"Erwin Piscator - Das politische Theater" - Theater zwischen Kunst und Politik


Bachelor Thesis, 2007

55 Pages, Grade: 1,3


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Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Die Entwicklung des politischen Theaters
1. Das Russische Theater zwischen 1917 und 1924
2. Das politische Theater in Deutschland zur Zeit der Weimarer Republik
3. Das proletarische Theater
4. Piscator und die Berliner Volksbühne
5. Die Piscator – Bühnen
6. Ausblicke

III. Piscators Vision eines Totaltheaters

IV. Grundlinien der soziologischen Dramaturgie

V. Piscators Bühnensystem und Inszenierungsstil
1. Publikum
2. Schauspieler
3. Bühne und Technik
4. Dramaturgische Mittel
a) Montage
b) Film und Projektionen

VI. „Trotz alledem“
1. Hintergründe
2. Die Inszenierung
3. Resümee

VII. Fazit

VIII. Bibliographie

I. Einleitung

Erwin Piscator gilt neben Max Reinhardt als einer der Erneuerer der deutschen Theaterbühne. Kein deutscher Theatermann des 20. Jahrhunderts hat mehr Aufsehen mit seinen Inszenierungen erregt und ist leidenschaftlicher kritisiert und umkämpft worden. Er hat die Theaterentwicklung in Deutschland und Europa maßgeblich durch seine Vielseitigkeit beeinflusst. Er war nicht nur Theater- und Filmregisseur, sondern auch Schauspieler, Künstler, Intendant und Theaterleiter. Piscator gilt gemeinhin als der Mann, der die Bühne, das Bühnenbild und das Bühnengeschehen technifiziert hat – durch die Verwendung theaterfremder Mittel wie dem Film, laufenden Bändern, Metallkonstruktionen und Projektionen. Die Elemente Epik, Politik und Technik formten seinen Stils, welche sich in seinen Arbeiten markant und vielseitig manifestierten.

Die Novemberrevolution und deren Scheitern haben das deutsche Theaterleben von Grund auf verändert. Die daraus resultierenden Veränderungen wurden in unterschiedlicher Art und Weise genutzt um die revolutionäre und klassenbewusste Bewegung voranzutreiben. Das daraus entstandene „Politische Theater“ ist eine der Theaterformen der Nachkriegszeit des I. Weltkrieges. Erwin Piscator und das politische Theater werden in diesem Kontext häufig miteinander in Verbindung gebracht.

Ziel dieser Hausarbeit ist es, Piscators Bühnensysteme und seinen unverwechselbaren Inszenierungsstil unter Berücksichtigung der Entwicklung des politischen Theaters in einer zusammenfassenden Darstellung abzuhandeln. Da dieses umfangreiche Thema einer Eingrenzung bedurfte, steht Erwin Piscators Schaffensperiode von 1920 bis 1931 im Vordergrund. Um die Entwicklung dieser Theaterform in Hinblick auf Piscator herleiten zu können, ist es nötig, auch die Anfänge des politischen Theaters in Russland zu untersuchen.

In diesem Zusammenhang folgt die vorliegende Ausarbeitung einem chronologischen und fortlaufenden Prinzip. Im ersten Gliederungspunkt wird die Geschichte des politischen Theaters unter Piscator mit deren einzelnen Entwicklungsstadien dargestellt. Dieser Verlauf seiner Theaterlaufbahn soll einen Gesamtüberblick schaffen und ermöglichen, seine Theatertheorien im angewandten Kontext zu verstehen. Diese theoretischen Grundlagen werden in der zweiten Hälfte dieser Hausarbeit auf ihre Anwendung geprüft. Die technischen und natürlichen Mittel, die Piscators Inszenierungsstil und seine Bühnesysteme charakterisieren, sollen in diesem Rahmen einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Folgende Fragenstellungen sollen eine Analyse ermöglichen: Welche Medien nutzt Piscator in seinen Inszenierungen und welche Aufgaben und Funktionen habe diese? Wie werden diese Medien in seine Konzepte integriert und umgesetzt?

