Wechselnde Relevanzen - Zur Rezeption der Exilromane von Anna Seghers


Magisterarbeit, 2006

91 Seiten, Note: 2,1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Theoretische Vorbemerkung

3 Relationen von Rezeptionsprozessen
3.1 Die epochalen Besonderheiten von Exilliteratur
3.2 Die wechselseitige Verantwortung des Rezeptionsprozesses

4 Kritische Entstehungs- und Druckgeschichte der Romane
4.1 Das siebte Kreuz
4.1.1 Entstehung – Flucht vor den Nationalsozialisten
4.1.2 Druckgeschichte – vom Kriegskind zum Bestseller
4.2 Transit
4.2.1 Entstehung – Bleiben im dritten Raum
4.2.2 Druckgeschichte – als Fortsetzung missverstanden
4.3 Zusammenfassung – Rückschlüsse auf das Wirkungspotential

5 Rezeption bis zum Zusammenbruch des Deutschen Reichs
5.1 Das siebte Kreuz
5.2 Transit

6 Probleme der Verbreitung von Exilliteratur nach 1945 in Deutschland
6.1 Überblick – Reduktion in Ost- und Westdeutschland
6.2 Die DDR zwischen Solidarität, Ästhetik und Ignoranz
6.3 BRD – Der Feind des kommunistischen Gedanken
6.3.1 Das siebte Kreuz
6.3.2 Transit
6.3.3 Zusammenfassung

7 Analyse zu Bibliotheksbeständen

8 Der Fall Walter Janka und dessen Auswirkung auf die Seghers - Rezeption

9 Präsenz der Romane in Lesebüchern Ost- und Westdeutschlandes
9.1 Analyse von Lesebüchern der sechziger Jahre
9.2 Antipathie seitens der Literaturdidaktik in den siebziger Jahren
9.3 Auffällige Starre der Präsenz in den achtziger und neunziger Jahren
9.4 Resümee

10 Rezeption nach
10.1 Mainz und seine ungeliebte Tochter

11 Kreative Rezeption im Wiedervereinten Deutschland ab
11.1 Schwerpunkt: Mythen, Märchen- und Sagenmotive
11.1.1 Religiös motivierte Elemente
11.1.2 Zwischenfazit
11.2 Schwerpunkt: Die Zentralmotive Imstichlassen versus Solidarität
11.2.1 Die dialektische Wechselwirkung von Zufall und Notwendigkeit
11.2.2 Warten auf das Bleiben – Identitätsfindung im Zwischenraum
11.3 Zu Anna Seghers´ hundertsten Geburtstag
11.4 Zwischenfazit
11.5 Kommentar zur Werkausgabe des Romans Das siebte Kreuz
11.6 Kommentar zur Werkausgabe von Transit 2001

12 Faktisches und Fiktionalisierung in Das siebte Kreuz am Beispiel Westhofen

13 Adaptionen der Romane
13.1 Das siebte Kreuz im Kino
13.2 Transit im Fernsehen
14.3 Das siebte Kreuz als Hörspiel
13.4 Das siebte Kreuz auf der Bühne

14 Zum Schluss – Die Frage nach der Aktualität

15 Bibliographie

1 Einleitung

Reden schwanken so leicht herüber hinüber, wenn viele
Sprechen und jeder nur sich im eigenen Worte, sogar auch
Nur sich selbst im Worte vernimmt, das der andere sagte.
Mit den Büchern ist es nicht anders. Liest doch nur jeder
Aus dem Buch sich heraus, und ist er gewaltig, so liest er
In das Buch sich hinein, amalgamiert sich das Fremde.[1]
Johann Wolfgang von Goethe

Schon an diesem Goethe Zitat wird deutlich, dass der Leser[2] einen hohen Anteil an der Bedeutungskonstitution von Texten hat. Dadurch, dass der direkten Kommunikation das Medium Text zwischengeschaltet ist, identifiziert sich der Leser mit Ideen und Handlungskonstruktionen, die der Autor über diesen transportiert. Nur, wenn ein solcher Prozess stattfindet, der Leser also Bezüge zu seiner aktuellen, individuellen und gesellschaftlichen Realität herstellt und diese dokumentiert, wird von produktiver Rezeption gesprochen. Als Analysegrundlage der vorliegenden Arbeit dienen verschiedene Ausdrucksformen der Identifikation des Lesers mit den Primärquellen,Das siebte Kreuz und Transit. Sekundärliteratur, Verfilmungen und auch ge- oder missglückte Theaterinszenierungen sind empirisch überprüfbar und bilden so in ihrer Vollständigkeit ein stabiles Gerüst, das Anna Seghers` Werkauszug in den Augen ihrer Leser spiegelt.

Besonders Das siebte Kreuz von Anna Seghers zu lesen bedeutete für mich überraschenderweise ein großes Vergnügen – erzählt sie doch von einer Zeit, die von Bedrohung und Verfolgung bestimmt ist. Der Fakt, dass der Roman in der Zeit entsteht, die er auch beschreibt, verstärkt diesen Aspekt. Anna Seghers schafft eine atmosphärische Dichte, der ich mich nicht entziehen konnte, der ich mich nicht entziehen wollte. Das siebte Kreuz war der erste Roman, den ich während meines Studiums mit einer so großen Leidenschaft gelesen habe, dass die Aufmerksamkeit von zu analysierenden Textmerkmalen, die ich später beschreiben wollte, völlig entzogen wurde. Ich bin mit Georg Heisler zusammen aus dem Konzentrationslager Westhofen geflohen, erlebte das beklemmende Gefühl, von meinen Jägern umzingelt zu sein und konnte die Spannung nur ertragen, weil der positive Ausgang des Romans vorweggenommen ist. Ich spüre, wie sich die klamme Kälte auf dem geschundenen Körper anfühlt, wenn ich an die Situation zurückdenke, in der Georg Heisler auf dem wiesenbewachsenen Hügel liegt und sich das Gelingen der Flucht so sehr wünscht. Ich spüre den Schmerz in der Hand, ausgelöst durch den Sprung über die mit Scherben besetzte Mauer – aber die Angst vor einer Entzündung, einer Blutvergiftung, die vielleicht das Ende der Flucht bedeutet hätte, bei der ich (Georg) ganz auf mich allein gestellt wäre, ist viel schlimmer. Ich spüre die enorme Leistung, die Sinne zusammenzuhalten, um die aufsteigende Panik zu unterdrücken – den Kraftakt, den Georg vollbringt, die Konzentration auf Vernunftbezogenes zu lenken, um endlich zu seiner Leni zu gelangen, die sich als personifizierten Enttäuschung herausstellen soll. Trotzdem – ohne sie als Quelle der Hoffnung und Kraft wäre die Flucht wahrscheinlich missglückt. Ich spüre die zerreißende Einsamkeit, die Georg erlebt und den wachsenden Wunsch sie zu durchbrechen und auch die Angst von geglaubten Freunden verraten zu werden. Die Zweifel am eigenen Ich, ausgelöst durch das allgegenwärtige Misstrauen, dass Georg allem und jedem gegenüber stellen muss, um das Existentiellste zu schützen, das es gibt: das eigene Leben, betreffen mich persönlich; es ist mein eigenes Leben gewesen, dass bedroht wurde, es waren meine eigenen Freunde, an denen ich gezweifelt habe, es war meine eigene Einsamkeit, die durch Georg Heislers Erlebtes aufgebrochen ist, wenn auch nur in jener Nacht, in der ich Das siebte Kreuz gelesen habe und in den Momenten des Erinnerns daran.

