten war die logische Folge. In diese, durch den Kapitalismus „gerissene“ Lücke, sprang das Konzept der Nation und füllte sie aus. Die Kirche, als ehemaliges gesellschaftlich in­tegrierendes Element, musste sich nun in ihrem Handeln auf das Handeln der Nation als oberste In­stitution einstellen. Weil sie dies tat, war es dem Nationalstaat möglich als gesellschaftlicher Letzt­wert, also als gesellschaftlicher Leitfaden zu agieren (Langewiesche, 2000). Aber warum gilt beson­ders Großbritannien als das Mutterland der Industrialisierung und weshalb besaßen die gesellschaft­lichen Folgen der Industrialisierung gerade in diesem Land nicht ähnlichen revolutionären Spreng­stoff wie in anderen Ländern Europas?

Im Fall Großbritannien scheinen mehrere begünstigende Umstände aufeinander getroffen zu sein, die dieses Land eine Pionierrolle in der ökonomischen Entwicklung haben übernehmen lassen (Feh- renbach, 2001). Der erste begünstigende Umstand, der zujener epochalen Umwälzung führen konn­te, war die parallele Entwicklung von Bevölkerungswachstum und Wirtschaftswachstum. In keinem anderen Land wuchs die Bevölkerung zu dieser Zeit so rasch. Dies sorgte für mehr Konsumenten. Die steigende Produktivität der Wirtschaft konnte ihre Nachfrage befriedigen. Zweitens konnte durch die Wandlungen im Agrarbereich und den damit verbundenen landwirtschaftlichen Produk­tionssteigerungen die wachsende Bevölkerung ernährt werden, ohne auf Agrarimporte angewiesen zu sein. Neben der Erweiterung des Binnenmarktes trat drittens auch eine Außenmarkterweiterung ein, deren Ziele besonders in Übersee (Amerika, Indien, China) lagen. Viertens gelang es besonders in Großbritannien betriebsorganisatorische und technische Neuerungen durchzusetzen. Der Einsatz von Maschinen im zentralisierten und arbeitsteiligen Fabriksystem ließ die Produktivität steigen. Zudem ist fünftens Großbritannien durch seine geographische, geologische und klimatische Situati­on bevorzugt. Der Besitz an natürlichen Ressourcen wie Steinkohle war ein fördernder Umstand. Aber auch die Insellage mit den damit einhergehenden kurzen Verbindungswegen zum Meer, die den Warenverkehr erleichterten, unterstützen die schnelle kapitalistische Entwicklung. Ebenso be­saß man einen relativ einheitlichen Wirtschaftsraum ohne Binnenzölle.

Die Frage bleibt bei all den begünstigenden Umständen, die Großbritannien erfuhr, weshalb dieses Land den Herausforderungen des Wandels so gut gewappnet war. Weshalb entfachte sich hier nicht der soziale Zündstoff, der aus den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüchen entstehen konnte? Weshalb war es dem Vereinigten Königreich, verglichen mit anderen europäischen Ländern, möglich die entstandene Dynamik so reibungslos über sich ergehen zu lassen? Mehrere Gründe ließen sich dafür finden (Fehrenbach, 2001). Zunächst ist es wichtig zu erwähnen, dass die englische Gesellschaft bereits ihre politischen Freiheiten durchgesetzt hatte. Die Monarchie hatte gelernt sich anzupassen, verglichen mit absolutistisch und merkantilistisch geprägten kontinental­europäischen Ländern, konnte sich die Wirtschaft und die Gesellschaft in Großbritannien freier ver­breiten. Die Gesellschaft dieses Landes war mobiler. Die Schranken zwischen Bürgertum und Adel waren verhältnismäßig durchlässig. Der wirtschaftliche Erfolg konnte den sozialen Aufstieg garan­tieren. Zudem zeigte sich die britische Gesellschaft als flexibel und anpassungsfähig, wodurch das Unternehmertum seine vollen wirtschaftlichen Möglichkeiten entfalten konnte. Außerdem war die britische Regierung mehr alsjede andere europäische Regierung dazu bereit seine Politik den öko­nomischen Interessen weitestgehend anzupassen. Der expansive Handel wurde demnach auch da­durch unterstützt, dass die Regierung bereit war in diesem Kontext Kriege zu führen und auf Kosten anderer europäischer Rivalen Kolonien zu erwerben.