Anhand der politischen Revue „Trotz alledem!“ soll exemplarisch sowohl Erwin Piscators multimediale und politische Inszenierungskunst als auch deren Resonanz beim Publikum und den zeitgenössischen Kritikern untersucht werden.

Der vorgegebene Rahmen dieser Ausarbeitung und der umfangreiche Themenkomplex erfordern eine Komprimierung. Aus diesem Grund muss daraufhin gewiesen werden, dass diese Darstellung nur einen begrenzten Ausschnitt dieses Themas beinhaltet.

II. Die Entwicklung des politischen Theaters

1. Das Russische Theater zwischen 1917 und 1924

Die konsequenteste Form des politischen Theaters entwickelte sich nach der Oktoberrevolution 1917 in Russland als Mittel zum Aufbau der erstrebten neuen Gesellschaft. Der Proletkult (proletarische Kultur) - die von der Oktoberrevolution ausgehende kulturrevolutionäre Bewegung - geht von der Überzeugung aus, dass eine eigenständige proletarische Kultur gebildet werden müsse. Das Theater in Russland vollzog in den Jahren zwischen dem ersten und zweiten Weltkrieg einen fundamentalen Wandel. Es wurde in einer Weise in die politischen Prozesse involviert, wie es in dieser Form noch nie der Fall gewesen war. Zwischen 1917 und 1924 kam es zu einem engen Ineinandergreifen von Theater und Politik.[1]

Es vollzog sich ein elementarer, nachhaltiger und radikaler Bruch mit jeglicher Tradition. Die zentrale theaterpolitische Forderung war die „Demokratisierung des Theaters“[2]. Darunter verstand man einerseits die Verstaatlichung und totale Umgestaltung der gesellschaftlichen, kulturellen und sozialökonomischen Strukturen und andererseits die Entwicklung neuer Theaterformen, die den Bedürfnissen der russischen Bevölkerung in der Zeit des Umbruchs der nachrevolutionären Jahren angemessen waren. Dabei standen die politische Aufklärung sowie die Aussicht auf eine neue und starke Sowjetgesellschaft im Vordergrund. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Organisationen und Schauspiel- und Theaterprojekte haben die Theatergeschichte maßgebend beeinflusst. In den Monaten, vor sowie nach der Oktoberrevolution 1917, wurde das Theater zum wichtigsten Massenmedium der Sowjetunion. Die Hauptursache für diese immense Wirksamkeit lag vor allem darin, dass die breite Masse der Bevölkerung Analphabeten waren und somit ein Medium benötigt wurde, dass nicht nur von den Intellektuellen und Gebildeten genutzt werden konnte. Hinzu kam, dass die politischen Machtverhältnisse ständig durch den Bürgerkrieg von 1918 - 1923 wechselten und nur mit Hilfe der damaligen Theater- und Spielgruppen Volksaufklärung betrieben werden konnte. Bedingt durch die Größe des Landes, schlossen sich innerhalb kürzester Zeit Tausende von Theateraktivisten zusammen und bildeten damit mehr als 5000 Spielgruppen. Diese Agitpropgruppen durchquerten mit Sketchen, Straßentheateraktionen, Agitationszügen und –schiffen das Land und verbreiteten die Parolen der Revolution.[3]

Eingeleitet wurde diese Entwicklung 1905, als es vermehrt zu Volksaufständen kam, die das gesamte russische Reich erfassten. Das Zarenregime mit seinem diktatorischen Terror und seinem unsozialen Rechtswesen realisierte in dieser Phase, dass es auf Dauer seine Machtposition nicht halten könne. Den Höhepunkt dieser Aufstände bildete der Sturm auf das Winterpalais in St. Petersburg, bei dem es zum Ausbruch der Oktoberrevolution kam und die Abdankung des Zaren 1917 in Folge hatte. Die Revolution wurde von dem Proletariat gefeiert und die Verbreitung der kommunistischen Ideen begann.[4]

Im künstlerischen Bereich bewirkte diese Umbruchsphase eine unglaubliche experimentelle Kreativität. Besonders bei den Literaten und bildenden Künstlern fand die Revolution Anhänger, die mit ihren eigenen Mitteln der Kunst auf diese Bewegung eingingen. Einer der bekanntesten Vertreter war Maxim Gorki, der mit seinem Stück „Nachtasyl“ weltberühmt wurde. „Sein Drama war eine erschütternde Anklage gegen Willkür und Ausbeutung, ein erschreckendes Inferno menschlichen Leidens, moralische Verkommenheit und irdischer Resignation mit einem Schimmer übernatürlicher Weisheit.“[5] Er wurde damit zur Symbolfigur für diesen revolutionären Kampf der Künstler.

