Wer sich mit Philosophie, mit Politik, mit der Jurisprudenz, ja beinahe mit allem beschäftigt, was der europäisch-abendländische Akademiebetrieb zu bieten hatte und hat, für den führt mit nahezu zwingender Sicherheit kein Weg vorbei an Immanuel Kant, dessen visionäres Genie in praktisch jedem Gebiet, wenigstens der "klassischen" Geisteswissenschaft, durch sein Gesamtwerk bahnbrechende und zukunftsweisende Beiträge leisten konnte. Hier soll es hingegen hauptsächlich, unter Berücksichtigung der kontextuellen Verortung im kompletten oeuvre, um die oftmals - und zu Unrecht! - vernachlässigte Schrift "Zum Ewigen Frieden" beschaffen sein. Wie Kant hier kurz nach der französischen Revolution die entscheidenden Weichen stellt, für den Völkerbund und die spätere UNO, welche Rolle dabei genau die Formulierung seiner sechs Präliminar- und drei Definitivartikel spielte, wie weit wir aber nichtsdestotrotz nach wie vor von einer auch schon lange vor Kant antizipierten Gemeinschaft der Weltrepubliken entfernt sind, die das label des "perpetual peace" auch wahrlich verdient, das und manches mehr soll hier knapp diskutiert werden, selbstverständlich wie gehabt unter kritischer Rezeption der ein oder anderen Expertise dieser Materie, von Höffe bis Gerhardt.
Inhaltsverzeichnis
1. Friede abstrakt
2. Eine kurze Genealogie der "peace studies"
2. 1. Attische Impulse
2. 2. Das "düstere" Mittelalter & dessen utopische Resonanz
2. 3. Die Gründerväter des Völkerrechts
3. Frieden, politisch & philosophisch, bei Kant
3. 1. Lokalisation im Gesamtwerk
3. 1. 1. Die drei Kritiken
3. 1. 2. Metaphysik der Sitten
3. 1. 3. Weitere Gedanken zu Krieg & Frieden
3. 2 Die gleichnamige Schrift an und für sich, fünffach unterteilt
3. 2. 1. clausula salvatoria
3. 2. 2. Die sechs Präliminarartikel
3. 2. 3. Die drei Definitivartikel
3. 2. 4. Erster und zweiter Zusatz
3. 2. 5. Anhang
4. Zur Rezeption
4. 1. Zeitl. unmittelbar, dt. Idealismus & dergleichen
4. 2. Jüngerer Nachhall bis heute
5. Reale Manifestationen
5. 1. Frühe Institutionen, z .B. "Concert of Europe"
5. 2. Völkerbund
5. 3. Vereinte Nationen
6. Was bringt die Zukunft?
7. Bibliographie
1. Friede abstrakt
Die Geschichte der Menschheit ist nichts anderes, als eine Abbildung, ein Panorama gleichsam, der mannigfaltigsten Begebenheiten, die unserer Spezies widerfuhren.1 Dabei scheinen aber die traurigen Kapitel die fröhlichen Akte dieser, mit Dante, göttlichen Tragikomödie, eindeutig zu überwiegen, vielleicht auch weil sie sich ob ihrer Grausamkeit tiefer in das Bewusstsein eingebrannt haben (möglicherweise auch in Jungs kollektives Unterbewusste), oder weil man sie den kommenden Generationen zur Warnung gereichen lassen wollte; mit durchaus mäßigem Erfolg, wie man in der Retrospektive auch ohne nähere Analyse gefahrlos behaupten kann. Manche gehen sogar soweit, die Geschichte der Welt als eine einzige endlose Abfolge von Kriegen zu beschreiben, so Shea & Wilson2. Die Tatsache, dass sie die jeweiligen Auslöser und Gründe auf Geheimbünde zurückführen und sich daher sogar freiwillig in das Abseits, den Halbschatten der pseudowissenschaftlichen Konspirationstheorie bugsieren, die üblichen verbitterten Stellungsgefechte und intriganten Machenschaften von Seiten erfolgsneidischer Kollegen "vom Fach" also an dieser Stelle völlig unnötig sind, ändert nichts am Wesenskern der Aussage, man mag es mit dem "science fiction"-Genre halten wie man mag, denn: Krieg ist Krieg. Auch wenn dem wahrscheinlich für alle Zeiten so bleibt, mit der Verwahrungsklausel, dass sich im Extrem bestimmte Arten von Krieg & Frieden wenig nehmen, wie wir noch sehen werden, besteht immerhin noch die Möglichkeit, ihn einzudämmen, seine Kanäle zu verstopfen und ihm seine Lebensbasis ein für allemal zu entziehen, womit man unversehens in eine altehrwürdige Tradition derartiger Bemühungen stolpert, von Anfang an begleitet von den Versuchen andererseits, deren Nutzlosigkeit angesichts der vermeintlichen menschlichen Natur vor Augen zu führen und diese im Gegenzug gebetsmühlenartig zu bekräftigen, einem Mantra gemäß, welches mit seiner Wiederholung proportional an Glaubwürdigkeit gewinnt und ergo zur bloßen Tautologie verkommt. Durch den Gang der Epochen schreitend, landet man dann bei der Verfolgung dieser Entwicklungslinie unvermeidlich auch bei Immanuel Kant und seiner unter für sich sprechendem Titel firmierenden Schrift, dem damaligen Höhepunkt dieser Debatte.
