Zu: Thüring von Ringoltingens "Melusine" - Verwandtschaftsbeziehung und Erzählstruktur


Exposé Écrit pour un Séminaire / Cours, 2005

19 Pages, Note: 1,3


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Hauptteil
2.1 Verwandtschaftsbeziehungen im Mittelalter
2.3 Die innerfamiliäre Gewaltproblematik
2.4 Die Mahrtenehe
2.5 Schicksal oder Zufall
2.6 Die Erzählstruktur

3. Abschließende Betrachtung

4. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Thüring von Ringoltingen (* um 1415, † 1483) von Bern schrieb nach einer französischen Vorlage von Couldrette (1401) im Jahr 1456 die Erzählung „Melusine“, die später als Volksbuch weite Verbreitung fand.

In ihr wird von der schönen Meerfee Melusine berichtet, die eine Ehe mit dem Grafen Reymund eingeht, um sich zu beseelen und von ihrer Naturhaftigkeit zu erlösen. Melusine erweist sich als Bauherrin und gebiert ihrem Mann zehn Söhne, von denen die ersten acht einen Makel im Gesicht tragen. Bei der Eheschließung hatte sich Melusine allerdings ausbedungen, dass sie jeden Samstag ungestört bleiben müsse. Entgegen dieser Abmachung überrascht sie Reymund im Bad, als sie wieder ihre Doppelgestalt angenommen hatte: vom Bauchnabel herab trägt sie einen langen beschuppten Wurmschwanz. Doch die Eskalation dieses Tabubruchs kann aufgehalten werden, solange Reymund für sich bewahrt, was er gesehen hat. Als jedoch sein Sohn Goffroy seinen eigenen Bruder Freymund tötet veröffentlicht Reymund Melusines Geheimnis. Melusine, ihrer Natur entlarvt, muss entschwinden. Erst im späteren Verlauf der Erzählung wird bekannt, dass Melusine einst mit ihren Schwestern Meliora und Palentine Rache an ihrem Vater Helmas übte, der wiederum das von seiner Frau Persine ausgesprochene Tabu verletzte und sie im Kindsbett besuchte. Als Strafe belegte Persine ihre Töchter jeweils mit einem Fluch.

In der uns vorliegenden Erzählung spielt die Geschichte Melusines und Reymunds allerdings eine eher untergeordnete Rolle. Der Roman ist primär eine genealogisch zentrierte Familiengeschichte, die vier Generationen umspannt und fast die gesamte damals bekannte Welt zum Handlungsort hat.

Ungeklärt bleiben die Fragen: Ist der Tabubruch schicksalhaft oder zwangsläufig? Ist der Fluch Melusines unentrinnbar? Wer ist Schuld an der letztendlichen Erfüllung der Prophezeiung: Reymund, der sich nicht an sein Versprechen hält? Oder Melusine, wegen der er dieses Versprechen überhaupt eingehen muss? Oder ist es Goffroy, dessen Brudermord Auslöser des Tabubruchs ist? Oder ist es Persine, die Urheberin des Fluches? Wird der Fluch physisch in Form von entstellten Körpermerkmalen an die Söhne Melusines weitervererbt? Oder gibt es eine Chance auf Erlösung?

Der Versuch diese Fragen zu beantworten und in der Verwandtschaftsbeziehung und Erzählstruktur zu analysieren soll Inhalt dieser Hausarbeit sein.

2. Hauptteil

2.1 Verwandtschaftsbeziehungen im Mittelalter

Verwandtschaft stellt sich in der mittelalterlichen Perspektive immer über die männlichen Subjekte her, die sich im Austausch von Frauen, dem so genannten Frauentausch, zueinander in Beziehung setzten. Frauen haben dabei einen Objekt­status. Eine selbstständige weibliche Identität war in diesem Weltbild somit nicht vorgesehen. Die Figur Melusine ist aber nicht etwa "Objekt des Frauentauschs", sondern "Subjekt der Dynastiebildung", "Glücks- und Genealogieproduzentin", "Kulturstifterin und Mutter eines adligen Geschlechts". Man kann Melusine also als de­konstru­ierenden Kommentar zu den kulturellen Setzungen von Verwandtschaft im Mittelalter lesen (vgl. Klinger 2003, S. 47). Auch die Inzestproblematik spielt in diesem Roman keine Rolle, was für die damaligen Verhältnisse zwar vorbildlich christlich war, aber in den seltensten Fällen eingehalten wurde bzw. eingehalten werden konnte.