Neben den Agitpropvorstellungen fanden zwischen 1918 und 1923 die weitaus spektakuläreren Massenveranstaltungen und Massentheateraufführungen mit Sprechchören und Gesängen, mit dröhnendem Aufgebot von Panzern und Geschützen statt. Die imposanteste Massenpantomime war die „Erstürmung des Winterpalais“ am 7. November 1920, die anlässlich des 3. Jahrestages der bolschewistischen Oktoberrevolution vor dem originalen Schauplatz aufgeführt wurde. Mit mehr als 30.000 Akteuren, wurde dieses historische Ereignis theatralisch inszeniert und bot damit über 100.000 Zuschauern ein nächtliches Freilicht - Spektakel mit einem ungeahnten Ausmaß an Authentizität.[6]

Meyerhold, Wachtangow und Tairow, die drei namhaften Regisseure der Oktoberrevolution, versuchten die leitenden Ideen dieser Bewegung im Theater unter ähnlichen Aspekten umzusetzen.[7] Ihr Grundgedanke war eine politische Interpretation des russischen Geschichtsverlaufs, bei der die Masse der Bevölkerung bzw. das Proletariat gleichzeitig Helden und Opfer waren. Meyerhold inszenierte seine Aufführungen mit einer neuen Methode, die es in diesem Rahmen im Theater bis dato nicht gegeben hatte. „Er verwendete Filmprojektionen, Jazz und Harmonika; er schürte das Tempo mit Maschinenlärm, Motorengeräusch und Räderrollen an; er montierte Metallkonstruktionen zum Bühnenbild, jagte Statisten durchs Parkett auf die Szene, ließ sie an Gerüsten hochklettern und an Strickleitern herabsausen. Er räumte mit den letzten bourgeoisen Restbeständen auf. Ihm ging es nicht um Stimmung, sondern um Agitation.“[8]

2. Das politische Theater in Deutschland zur Zeit der Weimarer Republik

Die Unvereinbarkeit von Theater und Politik galt bis zum Anfang des 20. Jahrhundert als Wesensmerkmal der Kunst. Die Durchsetzung des politischen Theaters nach 1918 bedeutete vor diesem Hintergrund eine Veränderung des ästhetischen Normengefüges.[9] Das Theater, das auf öffentliches Interesse abzielt, etablierte sich in dieser Zeit zu einem Medium, das am eindeutigsten die gesellschaftspolitischen Tendenzen und Strategien reflektierte.[10]

Vorbereitet wurde diese Entwicklung durch die russische Revolution, die versuchte, ein neues völkerverbindendes Prinzip zur Geltung zu bringen. Die Euphorie des russischen Proletariats berauschte auch die europäische Arbeiterklasse, die sich dem Ideal der klassenlosen Gesellschaft in ihrer Heimat anschließen wollte.[11]

Während jedoch die politische Theaterarbeit in der Sowjetunion erst nach der siegreichen Revolution in den Jahren 1917 – 1921/22 einsetzte und zugleich zu ihrem Höhepunkt gelangte, war das politische Theater in Deutschland nach 1918 ein Forum des Kampfes der Linksparteien. Im Vergleich zu Russland, wo das proletarische Theater in den Umgestaltungsprozess der Kulturrevolution integriert war, musste sich das deutsche proletarische Theater gegen ständige Verfolgung sowie gegen Zensur und die Konkurrenz des bürgerlichen Theaterbetriebs wehren.[12]

