„Die Erinnerungen aus demselben [scil. meinem eigentlichen Dasein] scheinen mir alle nur Erinnerungen von Erinnerungen zu sein“2, schreibt Karl Philipp Moritz in seinem 1783 im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde erschienenen Artikel „Zur Seelennaturkunde – Erinnerungen aus den frühesten Jahren der Kindheit“. So belehrt er den Leser wage über den Status, den er den frühen Kindheitserinnerungen beimisst, vermutlich weil seine Gedanken selbst noch ebenso wage bleiben. Wie die Erinnerungen an einen Traum, so kommt ihm zum Beispiel die später im Anton Reiser wieder aufgegriffene Idee der Mutter, die ihn, „in ihren Mantel gehüllt, auf dem Arm trug“3, vor und sie wird somit weniger als ein realer Eindruck, mehr als ein Produkt der Einbildungskraft begriffen. Vermittelt scheinen Moritz die frühen Kindheitserinnerungen zu sein, ihr Bezug zu realen Erlebnissen ist dahin gestellt. Seine Gedanken muten uns bei all ihrer Wagheit als ein Vorgriff auf Freud’sche Theoriebildung an. Auch Freud zufolge werden Erinnerungen konstruiert, sie tauchen nicht unvermittelt auf, so wie es unser eigenes Erleben uns häufig glauben lässt. Besonders die frühen Kindheitserinnerungen stehen seiner Meinung nach im Dienste späterer Tendenzen und sind strukturell analog zu Mythen Phantasieprodukte, die als Deckerinnerungen an die Stelle der infantilen Amnesie treten.
Goldmann, der die Rahmenbedingung der Gelehrtenautobiographien des 18. Jahrhunderts als ein variables Grundschema detailliert aufzeigt,4 identifiziert unterschiedliche gattungskonstituierende und epochenspezifische Topoi, die sich auch im Anton Reiser wieder finden. Sie lassen sich seiner Ansicht nach allesamt „in sozialanthropologischer Perspektive als Schwellensituationen auffassen“.5 Der Begriff Schwellensituation steht hier für Initiationsprozesse von sozialer Bedeutsamkeit, die das Individuum auf dem Weg hin zur Findung der eigenen Positionierung in Gemeinschaft durchschreitet. Da sich in der damaligen Pädagogik die Einsicht in die Relevanz früher Kindheitserfahrungen für eben jene Positions- und damit Identitätsfindung durchgesetzt hat, beginnt in den autobiographischen Erinnerungen die Fixierung auf die frühesten prägenden Kindheitserlebnisse.
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1 Freud (2000): Seite 553.
2 Moritz (1993): Seite 106.
3 ebd.: Seite 104.
4 Goldmann (1994): Seite 660ff.
5 Goldmann (1994): Seite 668.
Inhaltsverzeichnis
- Prolegomena: Imagines als „Erinnerungen von Erinnerungen“
- Die topische Struktur der Mutter-Imago
- Initiationsmodell als narrativer Rahmen
- Ikonographischer Typus und Identitätstopos
- Unrecht-Tun und Unrecht-Leiden
- Melancholie, suizidale Gedanken und Fluchtmotiv
- Beziehungssymbol Lesen
- Bilanz und Ausblick: Die Ambivalenz der Mutter-Imago für Anton und den Erzähler
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit untersucht die Mutter-Imago in Karl Philipp Moritz‘ „Anton Reiser“ im Kontext der literarischen Autobiographien des 18. Jahrhunderts. Sie analysiert die topische Struktur der Mutterfigur im Roman, wobei die Frage nach der Beziehung zwischen realen Erfahrungen und literarischer Gestaltung im Mittelpunkt steht. Die Arbeit setzt sich mit der Frage auseinander, inwieweit sich die Mutter-Imago als ein psychologisches Konstrukt verstehen lässt und welche Bedeutung sie für die narrative Konstruktion von Identität im Roman hat.
- Topische Struktur der Mutter-Imago
- Funktion der Mutterfigur im Rahmen der autobiographischen Erzählung
- Die Bedeutung der Mutter-Imago für die Identitätsfindung des Protagonisten
- Die Rolle der frühen Kindheitserfahrungen im Roman
- Verbindungen zu psychoanalytischen Theorien
Zusammenfassung der Kapitel
- Prolegomena: Imagines als „Erinnerungen von Erinnerungen“: Dieses Kapitel legt den Grundstein für die Untersuchung der Mutter-Imago in „Anton Reiser“. Es wird die Problematik der frühen Kindheitserinnerungen und deren Konstruktion in der Erinnerung beleuchtet. Moritz‘ Gedanken über die „Erinnerungen von Erinnerungen“ werden mit Freud'schen Theorien zur Erinnerungsbildung und den Konzepten der infantilen Amnesie und der Konstruktion von Deckerinnerungen in Verbindung gesetzt.
- Die topische Struktur der Mutter-Imago: Das Kapitel beleuchtet die strukturellen Elemente der Mutter-Imago im „Anton Reiser“. Es werden die Initiationsmodelle, die ikonographischen Typen und die Identitätstopoi, die im Roman eine Rolle spielen, erörtert. Die Arbeit untersucht auch die Aspekte von Unrecht-Tun und Unrecht-Leiden sowie Melancholie, suizidale Gedanken und Fluchtmotiv, die mit der Mutterfigur in Verbindung stehen.
- Bilanz und Ausblick: Die Ambivalenz der Mutter-Imago für Anton und den Erzähler: Dieses Kapitel wird nicht in der Vorschau zusammengefasst, um Spoiler zu vermeiden.
Schlüsselwörter
Die Arbeit beschäftigt sich mit literarischen Autobiographien, der Mutter-Imago, der topischen Struktur, Initiationsmodellen, der Kindheitserinnerung, psychoanalytischen Theorien, Karl Philipp Moritz, „Anton Reiser“, Identität und Erinnerung.
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- Clara Maria Schreiber (Autor), 2007, Topische Struktur und Erzählfunktion der Mutter-Imago im Anton Reiser, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/72024