Zu den Entwicklungstendenzen des in Deutschland gesprochenen Russisch


Dossier / Travail, 2003

26 Pages, Note: gut (2,0)


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Das mitgebrachte Russisch: die Ausgangssituation

Besonderheiten des Russischen der Gegenwart bei den Emigranten
Lexik
Entlehnungen
Lehnbedeutungen: „Falsche Freunde“
Lehnübersetzungen
Wortbildung
Diminutiva
Hybride Verben
Einfluss deutscher Wortbildungsmodelle
Phonetik und Intonation
Intonation
Phonetische Veränderungen
Morphologie
Integration der Lehnwörter
Falsche Genuszuschreibung
Fehler im Gebrauch von Verben und Verbalformen
Abweichungen im Gebrauch von Zahlwörtern
Fehler im Gebrauch von Präpositionen
Syntax
Wortstellung
Gebrauch von Konjunktionen
Indirekte Fragesätze
Artikelähnliche Verwendung von Numeralien

Prognosen

Zusammenfassung

Literatur

Einleitung

Das Russische der russischsprachigen Emigranten, die in einer fremdsprachigen Umgebung leben, also das `Russisch in der Diaspora` (Steinke 1999), steht schon seit einigen Jahren im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses vieler Linguisten (Zemskaja 2001; Protasova 1996; Glovinskaja 1999; 2001; Pfandl 1994;1997;1998; Golubeva-Monatkina 1993; 1994; Andrews 1997; Steinke 1999 u.a.). In den oben genannten Veröffentlichungen wird das Hauptinteresse entweder der Analyse der Sprache einer der vier Emigrationswellen gewidmet, wie z.B. im Buch von Elena Zemskaja (2001), wo man eine sehr ausführliche Beschreibung der Sprache der 1. Emigrationswelle findet. Oder es wird nach Interferenzen[1] im Russischen der Emigranten, die durch Kontakt mit den Sprachen der Aufnahmeländer entstanden sind, z.B. durch das Englische (Andrews 1997) oder das Französische (Golubeva-Monatkina 1994) und durch das Deutsche (Pfandl 1994;1997;1998; Protasova 1996) geforscht. Daneben gibt es zwei Artikel von Glovinskaja (1999; 2001), in denen diese Autorin einige Sprachveränderungserscheinungen, die sowohl im Mutterland- als auch im Diasporarussischen der Gegenwart vollzogen wurden, darstellt und analysiert. Und schließlich ist eine Arbeit zur Entstehung der russischen Diaspora im Ausland von Steinke (1999) zu nennen, die neben einer kurzen Geschichte der russischen Emigration eine Reihe von Herangehensweisen zur Erforschung der Diasporasprache darbietet.

Im Mittelpunkt der Betrachtung der vorliegenden Arbeit stehen die Darstellung und Analyse der Besonderheiten des Emigrantenrussischen, und zwar anhand von Beispielen aus der Sprache von Personen, die vor allem ab Mitte der 80er Jahre zuerst aus der UdSSR, später ab 1991 aus Russland oder anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland bzw. Österreich emigriert sind, also die Besonderheiten der russischen Sprache der in deutschsprachigen Ländern lebenden russischsprachigen Emigranten der sog. vierten Emigrationswelle. Dabei soll erstens anhand der aus den verschiedenen Literaturquellen entnommenen Beispiele der Emigrantensprache festgestellt werden, ob überhaupt und welche Abweichungen von der Sprachnorm unter dem deutschen Einfluss im Emigrantenrussischen der Gegenwart entstanden sind. Es sollen in diesem Zusammenhang möglichst alle Sprachebenen, vor allem aber die phonetische, die lexikalische, die morphologische und die syntaktische Sprachebene untersucht werden. Zweitens soll geklärt werden auf welchen Sprachebenen die deutschen Einflüsse im Russischen der Emigranten am stärksten in Erscheinung treten. Unter anderem ist zu diskutieren, welche möglichen Entwicklungsperspektiven es für die russische Sprache der vierten Emigrationswelle in Deutschland bzw. Österreich gibt.