Es lässt sich also diesbezüglich zusammenfassen, dass Großbritannien zu Beginn des 19. Jahr­hunderts eine einmalige Stellung in Europa und im Weltsystem einnahm. Es kam politisch und wirt­schaftlich eine Vorreiterrolle zu. Diese Hegemonie wurde flankiert durch eine enorme wirtschaftli­che Blütezeit, die durch eine politische und soziale Stabilität begünstigt wurde.

3. Der Beginn britischer Sozialpolitik: Der Konflikt zwischen Individualis­mus und Kollektivismus in der industrialisierten Phase

3.1 Das neue Armengesetz von 1834 und seine Ursachen

Natürlich kann im gesellschaftlichen Bereich von Stabilität gesprochen werden, obwohl als eine Folge der Entwicklung der Industrialisierung soziale Spannungen aufkamen. Verglichen mit den re­volutionären Bewegungen im kontinentalen Europa (z. B. Deutschland, Frankreich, Italien) zu Be­ginn und Mitte des 19. Jahrhunderts, die zum Teil nationalistische aber auch soziale Ursachen hatten, waren diese Spannungen aber in Quantität und Qualität anders gelagert.

Die bereits fortgeschrittene Nationalstaatsbildung bot kaum gesellschaftlichen Sprengstoff. Sowohl die politischen Institutionen auf der einen Seite, als auch die Monarchie auf der anderen, haben, einer langen Tradition folgend, gelernt sich zu wandeln. Das parlamentarische System Groß­britanniens kann sicherlich für diese Zeit als eines der fortschrittlichsten gelten. Was hat der Staat aber unternommen um sozialen Konflikten entgegenzuwirken? Der binären Logik des Marktes folgend muss es neben den Gewinnern der Industrialisierung und der kapitalistischen Trends auch Verlierer geben. Auch wenn in der Entwicklung des 19. Jahrhunderts in Großbritannien wohl kaum von einer Wohlfahrtsstaatlichkeit oder einer langfristigen und zielorientierten Sozialpolitik die Rede sein kann, so lassen sich doch Koordinierungsversuche und staatliche Eingriffe auf diesem Politikfeld entdecken, die auf eine Sozialstaatlichkeit hinweisen und im Zusammenhang späterer Entwicklungen betrachtet werden sollten.

Bereits seit 1601 existierte ein in erster Linie für eine ländliche Gesellschaft geschaffenes Armenge­setz, welches durch die Erhebung von Steuern und Abgaben auf lokaler Ebene finanziert wurde. Besonders durch den 1662 eingeführten Settlement Act, der die Unterstützung der Gemeinde nur für Personen gewährte, die auch in ihr geboren wurden, wurde eine gewisse Mobilität verhindert. Die Gemeinden waren für den Umgang mit ihren Armen selbst verantwortlich. Der Settlement Act ist in diesem Zusammenhang ein Versuch gewesen, die Belastung der Gemeinden zu minimieren in­dem sie nur für die eigenen Mitglieder aufkommen mussten. Durch die Ansiedlung der Verantwort­lichkeit für Armenhilfe auf lokaler Ebene herrschte dementsprechend landesweit ein großer Unter­schied in der Qualität der Unterstützung (Jones, 1993). Diese Bindung der Bedürftigen an ihre Heimatgemeinde erwies sich mit dem Einsetzen der Industrialisierung und der Durchsetzung von kapitalistischen Produktionsweisen als eine Fehlentwicklung. In den ländlichen Gebieten war zu Beginn des 19. Jahrhunderts kaum Arbeit zu finden. Und trotz Arbeitskräftemangel war es riskant in die Zentren der Industrialisierung zu gehen, da ein Arbeiter im Bedarfsfall wegen des erwähnten Settlement Acts keine Unterstützung von dieser Gemeinde erwarten konnte. Das alte Armengesetz war allein schon aus diesem Grund für den sich vollzogenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel ungeeignet.