So habe ich mich selbst aus dem Buch herausgelesen, wie Goethe es sinngemäß formuliert. So habe ich eine Horizontverschmelzung erlebt, wie der Vorgang mit Gadamers Worten ausgedrückt würde. Es können viele Bezeichnungen für Erlebnisse dieser Art gefunden werden, Fakt ist, dass Anna Seghers über die Handlungen und die Charaktere ihres Romans, durch die fiktive Realität, die sie geschaffen hat, meine reale Welt verändert hat. Ich glaube, dass ein Buch, in diesem Fall ein Roman, dann zum Bestseller wird, wenn Vorgänge dieser Art auf breiter Ebene stattfinden. Das siebte Kreuz ist ein Bestseller geworden.

Wenn mich eine Roman beeindruckt, besonders dann, wenn er mir neue Zugänge zu mir selbst eröffnet, die vielleicht schon lange erahnt, aber vorher noch nicht wirklich gedacht und gefühlt sind, versuche ich diesen Prozess zu vertiefen, indem ich weitere Texte des Autors lese, am liebsten zeitnah in der Entstehung des Auslösenden, meistens Romans. Vor Anna Seghers war es Haruki Murakami, ein japanischer Schriftsteller, aus dessen Romanen ich mich selbst herauslesen konnte. Es hat sich aber herausgestellt, dass es immer das gleiche Motiv ist, das mich fasziniert und so habe ich nach dem dritten oder vierten Roman aufgehört zu lesen und in der Erinnerung sind sie zu einem Großen geworden. Bei Anna Seghers war das anders. Der Erwartungsdruck, geweckt durch Das siebte Kreuz, gerichtet an Transit war groß und wurde selbstredend nicht befriedigt, was ich im Nachhinein, salopp ausgedrückt, der erweckten Sensationslust, durch Das siebte Kreuz zuschreibe, deren Befriedigung in der Struktur von Transit nicht angelegt ist. Doch die anfängliche Enttäuschung, die das Lesen des Romans hervorbrachte, auch auf breiter Ebene in Kritiken diskutiert bzw. publiziert, ist einer neuen Begeisterung gewichen, die Zeit zum Reifen brauchte.

Zarter in ihrer Natur erzählt Anna Seghers nicht vom Flüchten aus Westhofen, sondern vom Bleiben in Marseille. In diesem zweiten Exilroman ist es schwieriger sich selbst zu erkennen, ist es doch ein diffuses Zwischenstadium, dass hier beschrieben wird und die Umstände, denen der Protagonist begegnet, sind differenzierterer Natur; so kann er den Luxus leben, auf die Suche nach seiner eigenen Identität zu gehen. Umso individueller und also spezieller die Identifikationsbasis ist, anders ausgedrückt, dem Charakter des Protagonisten mehr Merkmale zugesprochen werden und so dessen Handlungsmöglichkeiten wachsen, umso kleiner wird die Überschneidungsmöglichkeit der fiktiven Welt mit dem Begriffsumfang des realen und impliziten Lesers; man kann hier von einem reziproken Verhältnis sprechen, in dem ich den Hauptgrund sehe, dass Transit sich im wirtschaftlichen Erfolg nicht mit Das siebte Kreuz messen kann.

Ausgehend von meinen eigenen Erfahrungen mit der Wirkung der Romane und einer großen Bewunderung für eine starke Frau, möchte ich wissen, inwieweit Anna Seghers` Exilromane Einfluss auf die Welten anderer üben. Man kann die nachfolgenden Untersuchungen als eine Art Fortsetzung des Leseerlebnisses verstehen, habe ich doch zumindest die publizierte produktive Rezeption bezüglich der Exilromane gelesen und durfte so durch verschiedene Augen auf die Welt der Romane schauen, die dadurch weiter geworden ist. Welche Realwelten sind verändert worden, welche Aspekte werden wann und zu welchen Zweck besonders hervorgehoben? Auf diese und andere Fragen soll die Rezeptionsgeschichte von Das siebte Kreuz und Transit Antwort geben.

Der Texthandlung und dem -aufbau immanente Ideen, Motive und Handlungen, die eine Identifikation des Lesers mit diesem einleiten, empfindet er als bedeutsam bzw. relevant. Nur wenn der Leser aus dem Text Parallelen zu seiner eigenen Lebenssituation erkennt, ist die Grundlage zur näheren Auseinandersetzung in Form von produktiver Rezeption gegeben. Um diesen Prozess zu fördern, setzt Anna Seghers in beiden Romanen auf die Stilmittel der `erlebten Rede´ und des `inneren Monologs´. So erleichtert sie dem Leser die Emotionen der dargestellten Personen nachzuempfinden.[3] Die Frage nach der Angemessenheit der realisierten produktiven Rezeption, bezogen auf die Primärquellen, drängt sich förmlich auf und steht auch im Mittelpunkt der Untersuchung. Die Methode der Rezeptionsforschung muss dementsprechend rezeptionsgeschichtlich angelegt sein, um die historische Veränderung der Rezeptionsprozesse hinsichtlich Motivation und Wirkung untersuchen zu können. Die Besonderheiten, Hintergründe, wie auch Wirkungen der qualitativen und quantitativen Veränderungen des Leseverhaltens der zugrunde liegenden Werke wird näher beleuchtet werden.