Wie die Theaterepoche in Russland von großen Namen wie Stanislawski, Wachtangow, Tairow und Meyerhold beherrscht wurde, so prägten in Deutschland Reinhardt, Jeßner, Brecht und Piscator das Theaterleben. Jenen großen Theatermännern blieb der tief greifende Wandel der Gesellschaft nicht verborgen und sie trugen alle – jeder auf seine Weise – dazu bei, dass das Theater zu einem Forum der politischen Auseinandersetzungen wurde.[13]

Erwin Piscator und das politische Theater werden häufig in einem Kontext genannt, da sein 1929 erschienenes Buch den Titel „Das politische Theater“ trug. Er selbst weist in seinem Werk daraufhin, dass „das politische Theater, so wie es sich in allen meinen Unternehmungen herausgearbeitet hat, […] weder eine persönliche Erfindung noch ein Ereignis der sozialen Umschichtung von 1918 allein“[14] ist. Bevor es nach Piscators Meinung zu einem politisch - orientierten Theater kommen konnte, musste das Arbeiterpublikum überzeugt werden, dass das Theater keine „Feiertagskunst“[15] sei, die Themen auf der Bühne als auch die Preise für Eintrittskarten dem Arbeiter und dessen Lebensstil entsprechen müssen.

Die nach 1890 entstandenen Volksbühnen, die sich nach der Aufhebung des Sozialistengesetztes gründeten, waren eine Vorstufe des politischen Theaters. Sie wollten die Theaterkunst dem Volk nahe bringen und die Überwindung der Klassengesellschaft erreichen. Die Vorstellungen, die meist an Sonntagnachmittagen stattfanden, wurden in gemieteten Theatern mit wechselnden Schauspielern aufgeführt. Zur Aufführung kamen neben klassischen Dramen auch Werke von naturalistischen Autoren. Doch bis 1918 entwickelten sich die Volksbühnen zu reinen Abonnentenorganisationen, die jeden politischen Anspruch verloren hatten[16].

So ergab sich zwangsläufig, dass sich das linke politische Theater in Deutschland, welches weder in den Volksbühnen noch bei den linksorientierten Parteien - wie der KPD - Unterstützung fand, in privaten Theatern entfaltete. Doch in diesen bürgerlichen Häusern wurde das Arbeiterpublikum kaum erreicht.[17]

In Deutschland und in der Sowjetunion wurde das politische Theater der 20er Jahre in seiner Ästhetik durch drei Momente bestimmt, die in ganz unterschiedliche und gegensätzliche Traditionsbereiche verweisen.[18]

- Der erste Bereich griff auf die einfachsten Theatermittel der volkstümlichen Spieltradition zurück und entwickelte daraus Formen der unmittelbaren Ansprache und des nahen Kontaktes zum Publikum. Politische Aufklärung fungierte neben spontanem Theaterspaß und Situationskomik.
- Im Gegensatz dazu formierte sich eine andere Richtung des politischen Theaters, die die totale Technifizierung der Bühne propagierte. Hierbei wurde besonderer Wert darauf gelegt, dass technische Medien wie Radio, Film und Projektion sowie bühnentechnische Errungenschaften des futuristischen und konstruktivistischen Experimentaltheaters integriert worden.
- Letztlich wurde vor allem in Deutschland das politische Theater durch Entwicklungen innerhalb des konventionellen Literaturtheaters bestimmt. Es waren zum einen die strukturellen Veränderungen der Dramaturgie und zum anderen die Thematisierung aktueller Probleme oder Zeitfragen, aus denen das so genannte „Zeitstück“ oder „Tendenzdrama“ entstanden ist.[19]

Aus diesen Entwicklungen, die sich zum Teil auch überlagern bzw. ergänzen, entstehen vier Grundformen des politischen Theaters:

- die politische Revue mit stark agitatorischem Charakter
- das „epische Theater“ Brechts, welches am stärksten die Sprache nutzt und argumentierendes Aufklärungstheater ist
- das dokumentarische Theater, das durch die Verwendung von authentischen Zeitzeugnissen und Dokumenten charakterisiert wird
- das konventionelle realistische Theater, das politische Inhalte eindeutig parteilich behandelt.[20]

Piscators Theaterkonzept in den Jahren 1920 bis 1930 ist dem Dokumentartheater am ähnlichsten. Die oben genannten ästhetischen Traditionsbereiche finden sich alle drei in unterschiedlicher Ausprägung in seinen Inszenierungen wieder.