2.2 Verwandtschaftsbeziehungen anhand des Stammbaumes

Im folgenden Abschnitt will ich auf Zusammenhänge und Auffälligkeiten hinsichtlich Melusines und Reymunds Genealogie eingehen (zur Veranschaulichung dient der Stammbaum).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Zunächst fällt bei der Betrachtung des Stammbaumes auf, dass Melusine und Reymund jeweils die Jüngsten von insgesamt drei Geschwistern sind, wobei Melusines Eltern ausschließlich weibliche und Reymunds Eltern ausschließlich männliche Nachkommen zeugten. Die Geschwister Melusines und Reymunds haben alle keine Nachkommen. Die Genealogie von Palentine und Meliora ist zudem noch eingeschränkt, da ihre Erlösung und somit überhaupt irdisches Leben und die Ermöglichung sich fortzupflanzen abhängig von Melusine bzw. ihren Nachkommen ist.

Die mittelalterliche Erblinie wird zunächst befolgt, denn sowie Reymunds ältester Bruder als auch Melusines älteste Schwester Palentine erben den väterlichen Besitz. Palentine erbt allerdings eher indirekt, da sie von ihrer Mutter dazu verflucht wurde den Schatz ihres Vaters auf dem Berg Rottnische im Königreich Arragon zu bewachen. Melusine und Reymund erben also nicht, erlangen aber trotzdem durch eine List und durch Melusines überirdische Fähigkeiten weltlichen materiellen Reichtum. Nachdem Goffroy seinen Onkel Graf vom Forst (Reymunds ältesten Bruder) in den Tod treibt und das Erbe an Reymund übergeht (sein zweiter Bruder ist offensichtlich bereits tot, wovon aber im ganzen Roman, vermutlich wegen Bedeutungslosigkeit, nicht die Rede ist) wird die Erblinie jedoch nicht nach üblicher mittelalterlicher Tradition weiter vollzogen, denn nicht der älteste, sondern der jüngste von insgesamt zehn Söhnen erbt den väterlichen Besitz Reymunds und wird Graf vom Forst. Diese Auffälligkeit lässt sich aber vielleicht aus dem Kontext des Romans heraus erklären: die erste Gruppe der Söhne (Uriens, Gedeon, Gyot, Anthonius und Reinhard) hat sich bereits, verstreut in der damals bekannten Welt, erfolgreich Land erworben. Der nächst ältere Sohn Goffroy hat sich, zwar nicht offiziell, aber innerfamiliär, durch den begangenen Brudermord enterbt. Der siebente Sohn Freymund starb, wie bereits erwähnt, durch die Hand seines Bruders Goffroy und Horribel wurde auf Veranlassung Melusines von seiner Familie getötet. Dieterich, der zweitjüngste Sohn, erbt den mütterlichen Nachlass und wird Herr von Lusignan und somit fällt dem jüngsten Sohn der väterliche Besitz zu. Aber nicht nur dieser Sachverhalt verbindet Reymund mit seinem jüngsten Sohn, sondern auch die Namensgleichheit, wobei es für die damalige Zeit keineswegs unüblich war seinen Namen an die nächste Generation weiterzugeben, man wollte schließlich die Kontinuität bewahren.

Auch zwischen Reymund und seinem Sohn Goffroy besteht ein kausaler Zusammenhang, denn zum einen erinnert Goffroys Körpermerkmal, ein Eberzahn, der ihm aus dem Mund herausragt, daran, dass Reymund seinen Onkel und Adoptivvater Graf Emerich von Portier erstach, als er ihn vor einem wilden Eber retten wollte und zum anderen verbindet sie, dass sie beide ihren Onkel umgebracht haben. Auch Melusine fügt sich mit ihrem Vatermord in die innerfamiliäre Gewaltproblematik.