Aus dem zweiten Kapitel „Theoretische Vorbemerkung“ wird hervorgehen, warum sich durch die Beobachtung des Leseverhaltens Rückschlüsse auf den Basistext ziehen lassen. Da dem Begriff der Relevanz definitorisch der genaue Zeicheninhalt fehlt,[4] eine Bezeichnung, die kein begrenztes Wirkungsfeld benennt, aber unbrauchbar ist, wird der Begriffsinhalt und -umfang, bezogen auf das Untersuchungsziel, relativiert. Umso mehr sich die Ideen des Autors mit der persönlichen Sichtweise des Rezipienten auf die Welt decken, umso relevanter, also bedeutsamer, ist das Werk für den Leser. Erheblichkeit bzw. Relevanz muss immer in Abhängigkeit des Kontextes betrachtet werden und wird so zur subjektgebundenen Entscheidung. Die zentrale Funktion des dritten Kapitels besteht darin, die Primärquellen in ihre Entstehungszeit einzugliedern, weil das Aufnehmen und Lesen eines Werkes in Anhängigkeit zu dem zeitgeschichtlichen Umfeld und dem Kontext, in dem sich der Rezipient bewegt, betrachtet werden muss, um Neigung und Ablehnung objektivieren zu können und die wechselseitige Verantwortung von Autor und Leser während des Rezeptionsprozesses anzureißen.

Auch unter diesem Aspekt, dass Lebensumstände von der Erwartungshaltung des Lesers nicht zu trennen sind und häufig die Bereitschaft zur Aufnahme fremder Erfahrungen und Sichtweisen mitbestimmen, ist die Entstehungs- und Druckgeschichte der Romane, reflektiert auf ihre Besonderheiten und die ungewöhnlich großen Auswirkungen auf die Rezeption, im vierten Kapitel, aufgeführt.

Anna Seghers Romane fallen 1933 der Bücherverbrennung zum Opfer. Bis zum Zusammenbruch des deutschen Reiches begrenzt sich Seghers` Wirkungsfeld auf das Ausland, das, mit Amerika an der Spitze, von der Fluchtgeschichte in Das siebte Kreuz fasziniert und von dem problematischen Helden in Transit enttäuscht ist.

Mit dem fünften Kapitel beginnt der methodisch rezeptionsgeschichtlich angelegte Teil, dessen zentralen Kern die komplementäre Rezeption in Ost- und Westdeutschland bildet. Zu keiner Zeit ist die Autorin aktueller und zu keiner Zeit wird sie entweder als politische Person oder als unzureichend für den literarischen Kanon des zwanzigsten Jahrhunderts, in ihrer Funktion als Schriftstellerin extremer verkannt. Seghers` politische Überzeugung und der häufig daraus resultierende Ideologiekonflikt schränken den Auslegespielraum des Rezipienten und damit das Wirkungspotential der Romane schon im Vorfeld massiv ein. Aufgeworfene Missverständnisse, begleiten das Werk der Autorin bis heute, obwohl sie sich oft gegen die Rollen, in die sie sich gezwängt fühlt, öffentlich wehrt.

Deutschland nach 1945 tut sich mit der Aufnahme von Exilliteratur, im Besonderen mit solcher die vermeintlich kommunistisches Gedankengut verherrlicht, schwer. Die komplementäre Reduktion in der Rezeption der Romane auf inhaltliche Schwerpunkte, die ins aktuelle politische Gerüst der deutschen Länder angepasst werden, sind das Thema des sechsten Kapitels und werden in diesem beschrieben und analysiert. In Kapitel Sieben kann nachgelesen werden, dass sich dort angeführte Phänomene unter anderen auch in Bibliotheksbeständen widerspiegeln. Während der Lektüre von Sekundärtexten, die die zugrunde liegenden Romane behandeln fällt der Name „Walter Janka“ auffällig oft. Anna Seghers wird ihr Schweigen beim Prozess ihres Verlegers Walter Janka entweder vorgeworfen, oder ihre Zurückhaltung wird verteidigt. Fakt ist, dass sich ihr Verhalten auf die Rezeption ihrer im Exil geschriebenen Romane auswirkt – inwiefern soll im achten Kapitel dargestellt werden.

In den Schulbüchern wird der Roman Transit, entsprechend seinem Platz in der Öffentlichkeit, weitgehend ignoriert; Das siebte Kreuz wird als Beispiel für Exilliteratur oder politisch motivierte Literatur der Antifaschisten herangezogen, wie näher aus Kapitel Neun hervorgehen wird; die ästhetischen Qualitäten der Romane sowie deren mythische Elemente werden selten behandelt. Der Rezeption nach 1968 (Kapitel Zehn) tritt besonders deutlich die Position der Stadt Mainz, Anna Seghers Geburtsstadt, hervor, die lange keinen Weg findet der berühmten Schriftstellerin adäquat zu begegnen.

Den Themen, die über die Jahre immer wieder aufgegriffen werden, sind einzelne Unterkapitel des elften Kapitels gewidmet; so kann differenziert herausgestellt werden, wie aus scheinbar komplementären Zentralmotiven die gleiche Autorenintention abgelesen wird, umso weiter der Sozialismus in die Vergangenheit rückt. Zu Ehren der Autorin wird ihr fiktiver hundertster Geburtstag groß gefeiert, aber der Groll der Vergangenheit, der sich bei westdeutschen Kritikern aufgeladen hat, scheint nicht in Vergessenheit geraten zu sein und lebt, wenn auch dezenter, wieder auf, sobald es `laut´ um Anna Seghers wird. Im Geburtstagsjahr erscheint die Werkausgabe von Das siebte Kreuz mit der Bandbearbeitung von Bernhard Spies, ein Jahr darauf die von Transit, bearbeitet durch Silvia Schlenstedt. Ein Zweig der Sekundärliteratur ist, relativ Entstehungszeit unabhängig, mit der Frage nach Realbezügen zur Entstehung der Romane, besonders mit Vorlagen für das fiktive Konzentrationslager Westhofen beschäftigt, aufgrund dessen ist das zwölfte Kapitel „Faktisches und Fiktionalisierung in Das siebte Kreuz am Beispiel Westhofen“ entstanden. Als weitere Rezeptionszeugnisse werden im dreizehnten Kapitel die Verfilmung von Das siebte Kreuz und der Verfilmungsversuch von Transit beobachtet sowie verschiedene Hörspiel- und Bühnenadaptionen der Romane herangezogen, bevor die Frage nach der Aktualität und dessen Kriterien gestellt werden kann.