Das mitgebrachte Russisch: die Ausgangssituation

Bei den russischsprachigen Emigranten der vierten Emigrationswelle, die heute in Deutschland und Österreich leben, handelt es sich in erster Linie um aus Russland und anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion stammende ethnische Deutsche, die sog. Russlanddeutschen, dann um diejenigen Personen, die sich mit einem/er Bürger/in der Bundesrepublik Deutschland oder der Bundesrepublik Österreich verheiratet haben. Einen weiteren großen Teil von russischsprachigen Emigranten machen diejenigen Personen aus, die in der Zeit nach der Perestrojka, die durch wirtschaftliche Instabilität in ihren Heimatländern (Russland und anderen GUS-Ländern) gekennzeichnet war, ein Arbeitsverhältnis in Deutschland oder Österreich aufgenommen haben, darunter viele Naturwissenschaftler, Musiker, Schauspieler und Künstler. Deutschland und Österreich nehmen auch Juden (sog. Kontingentflüchtlinge) aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion auf (vgl. Protasova 1996: 53; Pfandl 1998: 372-374).

Die meisten Emigranten der vierten Welle beherrschen das Russische als ihre Muttersprache (родной язык), d.h., sie haben es in der Kindheit als Erstsprache auf natürliche Weise (zuerst von den Eltern und dann durch den Muttersprachenunterricht) erlernt und seit ihrer Kindheit bis zum Zeitpunkt der Emigration gesprochen. Das Russische ist auch die Sprache, mit der sich die Emigranten selbst identifizieren. Auch bei den Emigranten deutscher und jüdischer Abstammung handelt es sich ausschließlich um russische Muttersprachler[2].

Wenn auch von den meisten nach Deutschland und Österreich emigrierten Personen das Russische als ihre Muttersprache angesehen wird (vgl. Protasova1996: 52; Meng 2001:447; Pfandl 1998:374), so sind doch in der Russischkompetenz dieser Personen Unterschiede bemerkbar.

Als erstes sind die regional bedingten Sprachunterschiede im mitgebrachten Russischen der Emigranten zu nennen: denn es ist bekannt, dass viele der Emigranten nicht nur aus Großstädten wie St. Petersburg und Moskau, sondern auch aus den verschiedensten Regionen Russlands und sogar aus anderen Staaten wie der Ukraine, Moldawien, Kasachstan, Usbekistan usw. stammen. Und man muss kein Linguist sein, um zu verstehen, dass das in der Ukraine und in Kasachstan gesprochene Russische - sogar die Standardsprache (литературный язык)[3], und sogar die Formen des russischen Substandards (просторечие)[4] - nicht dasselbe sein kann wie dasjenige, welches in Moskau und St. Petersburg zu hören ist. Viele der Emigranten haben außer dem Russischen die Sprachen der Völker beherrscht, unter denen sie gelebt haben, was sicherlich auch einen Einfluss auf ihr Russisch hatte.

Die Emigranten haben schließlich alle ein unterschiedliches Bildungsniveau. Zu dieser Emigrationswelle gehören außer den hoch qualifizierten Akademikern, die ein Arbeitsverhältnis in Deutschland bzw. Österreich aufgenommen haben, auch viele Personen, die zum Zeitpunkt der Emigration keine akademische Bildung erworben haben (vor allem bei Russlanddeutschen ist der Prozentsatz der Personen ohne höhere Bildung hoch). D.h., einige Emigranten beherrschen die russische Standardsprache (Norm des Russischen) ausgezeichnet, andere dagegen nicht umfassend. Das hat zur Folge, dass die mitgebrachte Russischkompetenz, das Ausgangsrussische der Emigranten, sich nach der ursprünglichen Milieuzugehörigkeit der Sprachträger (ihrem sozialen Status) differenziert.

Es existieren außerdem generationsbedingte Unterschiede im mitgebrachten Russischen der russischsprachigen Emigranten, die in Deutschland und in Österreich leben. Während bei im Erwachsenenalter emigrierten Personen das Russische zum Zeitpunkt der Emigration voll ausgebildet war (durch den Russischunterricht an der Mittel- bzw. der weiterführenden Schule), befand sich die Sprache der jüngeren Emigranten, die im Kindesalter emigrierten, gerade am Anfang oder im Prozess der Aneignung der Lese- und Schreibnormen des Russischen. Kinder, die im Vorschulalter nach Deutschland bzw. Österreich kamen, haben das Russische nur noch sozusagen auf elementare Weise, d.h. nur durch Hören und Sprechen erlernt und verfügten weder über russische Lese- noch über russische Schreibfähigkeiten. Da es in den Aufnahmeländern leider nicht viele Voraussetzungen für die schulische Weiterförderung der mitgebrachten Russischfähigkeiten gibt, kann man nicht ausschließen, dass sich die russische Sprache der Personen, die im Alter von 3 bis 14 Jahren emigriert sind, in der neuen Umgebung entweder in nicht altersgemäßer Weise oder im Extremfall nur in gesprochener Form weiterentwickelt. Es ist zu erwarten, dass bei allen früh Emigrierten ihre russische Sprache unter der Wirkung der neuen, immer dominanter werdenden deutschen Sprache gerade durch ihren niedrigen Aneignungsgrad in viel höherem Maße als die der erwachsenen Emigranten beeinträchtigt wird.