2. Eine kurze Genealogie der "peace studies"
Vorerst aber eine flüchtige Skizze eben jenes Grundlagenkonflikts der Politologie, der sich nicht zuletzt auch gerade wegen des Traktates Kants paradigmatisch in den Meinungsverschiedenheiten der realistischen und idealistischen Schule zuspitzen wird, ein Konflikt der tief in den antiken Wurzeln der Disziplin verankert ist.
2.1. Attische Impulse
Als "graue Eminenz" des genuin machtpolitischen Denkens muss gemeinhin Thukydides herhalten. Der Anfang der Friedensforschung war logischerweise und bekanntermaßen ein negativer, klar, denn warum sollte man sich sonst mit der Beseitigung des Krieges beschäftigen? Er selbst freilich war seines Zeichens Geschichtsschreiber, abgesehen von der in der griechischen Kultur hochgeschätzten Tugend also insofern kaum durch einen expliziten Pazifismus oder dergleichen Aushängeschild von den namhaften Kollegen seines Metiers zu unterscheiden, jedoch erweist ihm insbesondere der Neorealismus die zweifelhafte Ehre anhand seiner Aufzeichnungen über den Peloponnesischen Krieg als der Beweis für die inhärente Verdorbenheit, Schlechtigkeit & Bösartigkeit der Menschheit zu fungieren3 ; genau hier also muss jedweder Versuch ansetzen, das später dann durch Machiavelli und Hobbes tradierte Bild sogenannter "natürlicher Eigenschaften" zu entkräften, mit der Ergänzung, dass vor allem ersterer, mit Einschränkungen ebenso letzterer, gerne misanthropischer ausgelegt wird, als man es aus deren einschlägigen Schriften so ohne weiteres herauslesen könnte.4 Aber auch die Gegenseite soll bündig eingeflochten werden.
2.2. Das "düstere" Mittelalter & dessen utopische Resonanz
Weitaus zuversichtlichere Ansätze in Hinblick auf die potentiellen Stärken der Menschen lassen sich nämlich durchaus ebenfalls sehr frühzeitig ausmachen. Man erinnere sich beispielsweise der drei klassischen Utopien von Morus, Campanella & Bacon, die ein zutiefst friedfertiges Gemälde menschlichen Beisammenseins und Miteinanderlebens in den prächtigsten Farben zeichnen.5 Zugegeben, auch diese Phantasiegebilde sind für den Fall der Fälle bestens gerüstet, die wichtige Prämisse der innerstaatlichen Ataraxie, wenn man das mit Epikur so sagen darf, die conditio sine qua non sozusagen, bevor man an geordnete, sittliche und minimalerweise hospitable Verhältnisse zu Nachbarn auch nur denken kann, scheint damit allerdings zumindest im Ideal erfüllt. Klar kupferte man hier schamlos bei Platons πολιτεία ab, aber das macht ja nichts. Ganz nebenbei bemerkt ist die strikte Unterteilung in innere und äußere Staatshändel schließlich eine erst wesentlich später einsetzende Folge der Verrechtlichung des Politischen. Auch nicht ungewürdigt übergehen sollte man die in Werken wie dem defensor pacis bei Marsilius durch das Mittelalter hindurch transponierte Idee der "pax" von 1324.6 Ebensowenig wie die Klage des Friedens von Erasmus von Rotterdam übergangen werden darf, ohne ihr wenigstens flüchtige Aufmerksamkeit zu zollen, markiert sie doch gewissermaßen den Übergang in die finale staatsrechtliche Epoche dieser knappen Begriffsgenese.7
2.3. Die Gründerväter des Völkerrechts
Grotius, Pufendorf & Wolff, das sind die drei Namen, deren Überlegungen sich an ein formaleres Verständnis des untersuchten Terminus anschließen, möglicherweise zurückgreifend auf einen Augustus und das Konzept einer "pax romana", wie sie im Umkehrschluss wiederum die bereits angeschnittenen Gelehrten der Feudalzeit beeinflusste.8 Exakt an dieser Stelle, d. h. nach ersten juristischen Ausdifferenzierungen und der Erhebung des Dialogs auf Kabinettsebene, setzt Kant ein, mit der französischen Revolution im Rücken und im Spießrutenlauf zwischen den preußischen "Langen Kerls" hindurch, sich dem Vermächtnis eines "Alten Fritz" und Staatsmännern seines Kalibers erwehrend, der Zensur.