2 Theoretische Vorbemerkung

Jeder Text hat eine begrenzte Menge an Bedeutungen.[5] Um die historische Rezeptionsgeschichte von Anna Seghers´ Exilromanen angemessen wiedergeben zu können, müssen sowohl quantitative als auch qualitative Überlegungen angestellt werden. Der Umfang und die Qualität der produktiven und/oder dokumentierten Rezeption werden in Bezug zur Primärquelle gesetzt, um Auskunft über Denkstrukturen der Epochen wie auch über gruppenspezifische Phänomene geben zu können.

Bereits die Bestimmung des Begriffes der Rezeption bereitet Schwierigkeiten, denn er unterliegt einer gewissen definitorischen Beliebigkeit. Nachfolgend wird also ein kurzer Anriss der grundlegenden Begriffe geleistet, der als Basis meiner Argumentation dient, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.

Ist Rezeption die Aufnahme (Rezeption ist abgeleitet von lateinisch „recipere“[6], d.h. „in sich aufnehmen“[7]) und Verarbeitung eines Kunstwerks, so bezieht sich der Terminus deutlich auf die Schnittstelle zwischen Text und Leser sowie deren Interaktion.[8] Artikuliert sich der Leser, indem er Dokumente, wie zum Beispiel Rezensionen verfasst, so wird von produktiver Rezeption gesprochen.[9] Nur in diesem Fall sind Informationen über Rezeptionsprozesse zugänglich, denen meistens die Konstitution vorgegebener Sinnstrukturen abzulesen ist; darüber hinaus können und werden aber auch Sinnpotentiale ausgeschöpft. Im zweiten Fall offenbart der Verfasser mehr über seine eigene Person. Auf der Grundlage der Dokumente, die im Zuge der produktiven Rezeption entstehen, können dann Rückschlüsse auf den Verfasser und auch über ihn, als Repräsentanten, Rückschlüsse auf eine spezifische Gruppe gezogen werden. Diese Aktion bedeutet die Aktualisierung und Weiterentwicklung des Textes im Bewusstsein des Lesers, die hinsichtlich ihrer Angemessenheit untersucht werden muss. Rezeption ist immer bezogen auf den Erwartungshorizont des Lesers, der diese maßgeblich steuert. Der Leser begegnet dem Text mit einem bestimmtem Vorwissen und bestimmten Erwartungen, er ist, „ein System lebensweltlicher, ästhetischer und literarischer Normen, vor deren Hintergrund der Text wahrgenommen und konstituiert wird.“[10] Das Interesse dieser Arbeit zielt in diese Richtung; es sollen über die Instanz der produktiven Rezeption bezüglich der Romane Das siebte Kreuz und Transit und der Analyse deren Angemessenheit Gesellschaftsstrukturen aufgerollt werden. Das zu diesem Zweck ein umfassendes Bild der Rezeptionsgeschichte gezeichnet werden muss und nicht die Realisation von im Text angelegten Strukturen im Mittelpunkt der Untersuchung steht, also die Rezeptionsästhetik nur als steuernde Größe berücksichtigt werden kann, ergibt sich aus dem Frageinteresse und wird folgend näher bestimmt.

Die Rezeptionsästhetik wird in den siebziger Jahren besonders von Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser diskutiert. Ein grundlegendes Merkmal des Begriffsinhalts ist die Bedeutungsentfaltung literarischer Texte im Akt ihrer Rezeption.[11] So erläutert Iser in „Der Akt des Lesens[12], dass dieser ein aktives Moment in der Konstitution des ästhetischen Gegenstandes ist. Hier ist der Fokus also auf das wechselseitige Verhältnis von Text und Leser gerichtet. Dem Leser wird eine aktive Rolle in der Sinnentfaltung des Gegenstands zugesprochen, während der Text eine, diese Konstitution lenkende Funktion der Leserlenkung bedient.[13] Dementsprechend ist der Text eine auf „Konkretisation angelegte Struktur“[14]. Die Rezeptionsästhetik entsteht einerseits aus der philologischen Praxis, andererseits verfolgt sie den Anspruch deren Theoriedefizit zu beheben.[15] Als Hans Robert Jauß 1967 feststellt, dass der Textinterpretation bislang die Leserinstanz fehlt, entwickelt er das Konzept des impliziten Lesers, als Fiktion stellvertretend für den Empfänger von Literatur, der ihm das ästhetische Erlebnis vorgestaltet.[16] Der kurze Abriss macht deutlich, dass dieser Ansatz als Methode für diese Arbeit nicht förderlich ist, sind doch Dokumente faktischer Wirkung von Literatur nicht zentraler Gegenstand der Untersuchung. Rezeptionsästhetik verdrängt die realen Vorraussetzungen und Folgen von Rezeption aus ihrer Fragestellung und kann demnach eher keine Erkenntnisse bezüglich der Angemessenheit der geschichtlich realisierten Rezeptionsprozesse hervorbringen.

Wenn der Fokus dieser Untersuchung letztlich auf die historischen Veränderungen der Rezeptionsprozesse gerichtet ist, wird die Basis dafür durch die „erschließbare Horizontverschmelzung zwischen Werk und jeweiligen Lesern, wie sie zu jedem historischen Moment besteht“[17], gebildet. Rezeptionsgeschichte beschreibt also die historischen Veränderungen der verschiedenen Rezeptionsprozesse.[18] Damit leistet sie auf einer Metaebene eine historische Sinnentfaltung von Textstrukturen.[19]

Informationen über Rezeptionsprozesse sind ausschließlich über Rezeptions-dokumente zugänglich. Die nachfolgenden Untersuchungen stützen sich sowohl auf indirekte Parameter, wie beispielsweise Auflagenzahlen, als auch auf direkte Dokumente, wie Bezugnahmen verschiedenster Akteure in Form der gängigen Metatexten, wie Briefe oder Rezensionen, auf die Primärquellen. Mit diesem Fakt geht einher, dass durch direkte Rezeptionsdokumente nur privilegierte Rezipienten gehört werden können.