3. Das proletarische Theater

Das erste proletarische Theater wurde von Karl - Heinz Martin und seinen Gesinnungsfreunden 1919 gegründet, um für Arbeiter in Wirtshäusern und Versammlungslokalen zu spielen. Nach der Premiere des Stückes „Freiheit“ von Herbert Kanz wurde es jedoch wieder aufgelöst.[21]

Piscator, der durch Krieg und Revolution radikalisiert worden war und nach einer kurzen Zwischenstation 1919 / 1920 in Königsberg nach Berlin zurückkehrte, rief im März 1920 im Zusammenwirken mit Hermann Schüller und einigen revolutionären Gruppen zur Neugründung des proletarischen Theaters auf. In seiner Programmschrift, die auch als Flugblatt verteilt wurde, heißt es: „Der Krieg der Kapitalisten […] hat Millionen zerschlagen, Millionen als Bettler auf die Straße geworfen. Wer hilft? […] Nur ihr selber könnt euch helfen. Entweder Sozialismus – oder Untergang in die Barbarei.“[22]

Dieser Aufruf an die Arbeiter Berlins sagt alles über die Beweggründe und die Absichten Piscators aus, die zur Wiederauflebung des proletarischen Theaters führten. „[…] es handelt sich nicht um ein Theater, das Proletariern Kunst vermitteln wollte, sondern um bewußte Propaganda, nicht um ein Theater für das Proletariat, sondern um ein proletarisches Theater.“[23]

Die Probleme des Klassenkampfes sollten von jetzt an das Bühnengeschehen bestimmen. Das politische Theater hatte keine Unterhaltungsfunktion mehr inne, sondern wurde von Piscator als ein reines Instrument des Klassenkampfes genutzt. Er wendete sich mit politischer, wirtschaftlicher und sozialer Argumentation an die Einsicht der Zuschauer und hoffte auf einen propagandistischen Erfolg.[24]

Für seine erste Spielzeit in Berlin waren zwölf Dramen geplant, unter anderem von Goll, Zech und Toller. Doch „[…] der Spielplan, […] ist praktisch nicht in Erscheinung getreten.“[25] Die Zielsetzung dieser Theaterform war der zeitgenössischen Literatur voraus. Nach seiner genaueren Betrachtung genügten diese Autoren und deren Stücke nicht seinem Anspruch für ein aktuelles politisches Theater. „Immer wieder waren es doch nur «Stücke», in des Wortes Bedeutung, Stücke der Zeit, Ausschnitte aus einem Weltbild, aber nicht das Totale, das Ganze, von der Wurzel bis in die letzte Verästelung, niemals die glühende Aktualität des Heute, die überwältigend aus jeder Zeile der Zeitung aufsprang. Noch immer blieb das Theater gegenüber der Zeitung zurück, war nicht aktuell genug, griff nicht aktiv genug ein in das Unmittelbare, war noch immer zu sehr starre Kunstform, vorher bestimmt und in der Wirkung begrenzt.“[26]

Gespielt wurde plakativ, provokativ und drastisch in Sälen, Versammlungs- und Vereinslokalen, damit die Masse in ihrem Wohngebiet erreicht werden konnte. Piscator erstrebte: „Einfachheit im Ausdruck und Aufbau, klare eindeutige Wirkung auf das Empfinden des Arbeiterpublikums, Unterordnung jeder künstlerischen Absicht dem revolutionären Ziel: bewußte Betonung und Propagierung des Klassenkampfgedankens.“[27] Der Zuschauer sollte aus seiner Passivität gelockt werden und aktiver Teil des Bühnengeschehens werden.