3. Frieden, politisch & philosophisch, bei Kant
Zunächst aber noch wenige Vorklärungen. Um die, man könnte sagen, gewohnt eigenwillige Vermittlung und Weiterführung der kriegstötenden Bemühungen durch den Königsberger Professor9 zu verstehen, bedarf es eines, der gebotenen Kürze zu Lasten, leider nur allzu prägnanten Blickes auf seine Denkweise, folglich auf das Opus schlechthin und die darum herum angesiedelten Veröffentlichungen.
3.1. Lokalisation im Gesamtwerk
3.1.1. Die drei Kritiken
Elementare Einsichten für die Entschlüsselung des "Ewigen Friedens" liefern die Kritik der reinen Vernunft, die der praktischen, sowie die der Urteilskraft, geben sie doch vor allem ein entscheidendes Kriterium vor, welches für seine unnachahmlich idiosynkratische Epistemologie von prägender Kraft ist. Wer ihn liest, wird namentlich eher früher als später am nicht zu spärlich verwendeten "a priori" seine liebe Not haben, eine Redewendung, die den Interessenten auf die Bedingung der Möglichkeit von etwas verweisen soll - und zwar vor aller Erfahrung! In den genannten Büchern geht es dabei um Voraussetzungen der Erkenntnis überhaupt, hier schmiegt sich das Transzendentale förmlich ein, auf die vorliegende Problematik angewandt, erhellt nun aber ganz deutlich, weshalb die Friedensabhandlung präzise so gehalten ist, wie sie ist und nicht anders; auch die Heuristik bei der Kreation sämtlicher sonstigen Betrachtungen leuchtet auf einmal beinahe schon gleißnerisch strahlend ein.
[...]
1 So z. B. Schiller in einer akademischen Antrittsrede, der im Historischen den gesamten moralischen Raum wiedererkennt und dort passenderweise auch mit den anschließend angesprochenen "Gelehrtenkriegen" abrechnet. Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? S. 956-970, in: loc. cit.
2 "Die Geschichte der Welt ist die Geschichte der Kriege (zwischen Geheimbünden)." Klammern nicht im Original. Shea & Wilson, S. 8, loc. cit. Interessanterweise kehrt hier andauernd das Motiv der Eris, Göttin der Zwietracht, beim Werfen des Apfels wieder, metaphorisch für antike Kriegsgründe; man denke an Troja.
3 Ottmann, S. 135-54, speziell zur menschl. Natur bei Thukydides S. 140 f., loc. cit.
4 Andererseits entmündigt Hobbes sich selbst und es wird nicht so ganz verständlich, wie er sich stillschweigend ausnehmen kann, während er die anderen unter die Gesetzgebung des Staates, exemplarisch eben dadurch auch unter seine eigene, zwingt.
5 Dazu z. B. Heinisch, loc. cit.
6 Ein Überblick bei Ottmann, S. 261 ff. Auch Dantes "Universalmonarchie" birgt neben anderen übergangenen Autoren eine gewisse Relevanz als Friedensbemühung und nimmt die spätere Vorstellung vom Weltstaat teilweise vorweg. S. 237-43, loc. cit.
7 vgl. auch Höffe, Einleitung: Der Friede - ein vernachlässigtes Ideal, in: Höffe (Hrsg.), S. 5-30, loc. cit
8 Mehr Vorläufer bei Merle, Zur Geschichte des Friedensbegriffs vor Kant. Ein Überblick, in: Höffe (Hrsg.), S. 31-42, loc. cit.
9 Eine tolle Kant-Übersicht gelingt Höffe, loc. cit
- Arbeit zitieren
- Oliver Köller (Autor:in), 2007, Zu Immanuel Kants "Zum Ewigen Frieden", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/73196
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