3 Relationen von Rezeptionsprozessen

Die Erwartungen des Lesers an Stoff, ästhetische Umsetzung und Fokus werden entweder erfüllt, teilweise erfüllt, oder aber sie bleiben unbefriedigt. Die Qualitätseinschätzung bzw. die Beurteilung des Textes hinsichtlich Relevanz ist abhängig vom Individuum, mit den Faktoren der Gesellschaft, die es prägen. Aus der produktiven Rezeption, also den dokumentierten Rezeptionsprozessen, ist eine Verschmelzung der Autoren- und der Leserinstanz hervorgegangen. Kritische Kommentare, huldigende Rezensionen oder vernichtende Diffamie sind Zeugnis von Relevanzeinschätzungen.

3.1 Die epochalen Besonderheiten von Exilliteratur

Die Phänomengruppe, in der die zur Untersuchung stehenden Romane entstehen, bringt Exilliteratur hervor. Bei der Zugehörigkeit zu dieser Literaturperiode spielen ungewöhnliche Faktoren, wie der geographische, eine entscheidende Rolle.[20]

Bei Anna Seghers` Exilromanen handelt es sich also um einen Teil deutschsprachiger Literatur, der außerhalb des Machtbereichs des Nationalsozialismus, aber in einem durch dessen Herrschaft festgelegten Zeitrahmen, entstanden ist. Diese und weitere Umstände stehen in direktem Zusammenhang mit der Rezeptionsmotivation und

-richtung. Exilwerke werden vorurteilsbehaftet wahrgenommen und in die Diskussion aufgenommen. Die Gemeinsamkeiten derer, die diese Literaturepoche begründen, sind oft lediglich auf das Erleiden und Erleben der Fremde sowie die Entwurzelung und die Erinnerung an das gemeinsame Erbe, das es zu bewahren gilt, beschränkt. Die Exilierten selbst, durch Selbstzeugnisse bewiesen, empfinden sich nicht unbedingt als einander zugehörig, wie der Leser es erwarten würde. Im Zuge der Rezeptionsbeobachtung bzw. -forschung werden verschiedene Tendenzen aufgedeckt werden, die das Verständnis des jeweiligen Rezipienten, stellvertretend für eine Gruppe, von Exilliteratur, im Besonderen der dort entstandenen Romane von Anna Seghers, wiederspiegeln. Der Leser ist den Texten umso näher, je enger die Rezeption mit der Entstehungszeit des Romans, die darin auch behandelt wird, zusammenfällt, manchmal emotional eng mit dieser verwurzelt, was den Aspekt der subjektgebundenen Aufnahme von Literatur noch verstärkt. So steht Anna Seghers im Mittelpunkt eines Streits, der zum Gegenstand moralische Gesichtspunkte setzt. Die ästhetischen Strukturelemente werden oft nur am Rande abgehandelt, sie stehen nicht im Zentrum der Auseinandersetzung.

3.2 Die wechselseitige Verantwortung des Rezeptionsprozesses

Die wechselseitige Verantwortung von Schriftsteller und Leser ist in dem Roman Transit explizit thematisiert. Obwohl der Anonymus zugibt, keinen Zugang zu Kunst im Allgemeinen zu haben, wird ihm, als er das Manuskript Weidels entdeckt, dessen Wert sofort bewusst. „Obwohl er nicht viel von Kunst versteht, wird ihm der Wert des Werkes bewusst, bangt er um die Hinterlassenschaft“[21]. Der Leser ist hier die Instanz, die dem Text Sinn und Bedeutung gibt, denn das Produkt des Schriftstellers existiert nur potentiell als Kunstwerk.

Die Möglichkeit, ein Werk positiv zu verarbeiten, bietet sich dann, wenn sich die Lesererwartung mit der fiktiven Handlung, kreiert durch den Autor, weitgehend deckt. Keine Verständigung und keine produktive Rezeption ergeben sich folgerichtig dann, wenn die Autorenabsicht und die Erwartung des Lesers so weit auseinander liegen, dass der Leser sein Vorwissen, seine Eindrücke der Welt nicht mit einbringen kann.[22] Zwischen diesen Polen bewegen sich die Möglichkeiten einer produktiven Verarbeitung von Literatur, der Leser ist aktiv an diesen Prozessen beteiligt. „Der Text ist ein Wirkungspotential, das im Lesevorgang aktualisiert wird.“[23] Der Sinn des Textes wird vom Leser selbst konstruiert, Relevanzeinschätzungen vorgenommen.

Die Chance sich mit Teilen des Geschehens oder der Ideen, die dem Werk immanent sind, zu identifizieren, ist in Relation zu den Auslegemöglichkeiten, die diese eröffnen, zu setzen. Sind Lösungen für aufgetretene Probleme zu eng formuliert, so fällt die Zahl derer, die sich in dem Werk bzw. dessen Inhalten selbst erkennen, proportional dazu. In diesem konkreten Fall haben all diejenigen, die antikommunistisch eingestellt sind, keine Option Anna Seghers` Exilromane wirklich zu verstehen und sind in Folge dessen überkritisch. Anna Seghers´ Werk wird in der Literaturkritik außerdem oft abgewertet, weil ihr Sprachstil missverstanden wird. Die sprachlich einfachen, im Aufbau weniger komplexen Handlungsstränge verführen zu Qualitätseinbußen im Auge des Betrachters, der einen anderen Stil gewohnt ist und sich davon verleiten lässt diesen als Werkzeug der Orientierung zu benutzen.