Ursprünglich plante Piscator, seine Stücke ohne bürgerliche Schauspieler zu inszenieren. Bis auf wenige Berufschauspieler, die seine politische Gesinnung vertraten, sollten nur Proletarier spielen. Es erschien ihm notwendig, „[…] mit Menschen zusammenzuarbeiten, die genau wie ich in der revolutionären Bewegung das Zentrale, den Motor ihres Schaffens sahen. Aus der ganzen Idee des proletarischen Theaters heraus legte ich entscheidenden Wert auf die Bildung einer Gemeinschaft, die sowohl eine menschliche, künstlerische, wie auch politische war.“[28]

Im ersten Jahr entstanden sechs Aufführungen, darunter wurden auch größere Werke von Gorki und Jung auf die Bühne gebracht, die wochenlanges Proben erforderten. Die Aussicht auf Gewinn lag jedoch immer im Hintergrund, da alle Mitwirkenden nicht des Profits wegen dem proletarischen Theater mit ihrer „Hingabe und Aufopferung“[29] dienten. Piscator berichtet, dass der Großteil der Mitarbeiter und Mitwirkenden häufig auf ihre Gagen aus finanziellen Gründen verzichteten und trotzdem weiterhin mit Elan und Engagement dem Theater dienten.[30]

Das proletarische Theater finanzierte sich zum Großteil aus den Eintrittsgeldern. Doch um längerfristig arbeiten zu können, waren die Einnahmen zu gering. Das proletarische Publikum war materiell nicht in der Lage, ein Theater zu unterstützen, das sich seine Existenz selbstständig erwirtschaften musste. Ein weiterer Grund für das Scheitern dieses idealistischen Unternehmens war die Ablehnung von Piscators Theaterkonzeption durch die linke Partei. „Die Haltung der […] KPD […] war von Anfang an so ablehnend. […] Statt zu erkennen, daß hier, grundsätzlich getrennt von aller bisherigen künstlerischen Produktion, etwas im Entstehen war, das neben selbstverständlichen, propagandistischen Zielen u.a. auch den bürgerlichen Begriff der Kunst aufhob und eine neue (proletarische) Kunst zum mindesten in den Grundzügen umriß, legten die Kritiker der »Roten Fahne« an unsere Arbeit Maßstäbe, die sie von der bürgerlichen Ästhetik bezogen […].“[31]

Im November 1921 wurde Piscators Spielkonzession nicht verlängert, damit war das Schicksal seines politischen Theaters endgültig besiegelt. Schließlich meint er selbst, dass sein proletarisches Theater seinen Zweck erfüllte habe, da sich das „[…] Theater unter den Propagandamitteln eine erste Stelle erobert“ hat und „es war einbezogen worden in die Ausdrucksmöglichkeiten der revolutionären Bewegung genau so gut wie die Presse und das Parlament. Damit zugleich aber hatte das Theater als Kunstinstitution eine Änderung seiner Funktion vollzogen. Es hatte wieder einen Zweck erhalten, der im Bereich des Gesellschaftlichen lag. Es war nach einer langen Erstarrung, die es von den Kräften seiner Zeit isoliert hatte, wieder zu einem Faktor der lebendigen Entwicklung geworden.“[32]

4. Piscator und die Berliner Volksbühne

Bevor Erwin Piscator 1924 die Leitung der Berliner Volksbühne am Bülowplatz übernahm, arbeitete er von 1922 - 1923 mit dem Dramatiker Hans José Rehfisch am Central - Theater in Berlin Kreuzberg. Im Rückblick betrachtet Piscator diese Zeit als eine nachgeholte Lehrzeit, in der er das Regie - Handwerk erlernte, „stärker in das Berliner Bühnenleben eindrang“[33] und in naturalistischen Dekorationen werkgetreu inszenierte.[34]

„Die Linie des Unternehmens war nicht so eindeutig und einfach wie beim Proletarischen Theater.“[35] Allerdings stand für ihn eindeutig fest, dass sein „[…] Central - Theater wirklich als Gegengründung gegen die Volksbühne gedacht“[36] war. In diesem Zusammenhang erscheint die Tatsache, dass Piscator 1924 der Berufung als Regisseur an die Berliner Volksbühne folgte, nicht schlüssig.[37]