Die englische Armenpolitik hatte sich zudem seit dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts da­hingehend entwickelt, dass besonders die Löhne der Arbeiter auf dem Lande, die unter dem Existenzminimum lagen, durch Einnahmen aus den auf lokaler Ebene erhobenen Steuern und Abgaben ergänzt wurden. Diese Praxis fand seinen Ausdruck im Speenhamland Gesetz von 1795, welches das Existenzminimum festlegte und den Lohn durch einen Zuschlag aus der öffentlichen Hand ergänzte5. Die Höhe des Existenzminimums wurde nach der Größe der Familie und den vari­ierenden Brotpreisen berechnet. Im wesentlichen war dieses System der Armenhilfe ein Ausdruck für die strukturelle Unterbeschäftigung (Ritter, 1991). Die Mobilität der Arbeiter wurde erschwert. Es war nicht ohne weiteres möglich den vorhandenen Arbeitsplätzen nachzureisen. Ein Arbeits­markt im modernen Sinn war noch nicht vorhanden. Die Arbeiter waren in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Eine Abwanderung von der Landwirtschaft in die Industrie war unter diesen Um­ständen kaum möglich.

Um diesen strukturellen Hemmnissen zu begegnen, wurde 1832 die 'Royal Commission to In­vestigate the Poor Laws' von der britischen Regierung ins Leben gerufen. Die zu dieser Zeit amtierende Regierung wurde von der politischen Partei der Whigs gestellt und zeigte sich zum einen als reformfreudig und zum anderen auch als Anhänger eines Laissez-Faire-Gedankens (Jones, 1993). Die Kommission sollte die Umsetzung des bereits seit über zweihundert Jahren bestehenden Poor Laws in der Praxis untersuchen. Die effektive Administration dieses Gesetzes wurde in Frage gestellt. Nach zeitgenössischer Meinung bot dieses Gesetz keinen Anreiz zur Vorsorge mehr und wälzte zudem die Lohnkosten schlechter Arbeiter auf die Gemeinden ab (Ritter, 1991). Unter diesem öffentlichen Druck wurde von der Kommission nicht nur allein ein Bericht zur Lage der Ar­menhilfe erwartet, sondern sie sollten auch Verbesserungsvorschläge unterbreiten. 1834 geschah dies und noch im gleichen Jahr wurde ein Zusatzartikel zum bestehenden Poor Law in das House of Commons (das Unterhaus - die zweite Kammer des britischen Parlaments) eingebracht und noch 1834 als Poor Law Amendment Act verabschiedet.

Neben der generellen Unzufriedenheit über die strukturellen Probleme des Armengesetzes in Groß­britannien des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts können zwei Gründe genannt werden, die unmittelbar ausschlaggebend für die Notwendigkeit einer Reform der Armenunter­stützung waren und somit zur Bildung der königlichen Kommission beitrugen (Boyer, 1990: S. 195). Zunächst ist die steigende Zahl an Armen zu nennen. Es setzte sich die Einsicht durch, dass mit den zur Verfügung stehenden Mitteln das Problem der Armut nicht gelöst werden konnte, son­dern die Situation im Gegenteil noch verschlimmert wurde. Natürlich beinhaltet eine steigende Zahl an Armen auch Ängste vor Unruhen, die besonders mit Blick auf das europäische Festland nicht gelindert wurden. Daran anknüpfend ergab sich ein zweiter Grund für den gestiegen Reformwillen bezüglich dieses sozialen Problems. 1830 und 1831 kam es zu den so genannten 'Captain Swing Riots'. Dies waren Landarbeiter Revolten, die sich auf den agrarisch geprägten Süden des Landes konzentrierten, wo ein hohes Niveau an Pro-Kopf-Ausgaben der Armenunterstützung vorherrschte. Ausgelöst wurden die Unruhen durch den vermehrten Einsatz von Dreschmaschinen und der Ein­fuhr von billigeren Erntehelfern aus Irland. Diese regional begrenzten Aufstände reichten aus um eine Angst innerhalb der Gutsbesitzer auzulösen. Sie sahen die Unruhen auch als ein Zeichen für eine schlechte Verwaltung der Armenunterstützung. Begünstigt durch das damals bestehende Wahl­recht, welches sich auf Landbesitz bezog, besaßenjene Gruppen einen politischen Einfluss und un­terstützen die Reform des Armengesetzes.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die Ursachen für das Eingreifen des britischen Staates auf dem Bereich der Sozialpolitik nicht in einer aufkommenden Klassenmobilisierung lagen. Zur Verdeutlichung soll ein funktionalistischer Erklärungsansatz herangezogen werden, der die Entste­hung von Sozialstaatlichkeit zu deuten versucht (Lessenich, 2000)6. Auch wenn im Fall Groß­britanniens im 19. Jahrhundert der Begriff Sozialstaat nicht vollständig geeignet ist, so lässt sich trotzdem eine Politik erkennen, die ein soziales und gesellschaftliches Problem ausmacht und diesem entgegenzutreten versucht. Die Besonderheit liegt bei diesem Ansatz in der Tatsache, dass die britische Politik in erster Linie bereit war sich den wirtschaftlichen Interessen anzupassen. Der Anstoß für ihr Handeln kann also außerhalb der politischen Sphäre gesucht werden.