2.3 Die innerfamiliäre Gewaltproblematik

Die in diesem Roman vorkommende Gewalt muss man zunächst zwischen konstruktiver und destruktiver (innerfamiliärer) Gewalt unterscheiden, wobei man zugleich die zehn Söhne Melusines und Reymunds in zwei Gruppen unterteilen kann: Unter dem Punkt konstruktiver Gewalt kann man die ersten fünf Söhne (Uriens, Gedeon, Gyot, Anthonius und Reinhard) zusammenfassen. Sie sind zwar gewalttätig, dies aber eher im Sinne von kampfbereit. Sie bringen sich produktiv in die Gesellschaft ein, indem sie sie vor Heiden verteidigen. Alle fünf Söhne dieser ersten Gruppe entfernen sich von der Familie, heiraten exogam, expandieren und erhalten ein eigenes Reich und Geschlecht. Mord wird in diesem Zusammenhang durch die Expansion gerechtfertigt. Ihre Gewaltakte sind konventionell, denn sie richteten sich nach außen gegen Fremde. Anders als in der ersten Gruppe der Söhne bleibt die zweite Gruppe heimisch und expandiert nicht. Hier ist destruktive Gewalt zu verzeichnen, wobei davon nur die ersten drei Söhne dieser Gruppe betroffen sind (Goffroy, Freymund und Horribel): Goffroy übt Gewalt aktiv aus, indem er seinen Bruder und seinen Onkel tötet; Freymund und Horribel sterben eines gewaltsamen Todes durch Familienmitglieder. Die destruktive Gewalt ist unkonventionell und unproduktiv, da sie sich gegen die eigene Verwandtschaft richtet.

An dieser Stelle seien die innerfamiliären Gewalttaten noch einmal zusammenfassend genannt: Melusine tötet zusammen mit ihren Schwestern ihren Vater König Helmas von Albanien, Reymund ersticht seinen Onkel Graf Emerich von Portiers, Goffroy verbrennt seinen Bruder mitsamt hundert Mönchen und dem von Melusine erbauten Kloster und treibt seinen Onkel den Graf vom Forst in den Selbstmord und die Familie bringt auf Melusines Veranlassung hin Horribel um.

Ungeklärt bleibt für den Leser zunächst die Frage nach dem Ursprung der innerfamiliären Gewalt. Aber selbst als Melusines Genealogie aufgedeckt wird und der Leser den Grund für ihr Dasein als Mischwesen erfährt (nämlich die Tötung des eigenen Vaters und die darauf folgende Verfluchung durch die Mutter) verschiebt sich die Frage nach dem Ursprung der Gewalt um eine Generation nach hinten und wird somit noch ungreifbarer und unerklärbarer.

Goffroy spielt im Kontext der Gewalt eine zwiespältige Rolle, da er sowohl
konstruktiv (in seinen Riesenabenteurern), als auch destruktiv Gewalt ausübt. Zugleich spielt er aber auch eine zentrale Rolle im Roman, denn er ist der einzige unter seinen Geschwistern, der Mord an Verwandten begeht und dies obendrein in zwei Fällen. Zudem wird durch Goffroy verdeutlicht, dass die Gewalt ein generationsübergreifendes Familienproblem darstellt. Goffroy ist überdies hinaus eine zentrale Figur innerhalb des Romans, weil er bzw. sein begangener Brudermord der Auslöser des Tabubruchs ist und er im Laufe eines Riesenabenteuers zufällig die bis dahin unbekannte Genealogie Melusines entdeckt.