Ehe Piscator ein mehrjähriges Engagement an der Volksbühne erhielt, inszenierte er als Gastregisseur „Fahnen“ von Leo Lania. Für ihn war dieser Auftrag eine große Herausforderung, da er in einem ihm fremden Haus mit einem unbekannten Ensemble zusammen arbeiten musste. Neu war für Piscator auch die Möglichkeit einer eigenen Inszenierung im modernsten Theater Berlins, und er war fest entschlossen, ein Stück einzustudieren, das seiner politischen Gesinnung entsprach.[38]

[...]


[1] Vgl. Brauneck, Manfred: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters. Band 4. J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH, Stuttgart – Weimar 1999.: 766

[2] Brauneck, Manfred (1999): S. 810

[3] Vgl. Brauneck, Manfred (1999): S. 810

[4] Ebd., S. 767f

[5] Arpe,Verner: Bildgeschichte des Theaters. M. DuMont Schauberg, Köln 1962: S. 248

[6] Berthold, Margot: Weltgeschichte des Theaters. Alfred Körner Verlag, Stuttgart 1968: S. 451f

[7] Vgl. Rühle, Jürgen: Theater und Revolution. Von Gorki bis Brecht. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1963: S. 127

[8] Berthold, Margot (1968): S. 454

[9] Vgl. Brauneck, Manfred (1999): S. 392

[10] Vgl. Städtische Galerie im Ständelschen Kunstinstitut: Raumkonzepte. Konstruktivistische Tendenzen in Bühnen- und Bildkunst 1910 – 1930. Frankfurt am Main 1986: S. 268

[11] Vgl. Berthold, Margot (1968): S. 459

[12] Vgl. Brauneck, Manfred: Theater des 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle. Rowolths Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 1986a: S. 309

[13] Vgl. Rühle, Jürgen (1963): S. 127f

[14] Piscator, Erwin: Schriften 1. Das politische Theater. (Hg.) Hoffmann, Ludwig. Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, Berlin 1968: S. 27

[15] Ebd., S. 28

[16] Brauneck, Manfred/ Schneilin, Gérard (Hg.): Theaterlexikon. Begriffe, Epochen, Bühnen und Ensembles. Rowolths Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 1986b: S. 1039

[17] Vgl. Brauneck, Manfred (1986a): S. 310

[18] Vgl. Brauneck, Manfred (1986a): S. 311

[19] Brauneck, Manfred (1986b): S. 311

[20] Ebd.

[21] Vgl. Kusenberg, Kurt (1974): S. 29

[22] Piscator, Erwin (1968a): S. 36

[23] Ebd.

[24] Ebd.

[25] Ebd., S. 39

[26] Piscator, Erwin (1968a): S. 39

[27] Ebd. S. 36

[28] Piscator, Erwin (1968a): S. 41

[29] Ebd.

[30] Vgl. ebd.

[31] Piscator, Erwin (1968a): S. 42

[32] Ebd., S. 44f

[33] Vgl. ebd., S. 47

[34] Vgl. ebd.

[35] Ebd., S. 46

[36] Ebd.

[37] Vgl. ebd.

[38] Vgl. Kusenberg, Kurt (1974): S. 36f

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Details

Title
"Erwin Piscator - Das politische Theater" - Theater zwischen Kunst und Politik
College
University of Erfurt
Course
Ästhetik der Gesamtkunst - von Wagner bis zu den Avantgarden des 20. Jahrhunderts
Grade
1,3
Author
Year
2007
Pages
55
Catalog Number
V72739
ISBN (eBook)
9783638738590
File size
622 KB
Language
German
Notes
Diese Arbeit ist eine BA-Abschluss-Arbeit für den Studiengang "Literaturwissenschaften".
Keywords
Erwin, Piscator, Theater, Kunst, Politik, Gesamtkunst, Wagner, Avantgarden, Jahrhunderts
Quote paper
Annyka John (Author), 2007, "Erwin Piscator - Das politische Theater" - Theater zwischen Kunst und Politik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/72739

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