4 Kritische Entstehungs- und Druckgeschichte der Romane

Während sich Anna Seghers von ihrem Pariser Exil aus an der Realismus Debatte emigrierter deutscher Schriftsteller beteiligt, schreibt sie 1938 bis 1939 an dem Manuskript ihres Romans Das siebte Kreuz, das sie 1940 vollendet, um ein Jahr später die Arbeit an Transit aufzunehmen, die sie auf der Überfahrt nach Mexiko fortsetzt. Der Briefwechsel zwischen ihr und George Lukacs wird in der Moskauer Exilzeitschrift Internationale Literatur veröffentlicht. Thematisiert sind die Methode und das Wesen des Realismus. Während es George Lukacs in erster Linie um die ästhetische Theorie und ihre Stringenz geht, konzentriert sich Anna Seghers auf den schöpferischen Prozess. In beiden hier zur Untersuchung zugrunde liegenden Exilromanen wird die Idee der unbewussten Aufnahme von Realität als erste Phase der Wirklichkeitsrezeption des schöpferischen Subjekts thematisiert bzw. ihrer Natur gerecht, wie selbstverständlich eingebunden. Bernhard Spies spricht von der Expressionismus Debatte, referiert aber über die gleichen Streitpunkte.[24] Anna Seghers macht ihre Position deutlich, sie kritisiert Georg Lukacs, der die literarische Subjektivierung für Unmittelbarkeit hält, die es zu überwinden gilt.[25] Anna Seghers hält diesen Anspruch, zumindest in Zeiten von Krieg für haltlos. 1947 rollt Lukacs die Auseinandersetzung vergangener Zeiten am Beispiel von Das siebte Kreuz wieder auf, nun aber mit relativer Anerkennung, aus der eine Entwicklung und Reflexion erkennbar ist.

An Bildhaftigkeit der einzelnen Situationen, an innerer Wahrheit der dargestellten Menschen beider Lager hat Anna Seghers Außerordentliches geleistet. Und doch kommt auch sie oft nicht über die Schilderung sinnlicher oder psychologischer Zuständlichkeiten hinaus, in denen sich freilich ihre ungewöhnliche Energie der Vergegenwärtigung plastisch zeigt. Das tiefe Warum des Kampfes, das Herauswachsen seines gesellschaftlich-geschichtlichen Sinnes aus individuellen Erlebnissen, Zusammenhängen, Konflikten lebendiger Einzelmenschen bleibt auch hier von einem – dichterisch allerdings hochwertigen – Schleier verhüllt.[26]

Mit dieser Sichtweise eröffnet er die Kritik an der thematischen Reife der Exilromane von Anna Seghers.

Wenn in der nachfolgenden Entstehungs- und Druckgeschichte der Romane Wert darauf gelegt sein wird, in welche Zeit und allgemeine politische Verfassung das öffentlich zugängliche Werden derselben fällt, liegt das daran, dass das Aufnehmen und Lesen eines Werkes nicht unabhängig vom zeitgeschichtlichen Umfeld und Kontext ist; diese gehen vielmehr in die Erwartungshaltung des Lesers ein, bestimmen die Bereitschaft zur Aufnahme fremder Erfahrungen und Sichtweisen mit.

4.1 Das siebte Kreuz

Den Zweck verfolgend, vertriebenen deutschsprachigen Schriftstellern und Schriftstellerinnen eine gemeinsame Identität zu geben, die die Stilrichtung[27] Exilliteratur mehr füllt, als das gemeinsame Schicksaal des Verlustes von Heimat und Muttersprache, haben sich verschiedene Bedürfnisse, Ideen und Gegenstände der Auseinandersetzung herausgebildet, die eine Phaseneinteilung möglich machen. Jede ist ein Zusammenspiel von historischen Ereignissen, daraus resultierenden Emotionen und deren Ausdruck. Ariane Neuhaus-Koch gliedert Das siebte Kreuz, wie schon viele Philologen vor ihr, in die zweite Phase der Exilliteratur ein. Diese mittlere Phase (1936-1938) ist durch eine „Intensivierung des antifaschistischen Engagements“[28] gekennzeichnet. Den vor Kriegausbruch beendeten Roman nennt sie einen der bedeutendsten Deutschlandroman des Exils[29], den Anna Seghers sehr bescheiden ankündigt.

„Ich werde einen kleinen Roman beenden, etwa 200 bis 300 Seiten, nach einer Begebenheit, die sich vor kurzem in Deutschland zutrug. Eine Fabel also, die Gelegenheit gibt, durch die Schicksale eines einzelnen Mannes sehr viele Schichten des faschistischen Deutschlands kennenzulernen.“[30]

Mit diesem kleinen Roman gelingt die vielschichtige Zeichnung Deutschlands im Jetzt der Entstehungszeit, geschaffen außerhalb der Landesgrenzen. Anna Seghers entdeckt Heimat und Nation als wesentliche Realitäten gesellschaftlichen Seins für sich neu.[31] Die Begriffe werden durch die faschistische Umfälschung mit bedrohlichen Inhalten gefüllt, denen Anna Seghers poetisch begegnet. Sie ist dabei von Informationen abhängig, die ihr zugetragen werden, bleibt ihr doch die Heimat zunächst unerreichbar. „Vielerlei Umstände, Begebenheiten sind mir immer wieder von Emigranten, und darunter waren auch Flüchtlinge aus Lagern, genau erzählt worden.“[32] Bei einem der häufigen Besuche des Schweizer Rheingebietes ist ihr laut Wilhelm Girnus[33] die Geschichte eines Häftlings zugetragen worden, der an ein Kreuz gebunden wird, sobald seine Ergreifung glückt. Nähere Informationen zur Realvorlage des fiktiven Konzentrationslager Westhofen können dem Kapitel Zwölf, „Faktisches und Fiktionalisierung in Das siebte Kreuz am Beispiel Westhofen“, entnommen werden. Kurt Batt schlussfolgert logisch, indem er 1980 feststellt, dass dieses Realerlebnis den Ausgangspunkt der Entstehung der Handlung des Romans ausmacht. Die Faszination, die davon ausgeht, dass eine ganze Gesellschaft an einem Ereignis aufgerollt werden kann, beginnt mit dem Leseerlebnis von Alessandro Manzonis historischem Roman „Die Verlobten“, auf den Anna Seghers im Rahmen des 2. Internationalen Schriftstellerkongress, aufmerksam wird.