Die Entstehung von Sozialstaaten kann demnach mit funktionalistischen Ansätzen begründet werden. Dabei nimmt der Bereich der Ökonomie eine bedeutende Stellung ein. Das Aufkommen so­zialstaatlicher Strukturen kann mit den entwickelten kapitalistischen Produktionszusammenhängen im Verbindung gebracht werden. Hierbei wird für die Errichtung sozialer Sicherungssysteme weniger das zielgerichtete und absichtsvolle Handeln politischer Akteure in den Vordergrund ge­stellt, sondern es wird als eine normale Entwicklung der sich darstellenden Gegebenheiten und den daraus resultierenden Notwendigkeiten betrachtet. Besonders der Zeitraum der Industrialisierung steht im Fokus dieses Ansatzes. Die aus dieser Epoche resultierenden Veränderungen, ihre Chancen sowie ihre Risiken fordern die Politik. Die sich ergebenden sozialen Probleme, wie Wohnungsnot oder Massenverelendung, setzen neue Handlungsschwerpunkte und ergeben die Herausforderung für die politisch Agierenden reagieren zu müssen. Mit der Logik des Kapitalismus lässt sich in diesem Kontext auch argumentieren, dass sozialstaatliche Sicherungssysteme auch für die Si­cherung der Profitabilität einen Nutzen haben, demnach der Sozialstaat als Folge des kapitalis­tischen Staates zu begreifen ist. Wird der Deutungskreis hingegen weiter gezogen, so ließe sich die Entwicklung eines modernen Sozialstaates auch im Bezug zur Entwicklung der Modernisierung be­trachten. Die reine Konzentration auf sozioökonomische Argumente kann damit auch bei einem funktionalistischen Ansatz für politische Prozesse aufgebrochen werden. Dennoch konzentriert sich der funktionalistische Erklärungsversuch stark auf eine wirtschaftliche Herangehensweise.

Die Handlungen des britischen Staates lassen sich nicht mit Interessenkonflikten begründen, die in einer politischen Arena ausgefochten wurden. Die Armenhilfe, sowie ihre Reform, war zwar eine politische Entscheidung. Jedoch beruhte sie auf einem Konsens, der ökonomisch begründet wurde. Die Besonderheit des britischen parlamentarischen Systems machte eine solche Entscheidung möglich. Parteipräferenzen, die in Großbritannien besonders in der Zeit des 19. Jahrhunderts nur äußerst schwach ausgeprägt waren, spielten bei dem Beschluss über das neue Armengesetz keine

Rolle. Politischer Einklang herrschte über die Frage der neuen Ausrichtung. Die Mechanismen des Kapitalismus erforderten nur ein Minimum an Sozialstaatlichkeit