Einen großen Interpretationsspielraum bietet der von der Familie begangene Mord an Horribel, der als Handelnder noch gar nicht in die Geschichte eingetreten ist und von dem seit seiner Geburt im Text nicht mehr die Rede war. Melusine veranlasste diesen Mord, kurz bevor sie aufgrund des Tabubruchs ihres Mannes entschwand, da sie großes Unheil in Verbindung mit Horribel voraussagte: „Horribel unser Juengster Sohn / der drey Augen in die Welt hat bracht / den soltu nicht lebendig lassen / und von stundan nach meinem hinscheiden toedten und verderben / unnd ob er lebendig blieb / so moecht in dem gantzem Landt zu Portiers vor grossem Krieg / der da wuerd / kein Korn oder ander Fruecht mehr wachsen / denn er wuerde es gantz und gar verwuesten / und seine Brueder wuerde er alle bringen in ein grosse armut / und alle seine Freund / die seines Geschlechts seyn / wuerde er alle verderben und verheeren“ (Thüring von Ringoltingen, S. 88). Horribels vorausgesagte Terrorherrschaft bleibt allerdings virtuelle Zukunft. Hierbei stellt sich aber die Frage, warum Melusine die Kindstötung nicht weniger Aufsehen erregend gleich nach der Geburt durchgeführt hat? Denn sie hätte die von Horribel ausgehende Gefahr sicher schon früher wissen können. Meine Vermutung ist, dass sie aufgrund ihres Entschwindens nun nicht mehr in der Lage sei, vermittelst Erziehung dem durch Horribel drohenden Schaden entgegenzuwirken. Das besondere an dem Mord an Horribel ist außerdem, dass er kollektiv begangen wurde (Melusine bittet Reymund Horribel zu töten und Reymund beauftragt wiederum seine Diener dies zu erledigen) und dass die Gewalt hier nicht direkt, sondern eher indirekt aus einer gewissen Distanz heraus ausgeübt wird: „(...) unnd sie namen den Knaben / unnd legten ihn in einen Keller / unnd verstopffeten alle Fenster / unnd trugen nasses Heuw und nasses Stroh zu / unnd stiessen das mit Fewer an / und erstickten ihn in eim Keller zu todt (...)“ (Thüring von Ringoltingen, S. 94). Vielleicht war dieser Mord ein gemeinsamer aus Melusine hervorgegangener Versuch ein übergehen der Verwandtenmorde auf nächste Generationen zu beenden und somit das Gewaltproblem zu bändigen. Allerdings wurde der mit den Schwestern begangene Vatermord ebenfalls distanziert ausgeübt (er wurde in einem Felsen eingeschlossen und starb darin) und das Weiterbestehen der destruktiven Gewalt wurde damit nicht vermieden, sondern war vielmehr der uns bekannte Ursprung der Gewalt. Aber vielleicht schließt sich hier auch der Kreis: Am Anfang und am Ende der Gewaltproblematik steht die distanzierende Gewaltausübung als Sinnzusammenhang. Aber warum sollte ausgerechnet Horribel die Schlüsselfigur sein? Zum einen verrät dies schon der Name: ‚horribel’ ist ein französisches Adjektiv, welches übersetzt ‚schrecklich’ bedeutet und zum anderen zweiteilt Horribel die zweite Gruppe der Söhne Melusines als achtes Mitglied, wobei die übrigen aus dieser Gruppe bereits jeweils eine bestimmte Funktion haben: bei Goffroy und Freymund ist destruktive Gewalt zu verzeichnen (Goffroy übt sie aktiv aus, Freymund erleidet sie passiv) und bei den letzten beiden Söhnen Dieterich und Reymund ist scheinbar wieder die Normalität eingekehrt, denn sie sind die einzigen unter ihren Geschwistern, die keinen körperlichen Makel aufweisen, sie sind die einzigen, die von ihrer Mutter gesäugt werden (die anderen werden von einer Amme gesäugt, was aber im Mittelalter nicht ungewöhnlich, sondern beim Adel eher üblich war) und zudem übernehmen sie als einzige das elterliche Erbe. Vielleicht wird bei den letzten beiden Söhnen Dieterich und Reymund die Melusine versagte Erlösung verwirklicht.

[...]

Fin de l'extrait de 19 pages

Résumé des informations

Titre
Zu: Thüring von Ringoltingens "Melusine" - Verwandtschaftsbeziehung und Erzählstruktur
Université
University of Potsdam
Note
1,3
Auteur
Année
2005
Pages
19
N° de catalogue
V72495
ISBN (ebook)
9783638634670
ISBN (Livre)
9783638939577
Taille d'un fichier
1166 KB
Langue
allemand
Mots clés
Thüring, Ringoltingens, Melusine, Verwandtschaftsbeziehung, Erzählstruktur
Citation du texte
Silvia Asser (Auteur), 2005, Zu: Thüring von Ringoltingens "Melusine" - Verwandtschaftsbeziehung und Erzählstruktur, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/72495

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