Es wird nämlich in diesem Roman an einem Ereignis die ganze Struktur eines Volkes aufgerollt, und da hab ich mir gedacht, diese Flucht ist das Ereignis, an dem ich die Struktur des Volkes aufrollen kann.[34]

4.1.1 Entstehung – Flucht vor den Nationalsozialisten

1938 stehen also das Konzept und die grundlegenden Entscheidungen über denn abzudeckenden Themenbereich fest, Anna Seghers nimmt die Arbeit an dem Roman auf. „Anhand einer außergewöhnlichen Begebenheit sollte ein Querschnitt durch das nationalsozialistisch beherrschte Deutschland gegeben werden“[35], so die Schlussfolgerung aus dem vorangegangenen Zitat laut Bernhard Spies, dem die Bandbearbeitung der Werkausgabe des Romans 2000 zugesprochen wird. Anna Seghers beendet die Arbeit an dem Roman kurz vor dem Einfall der deutschen Wehrmacht in Frankreich. Der genaue Abschluss lässt sich nicht datieren, aber der Druckgeschichte ist zu entnehmen, dass im Mai 1939 die ersten beiden Kapitel des Romans in der in Moskau erscheinenden Exilzeitschrift Internationale Literatur abgedruckt werden. Dementsprechend liegen zumindest diese beiden Kapitel zu diesem Zeitpunkt vor. Im Oktober desselben Jahres muss das Manuskript vollendet gewesen sein, denn eine Abschrift geht an Fritz H. Landshoff, den zuständigen Lektor für die deutsche Exilliteratur beim Querido Verlag. Ende November 1939 gibt es, laut einer Meldung Anna Seghers` an John Lehmannn in London, mehrere Exemplare des vollständigen Romans, sie bittet ihn sich um eine Publikationsmöglichkeit in England zu bemühen. Interessanterweise sind diese Exemplare nicht vollständig identisch. Anna Seghers gibt Anweisungen, welches der Manuskripte als Vorlage für eine Übersetzung dienen soll.[36] Die Uneinheitlichkeit geht auf verschiedene Faktoren zurück. Zuallererst ist der Umstand zu benennen, dass die politisch engagierte Mutter zweier Kinder in der bedrängten Situation des Exils nicht die Möglichkeit findet kontinuierlich an ihren literarischen Texten zu schreiben. Nachdem Anna Seghers` Mitarbeiterin Christa Wolf die „Bündel Blätter“[37], die in verschiedenen Cafes entstanden sind, ins Reine schreibt, macht sich Anna Seghers nicht die Mühe eine zeichengenaue Überarbeitung des Typoskripts anzufertigen.

Die Geschichte einer geglückten Flucht vor der nationalsozialistischen Herrschaft, die Das siebte Kreuz erzählt, ist gleichzeitig die seiner eigenen Geschichte, von der ersten Idee bis zum Druck. „Als ich das Manuskript schließlich korrigierte, hatte der Zweite Weltkrieg begonnen“[38], äußert sich Christa Wolf bezüglich der Entstehung von Das siebte Kreuz. Sie gibt außerdem zu, dass ihr inmitten der Kriegswirren mehrere Kopien verloren gehen. Dass ein Exemplar bei Franz Weiskopf, der damals in den USA ist, ankommt, rettet die Abschrift. Insofern spitzten sich die Umstände bis zur Veröffentlichung des Deutschlandromans parallel zur Flucht des Protagonisten zu.

4.1.2 Druckgeschichte – vom Kriegskind zum Bestseller

Die Bemühungen einen Verleger für Das siebte Kreuz zu finden fallen in das erste Jahr des zweiten Weltkrieges. Dieser Zeit entsprechend stellt es sich als sehr schwierig heraus den Roman, der Anna Seghers sehr am Herzen liegt, veröffentlichen zu lassen. Fast fällt der Roman den Wirren des Krieges zum Opfer. Als Anna Seghers die Odyssee von Marseille nach Mexiko antritt hat sie kein Exemplar mehr im Gepäck. Die folgende Aufzählung der Stationen von Verlegern und Verlagsorten ist verschiedensten Quellen entnommen, die sich gegenseitig ergänzen. Widersprüchliche Aussagen sind nicht getroffen worden, also kann davon ausgegangen werden, dass die Rezeption mit den folgenden Stationen der Veröffentlichung beginnt.

Schon ein Jahr nach dem Beginn der Arbeit an dem Roman werden ab Juni 1939 erste Kapitel in der in Moskau erscheinenden Internationalen Literatur gedruckt.[39] Zu diesem Zeitpunkt kann Anna Seghers nicht wissen, dass der Druck nach den ersten beiden Kapiteln eingestellt wird.[40] Nach dem Abschluss des deutsch-sowjetischen Nichtangriffpaktes erwartet sie keine weitere Veröffentlichung in der Sowjetunion. Die politischen Umstände, dass Polen von Deutschland erobert ist, Hitler durch Verträge mit Stalin absichert keinen Angriff über die Ostfront befürchten zu muss und der Kriegsausbruch an der deutschen Westfront bevor steht, macht eine Veröffentlichung in Europa erst einmal unwahrscheinlich bis unmöglich. Umso dringlicher wendet sich Anna Seghers an ihre Freunde in New York, dort einen Übersetzer und Verleger für sie zu finden.

1941 erscheint eine russische Übersetzung in der Zeitschrift Oktjabr, die den Roman bis zum vierten Kapitel, Abschnitt V wiedergibt.[41] Die Erfolgsgeschichte der Rezeption des Romans Das siebte Kreuz beginnt aber mit dessen Vermarktung im amerikanischen Buchgeschäft. 1942 erscheint die Erstausgabe im Bostoner Verlag Little Brown & Company, es verkaufen sich innerhalb von vier Wochen ca. 340.000 Exemplare,[42] und auf Empfehlung von Erich Maria Remarque wird das Buch noch im selben Jahr in dem 300.000 Mitglieder zählenden Book-of-the-Month-Club als Buch des Monats herausgebracht. Im Zug einer Werbeaktion des Clubs wird eine Comic-Strip-Version produziert, die in fünfunddreißig amerikanischen Tageszeitungen (darunter dem Daily Mirror), abgedruckt wird. Nach Schätzungen erreicht sie etwa zwanzig Millionen Leser.[43] 1943 drucken den Roman die Filiale von Little Brown & Company in Kanada und der Verlag Hamish Hamilton in England. In den USA folgen mehrere Teilabdrucke und Nachdrucke. Im Besonderen sollte noch die Ausgabe in der Armed Services Edition speziell für die Amerikanischen Streitkräfte zum Zweck der Motivation, 1944, erwähnt werden.

Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs erscheint in der Moskauer Zeitschrift Internationale Literatur der Aufsehen erregende Roman Das siebte Kreuz, doch der Hitler-Stalin Pakt führt zum sofortigen Abbruch des Vorabdrucks.