3.2 Die individualistische Grundorientierung des neuen Armengesetzes

Seit der Reform des Poor Law von 1834 wurde es zum Prinzip der Armenhilfe, dass jene, die von ihr Unterstützung erhielten, in Arbeitshäuser gehen mussten statt eine reine finanzielle Unter­stützung zu erhalten. Sie sollten dort schlechte Bedingungen vorfinden, die ihren Willen zu arbeiten auf die Probe stellten. Dieses Vorgehen wurde als notwendig erachtet um den Anreiz der Bedürf­tigen aufrecht zu erhalten ein unabhängiges, selbstständiges und vor allem selbst finanziertes Leben zu führen (Pugh, 1994). Die Schlussfolgerungen der Verantwortlichen des neuen Armengesetzes aus den Fehlern des Alten waren also, dass die Armen an ihrer Situation selbst schuld waren. Sie handelten ohne eigene Verantwortung. Dieses Problem der Verantwortungslosigkeit wurde durch das vorherige System der Armenunterstützung nur verstärkt und die Abhängigkeiten wurden weiter ausgebaut. Die Armenunterstützung musste für die Armen demnach schmerzhaft sein, damit sie wieder ein selbstverantwortliches Leben führen werden. Unter diesem Punkt wurde zum Beispiel die Stigmatisierung der Armen, der Pauper, eingeführt. Dies wurde unter anderem durch eine eigene Kleidung erreicht. Ähnliches hatte die Trennung nach Geschlechtern in den Arbeitshäusern zum Ziel. Die Arbeitshäuser wurden so zu einer Furchtvorstellung einer jeden Arbeiterfamilie (Jones, 1993). Mit dem Gesetz von 1834 wurde also versucht die fehl gelaufenen Entwicklungen der Ar­menhilfe des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts zu berichtigen. Zur Überwindung des Armutproblems sollten dazu in erster Linie liberale Ansätze umgesetzt werden. Nach der damals vorherrschenden Auffassung des Laissez-Faire-Gedankens war das alte Poor Law falsch. Nicht weil es nicht das Problem der Armut verhindert. Sondern weil es im besonderen Maße Staatsinterven­tionen förderte (Boyer, 1990).

Zwar wurde nicht der radikale Weg eingeschlagen und die Armenhilfe vollkommen abgeschafft. Dazu waren sicherlich die politischen und wirtschaftlichen Eliten aus Furcht vor sozialen Spannungen und den sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Folgen nicht bereit gewesen. Jedoch verband das neue Armengesetz die Gewährung von Armenhilfe für Bedürftige mit erschwerten Be­dingungen. Ziel war es die Armenhilfe weniger wünschenswert erscheinen zu lassen als die Lohn­arbeit. Die dafür vorgesehenen Arbeitshäuser, in die arbeitsfähige Arme gehen mussten, scheinenje- denfalls diesen Zweck erfüllt zu haben. Diesen Grundsätzen lagen durch Liberalismus und Utili­tarismus geprägte Vorstellungen zugrunde (Ritter, 1991). Die Abschreckende Wirkung sollte zu mehr Selbstständigkeit erziehen. Sie sollte emanzipatorisch wirken und die Arbeitsdisziplin steigern. Die eigene Arbeitskraft hatte sich dem Markt zu stellen und dessen spezifischen Logiken zu folgen. Es wird deutlich, dass das neue Armengesetz nicht nur eine wirtschaftliche und eine poli­tische Dimension besitzt. Es sollte zudem auch erzieherisch wirken. Die Arbeiter und die Almosen­empfänger wurden durch die Arbeitshäuser strikt voneinander getrennt. Wie als eine organische Staatsmetapher beschrieben, sollte sich die Schicht der Arbeiter nicht von der Schicht der Pauper anstecken lassen. Vielmehr wurde das Ideal der moralischen Integrität gestärkt. Durch die Armen­hilfe sollte die Sicherung der Unabhängigkeit der Arbeit gewährleistet und damit ihre Paupe- risierung verhindert werden (Pugh, 1994). Sparsamkeit war das hohe Gut. Dadurch konnte, so die Zielvorstellung, den Gefahren der Krankheit, des Alters oder des Arbeitsplatzverlustes vorgebeugt werden.

Dieses neue Armengesetz sah charakterliche Defekte als die Hauptursache für die Armut der arbeitsfähigen Bevölkerungsteile (Ritter, 1991). Unter diesem Aspekt wurde auch das Problem der rasant steigenden Bevölkerungszahlen und den damit einhergehenden Nebenprodukten, wie das Ausbrechen von Epidemien, gesehen. Aus heutiger Sicht wird deutlich, wie weit diese Betrach­tungsweise an den wirklichen sozialen und wirtschaftlichen Gründen vorbei geht. Besonders das Argument des Sparens für die Zukunft war fern der Realität. Für die Masse der gelernten und unge­lernten Arbeiter war es wegen des niedrigen Lohnniveaus nahezu unmöglich Rücklagen für das Alter oder Notsituationen zu bilden. Außerdem wurden Löhne häufig unregelmäßig gezahlt, was das Haushalten zusätzlich erschwerte (Ritter, 1991). Auch waren die Verdienstmöglichkleiten regio­nal unterschiedlich verteilt. In ländlich-agrarisch geprägten Gebieten waren die Löhne äußerst nied­rig. Und in den Industriebezirken stellte sich das Problem der saison- und konjunkturbedingten Arbeitslosigkeit.