Charakteristisch für Emigranten der vierten Emigrationswelle, die nach Deutschland und Österreich emigriert sind, ist einerseits die geringe oder sogar abwesende Kenntniss der deutschen Sprache bei der Einreise, andererseits aber auch der starke Wunsch, die deutsche Sprache so schnell wie möglich an Ort und Stelle zu lernen und zu sprechen. Denn für viele, die Deutschland bzw. Österreich als den Ort, an dem sie für immer bleiben wollen, ausgewählt haben, sind gute Deutschkenntnisse mit besseren Chancen auf dem Arbeitsmarkt und besseren Aufstiegsmöglichkeiten usw. verbunden (vgl. Zemskaja 1999: 772).

Zusammenfassend lässt sich bezüglich der russischen Sprache, die im „Gepäck“ der Emigranten der vierten Emigrationswelle mit nach Deutschland bzw. Österreich genommen ist, sagen, dass sie spezifisch, komplex und nicht einheitlich ist. Sie kann bei einigen Emigranten regional oder national gefärbt sein, sie kann sämtliche Elemente des russischen Substandards enthalten, sie variiert zwischen hohem und geringem sprachlichen Normbewusstsein, was natürlich in der Situation des Sprachkontaktes mit der deutschen Sprache Konsequenzen für die Erhaltung und die Weiterentwicklung der mitgebrachten russischen sprachlichen Kompetenzen haben kann.

Besonderheiten des Russischen der Gegenwart bei den Emigranten

In der Emigration lernen die Emigranten eine für sie neue Sprache, das Deutsche, der mit der Zeit eine immer wichtiger werdende Rolle in ihrem Leben zukommt. Daraus resultiert die „klassische“ Zweisprachigkeitssituation: das neuerlernte Deutsch findet bei russischsprachigen Emigranten in fast allen Lebensbereichen Verwendung und wird zu einer Sprache der externen Kommunikation, während sich das Russische mehr und mehr auf die Domäne der Familie und auf bestimmte soziale Gruppe zurückzieht. Die Emigranten werden also zweisprachig, mit dem Russischen als Erstsprache (die zuerst gelernte Sprache) und dem Deutschen als Zweit-, aber in der Terminologie von Zemskaja (1999:769) sogar als Primärsprache (die im Sprachgebrauch wichtigste Sprache). Die so entstandene Diglossie[5] beeinflusst natürlich das Russische der Emigranten auf allen Sprachebenen - auf der Ebene der Phonologie, der der Morphologie, der der Wortbildung und der der Syntax, besonders stark aber auf der lexikalischen Ebene.

Lexik

Veränderungen in der Lexik tauchen in der russischen Sprache der Emigranten als erstes auf, sie sind leicht erkennbar und kommen meist in Form von direkten Entlehnungen und Lehnübersetzungen zur Geltung.

Entlehnungen

1)Die erste zahlreiche Gruppe von deutschen Entlehnungen in der Sprache der russisch sprechenden Emigranten bezieht sich auf die Prozesse der Emigration und Integration. Айнглидерунг год идет (statt интеграция) ; она умшулунги делает (statt переквалификацию); я весь день сижу на этих спрахкурсах (statt языковых курсах) usw. (Protasova 1996: 57). So hört man in der russischen Rede auf Deutschlands Straßen unter anderem Wörter wie флюхтлинг (Flüchtling), социал (eine Abkürzung von Sozialhilfe), фертрибен (vielleicht eine Abkürzung von Vertriebenenausweis) , аусзидлер (Aussiedler), анмельдунг (Anmeldung) , шпрахи (Abkürzung von Sprachkurs), хайм (Übergangsheim) usw . Mit diesen und ähnlichen deutschen Wörtern kommunizieren Emigranten untereinander ihr Wissen über bereits erlebte Umstände, Bedingungen und den Verlauf der Emigration und der Integration.