Zunächst versprach das neue Armengesetz Einsparungen im öffentlichen Haushalt. Einsparungen, die auf Kosten großer Teile der Bevölkerung gemacht wurden. Das Ziel, die Arbeitslosigkeit zu be­seitigen und gleichzeitig die Produktivität der Arbeiter zu erhöhen, wurde damit jedoch nicht wirklich erreicht. Vielmehr verschlimmerte sich in weiten Bereichen die Notlage, was Anreize für andere Formen der sozialen Sicherheit außerhalb des staatlichen Rahmens schaffte.

3.3 Erste kollektivistische Formen der gegenseitigen Unterstützung

Obwohl das neue Armenegesetz von 1834 bestehende Systeme der sozialen Sicherheit zurückge­bildet hat, kann es durchaus zur Geschichte der britischen Sozialpolitik zählen. Denn auf eine indi­rekte Weise förderte es den Ausbau von kollektiven Formen der Unterstützung. Besonders die auf eigene Initiative erhaltene Beihilfe, deren Anspruch durch die Mitgliedschaft in Kooperativen, Ge­werkschaften und so genannten Friendly Societies (Hilfsvereinen) erworben wurde, war sehr popu­lär (Pugh, 1994). Kleine wöchentliche Beiträge ermöglichten ein Sterbe- oder Krankengeld. Jene Form der gegenseitigen Hilfe bildete sich zunächst spontan auf lokaler Ebene. Aus einer Gewohn­heit der Arbeiter kleinere Summen ihres Lohns für einen gemeinsamen Zweck zu spenden entwi­ckelten sich mit der Zeit Friendly Societies, oder auch Gewerkschaften, Wohnungsbaugenossen­schaften, Volksbanken & Sparkassen und andere Kooperativen. Diese Organisationen waren nicht staatlich begründet und beruhten auf Freiwilligkeit. Diese Form der Selbsthilfe gab den Arbeitern und ihren Familien zumindest eine Möglichkeit sich gegen vorhersehbare Notlagen zu sichern7. Gleichzeitig lässt ihr Erfolg auch deutlich werden, welch großes Bedürfnis es für diese Art von Organisationen in Großbritannien des 19. Jahrhunderts gab. Die Notwendigkeit zeigte sich durch die Praxis der kollektivistischen Unterstützung und verwarf demnach die Vorstellungen indivi­dualistischer Selbsthilfe. Auf der anderen Seite könnte man argumentieren, dass die kollektivis­tische Formen der Hilfe dem liberalen Verständnis jener Zeit nicht entgegenstand. Immerhin waren es keine staatlichen Organisationen, ihre Mitgliedschaft beruhte auf Freiwilligkeit und die Gründung beruhte auf der Initiative der Arbeiter selbst.

Jedoch ließ diese Form der privaten kollektivistischen Hilfe die Notwendigkeit einer staatlichen Hilfe nicht überflüssig werden. Sie allein konnte das Problem bei weitem nicht lösen. Denn für schlecht bezahlte Arbeiter war es nahezu unmöglich diesen Genossenschaften, Kooperativen und Gewerkschaften beizutreten und damit von ihnen zu profitieren. Zudem wurden Frauen besonders durch diese Arrangements benachteiligt. Die Hilfe betraf in erster Linie arbeitende Männer und wurde nicht auf ihre Angehörigen ausgeweitet (Jones, 1993). Überhaupt war das Niveau der Hilfe dieser Organisation sehr bescheiden und unterschied sich untereinander sehr stark. Auch konnte die private Form der Sozialversicherung zu dieser Zeit in Großbritannien kein angemessener Ersatz für einen staatliche Eingriff sein, da ihre finanzielle Basis zu schwach war. Oft wurden sie von der Zah­lungsunfähigkeit bedroht, da viele Arbeiter die regelmäßigen Beiträge nicht mehr leisten konnten und die ansteigende Lebenserwartung der Mitglieder die Kassen belastete (Pugh, 1994).

Neben dieser Form der kooperativen sozialen Sicherung gab es in Großbritannien des 19. Jahr­hunderts noch eine weitere Form der nichtstaatlichen Unterstützung. Philanthrophische Vereine und Sozietäten entstanden, die als Bewegungen zwischen den Klassen auftauchten. Jene, die haben, kümmerten sich um jene, die nicht haben. Dies fand auf verschiedenen Ebenen und in fast jeder größeren Gemeinde statt. Die Motive waren sehr gemischt. Es existierte kein Hauptgrund dafür (Jones, 1993). Von altruistischen Vorhaben, über religiös motivierten Taten, bis hin zur Verbesse­rung des sozialen Ansehens reichten die Beweggründe. Viele dieser philanthrophischen Vereini­gungen hatten ihren Ursprung in der oberen Mittelklasse und waren oft mit einer christlichen Über­zeugung vermischt. Neben der reinen Unterstützungsleistung propagierten sie nicht selten Werte ih­rer Klasse. Wie Sauberkeit, das Fernbleiben vom Alkohol oder die Selbstverantwortlichkeit.

[...]


1 Beispielsweise den Ansatz einer geographischen Einordnung mit den Begriffspaaren westeuropäischer und mittel- bzw. osteuropäischer Nationalstaat. Oder auch die Unterscheidung zwischen den Konzepten einer Abstammungsgemeinschaft und einer politischen Willensgemeinschaft. Ferner wäre eine Einordnung nach einem zeitlich Bezug möglich. Also eine Differenzierung zwischen früher und später Nation. Ähnliches versucht die Gegenüberstellung von ethnischer und politischer Nation, oder von progressiven und reaktionären Nationalismus.

2 Diese Union hatte nur bis 1921 bestand. Durch einen Vertrag entstand der irische Freistaat, dem sich die nordirischen Provinzen nicht anschlossen und somit das heutigen Gebilde des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland etablierten.

3 Aus kontinentaleuropäisch-juristischer Sicht ähnlich ungewöhnlich ist die britische Rechtstradition des Common Law, welche Züge des Gewohnheitsrechts trägt. Fortgeltendes Recht bezieht sich dabei nicht auf niedergeschriebene Gesetze, sondern stützt sich auf entsprechende richterliche Urteile der Vergangenheit.

4 Die Whigs spalteten sich in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts aufgrund der Frage einer Autonomie für Irland und verloren die Mehrheit ihrer Mitglieder an die Konservativen (Saalfeld, 1998).

5 Diese Idee des Kombilohnmodells wird noch in heutige Debatten aufgegriffen.

6 Neben dem funktionalistischen Ansatz, der die Struktur des Kapitalismus hervorhebt, bietet Lessenich noch konflikttheoretische und institutionalistische Erklärungsansätze für das Entstehen von Sozialstaatlichkeit an. Konflikttheoretische Ansätze berufen sich dabei auf eine demokratische Struktur, während institutionalistische Ansätze die Staatsstrukturenhervorheben (Lessenich, 2000).

7 Bis 1900 hielten diese Organisationen an die fünf Millionen Versicherungspolicen (Pugh, 1994).

Final del extracto de 70 páginas

Detalles

Título
Neuer Wein in alten Schläuchen - Zur Geschichte und Entwicklung einer flexiblen britischen Sozialpolitik
Universidad
University of Leipzig  (Institut für Soziologie )
Curso
Seminar: Nation und soziale Sicherheit
Calificación
1,3
Autores
Año
2007
Páginas
70
No. de catálogo
V71760
ISBN (Ebook)
9783638635257
ISBN (Libro)
9783638843041
Tamaño de fichero
961 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Neuer, Wein, Schläuchen, Geschichte, Entwicklung, Sozialpolitik, Seminar, Nation, Sicherheit
Citar trabajo
T. Winzler (Autor)J. Böttcher (Autor)T. Gruchmann (Autor)V. Oley (Autor), 2007, Neuer Wein in alten Schläuchen - Zur Geschichte und Entwicklung einer flexiblen britischen Sozialpolitik, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/71760

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