2)Die zweite, gleichfalls sehr große Gruppe von Entlehnungen bezieht sich auf die Bezeichnungen verschiedener deutscher Behörden und Institutionen: в герихт письмо пишем (statt в суд) ; надо писать бриф (statt письмо) в министериум (statt в министерство) ; обращаемся в амты (statt в ведомства) usw. (Protasova 1996: 57).

3)In die russische Lexik der Emigranten gehen zahlreiche Wörter und Termini aus dem deutschen Finanz-, dem Versicherungs- und dem Steuerwesen usw. unübersetzt ein, z.B.: будешь платить кранкенферзихерунг (statt медицинскую страховку) ; киндергельд ей платят (statt пособие на ребенка) ; здесь существует такой штойеркласс (statt налоговая категория) usw. (Meng 2001: 322-325).

4)Eine weitere große Gruppe von entlehnten deutschen Lexemen bezieht sich auf Funktionsbereiche, die mit Beruf und Arbeit zu tun haben. Z. B. werden nach zahlreichen Beobachtungen von Katharina Meng (2001: 453-454) die Bezeichnungen von verschiedenen „neuen“ Berufen, für deren Benennung es keine genaue Entsprechungen im Herkunftsland gab, unübersetzt ins Russisch der Emigranten übernommen: so arbeitet man in Deutschland als хаусмайстер, бюрокауффрау, штаплер, usw. Man findet eine Arbeit und bekommt dort einen Vertrag: и проработал год- фертраг (statt договор) у него был (Protasova 1996: 58). Man kann ein befristetes (was bis heute in Russland nicht üblich ist) oder ein unbefristetes Arbeitsverhältnis haben: да, он фест (statt у него бессрочный договор) (Meng 2001: 167). Das Wort фест wird hier in der Bedeutung `fest angestellt sein` verwendet.

Die Liste der deutschen Entlehnungen aus diesen vier Gruppen kann beliebig verlängert werden. Das häufige Auftreten derartiger Entlehnungen in der Sprache der Emigranten kann auf verschiedenen, einander überlagernden Gründen beruhen:

Einerseits ist die Anwendungsfrequenz (Vorkommen) dieser Wörter in neuer Realität enorm hoch. Denn sind etwa nicht Wörter wie Versicherung, Anmeldung, Sprachkurs usw. die allerersten deutschen Wörter, die die Emigranten in der neuen Umgebung lernen müssen? Diese Wörter benennen ja etwas für sie ganz Wichtiges, und zwar die Bedingungen und Umstände der Existenz in der neuen Heimat. Denn was macht ein Emigrant gleich nach der Einreise als allererstes? Er schließt eine Krankenversicherung ab, er meldet sich bei der Meldebehörde an, er besucht einen obligatorischen Deutschkurs usw.

[...]


[1] Unter Interferenz ist in dieser Arbeit die “durch die Beeinflussung von anderen sprachlichen Elementen verursachte Verletzung einer sprachlichen Norm bzw. der Prozess der Beeinflussung“ (Juhasz 1970: 9) zu verstehen.

[2] An dieser Stelle möchte ich bezüglich der sprachlichen Situation unter deutschen und jüdischen Emigranten auf die Arbeiten von Nina Berend (1998) und Moskovich (1993) verweisen.

[3] Darunter wird die Gesamtheit von Varietäten verstanden, die den Normen eines vorbildlichen Russischen entsprechen.

[4] Eine Sprachform, die den Normen der Standardsprache nicht entspricht.

[5] vom griechischen dis = zweifach, u. glossa = Sprache (DUW 1989: 345)

Fin de l'extrait de 26 pages

Résumé des informations

Titre
Zu den Entwicklungstendenzen des in Deutschland gesprochenen Russisch
Université
University of Göttingen  (Slavisches Seminar)
Cours
Die russische Sprache in der Diaspora
Note
gut (2,0)
Auteur
Année
2003
Pages
26
N° de catalogue
V72053
ISBN (ebook)
9783638628723
Taille d'un fichier
592 KB
Langue
allemand
Mots clés
Entwicklungstendenzen, Deutschland, Russisch, Sprache, Diaspora
Citation du texte
Anna Bolshukhina (Auteur), 2003, Zu den Entwicklungstendenzen des in Deutschland gesprochenen Russisch, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/72053

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