Die erste deutschsprachige Version erscheint im Januar 1943 im mexikanischen Exilverlag El libro libre (das freie Buch), der von Walter Janka geführt wird. Innerhalb von vierzehn Tagen sind zweitausend Exemplare verkauft.[44] Zeitnah zu dieser ersten deutschen Ausgabe entstehen die ersten Übersetzungen. Editorial Nuevo Mondo in Mexiko bringt auch im Jahr 1943 eine spanische, Bonnier in Stockholm eine schwedische, Martins in Sao Paulo eine portugiesische Übersetzung heraus.

Fast alle Werke der Exilautoren, die nach 1945 als alte Linke in die Sowjetische Besatzungszone gehen, erscheinen in den folgenden Jahren bei sowjetisch lizenzierten Verlagen, häufig sogar in auffällig hohen Auflagen; so setzt sich der enorme Erfolg im Ausland vergleichsweise in Deutschland fort. Bereits 1946 erscheint Das siebte Kreuz in der sowjetischen Besatzungszone im neugeschaffenen Aufbau-Verlag in Berlin. In kurzer Zeit verkauft sich Das siebte Kreuz achtzigtausend Mal.[45] Bis 1973 erfolgen in der Sowjetischen Besatzungszone und der Deutschen Demokratischen Republik dreiundzwanzig Auflagen. Der Querido Verlag in Amsterdam verlegt den Roman im selben Jahr.

Auch in der amerikanischen Besatzungszone, bei Desch in München, kann der Roman ein Jahr später (1947) gekauft werden. Ein Textauszug wird auf in dem von Richard Drews und Alfred Kantorowicz herausgegebenen Band: Verboten und verbannt. Deutsche Literatur – 12 Jahre unterdrückt im selben Jahr abgedruckt. Ein Nachdruck in Hamburg, verlegt durch den Rowohlt Verlag, wird 1948 zum Bestseller des westlichen Nachkriegsdeutschlands, mit einer Auflage von hundertfünfzigtausend Exemplaren. Ins Niederländische übersetzt erschließt der Roman nun auch den holländischen Buchmarkt. Die Büchergilde Gutenberg, die gewerkschaftliche Buchgemeinschaft, liefert ihren Mitgliedern 1949 eine Ausgabe. Alle genannten Ausgaben des Romans beruhen auf der Erstausgabe bei El Libro Libre.[46] Jedoch zeigen alle Spuren einer vorsichtigen Korrektur in Orthographie, Grammatik und Vereinheitlichung der Namensgebung von Personen. Die erste vollständige Fassung in russischer Sprache ist 1949 erwerbbar. Der internationale Erfolg des Romans lässt sich nicht genau beziffern, wird aber dadurch charakterisiert, dass er in über vierzig Sprachen übersetzt wird.

Zwischen 1947, als Anna Seghers für ihren Roman Das siebte Kreuz in Darmstadt mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet wird (1932 wird eine Nominierung aus politischen Gründen zurückgestellt), und 1977, als sie von der Universität Mainz zur Ehrenbürgerin ernannt wird, ist es im Westen Deutschlands erstaunlich ruhig um die bekannte Schriftstellerin, das Interesse bricht ab. Sie wird während der fünfziger Jahre und dem ersten Jahrzehnt der christdemokratisch regierten Restaurationsperiode absolut boykottiert. Erst 1962 verlegt Luchterhand den Roman in einer Neuauflage, gibt aber eine Lizenz an Rowohlt ab, der Das siebte Kreuz von 1965 bis 1979 in zwei Auflagen mit insgesamt fünfundfünfzigtausend Exemplaren als Taschenbuch ediert. Die Empörung über den Mauerbau im Jahr zuvor bewirkt, dass diese Werkausgabe skandalträchtig ist. Sicherlich bleiben auch nach den späten sechziger Jahren die Veröffentlichungen in der BRD zahlenmäßig hinter denen in der DDR zurück, eine breite und kontinuierliche Rezeption ist dennoch abzulesen. Die Gesamtauflage in der Deutschen Demokratischen Republik beläuft sich auf 1,5 Millionen.

[...]


[1] Johann Wolfgang von Goethe: Erste Epistel, in: Prof. Dr. Karl Heinemann (Hg.): Goethes Werke. Kritisch durchgelesene und erläuterte Ausgabe, Band 1: Gedichte. Leipzig und Wien 1901, S. 198

[2] Es wird hier und im Folgenden die generische Form verwendet.

[3] Erwin Rotermund: Titelfrei, in: Günter Eifler und Anton Maria Keim (Red.): Anna Seghers Mainzer Weltliteratur. Beiträge aus Anlaß des 80. Geburtstages. Mainz 1981, S. 65.

[4] Vgl. Anette Auberle (Red.): Duden – Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. 3. Auflage. Mannheim et al. 2001; Paul Grebe (Red.): Duden – Der passende Ausdruck. Sinnverwandte Wörter und Wendungen. Mannheim 1964; Dieter Baer (Red.): Duden – Fremdwörterbuch. Auf der Grundlage der neuen amtlichen Rechtschreibregeln. 7. Auflage. Mannheim 2001.

[5] Vgl. Horst Brunner (Hg.): Literaturwissenschaftliches Lexikon. Grundbegriffe der Germanistik. Berlin 1997, S. 288; künftig zitiert als: „Literaturwissenschaftliches Lexikon“.

[6] Literaturwissenschaftliches Lexikon, S.287.

[7] Literaturwissenschaftliches Lexikon, S.287.

[8] Vgl. Klaus Weimer (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Berlin et al. 2003, S. 282; künftig zitiert als: „Reallexikon“.

[9] Vgl. Reallexikon, S. 283.

[10] Reallexikon, S. 284.

[11] Volker Meid: Sachwörterbuch zur deutschen Literatur. Stuttgart 1999, S. 437; künftig zitiert als: „Sachwörterbuch“.

[12] Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. 4. Auflage. München 1994; künftig zitiert als: „Iser: Akt“.

[13] Vgl. Reallexikon, S. 286.

[14] Ebenda.

[15] Vgl. Reallexikon, S. 287.

[16] Vgl. Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in: Rainer Warning (Hs): Rezeptionsästhetik. München 1994, S. 126-162.

[17] Tina Simon: Rezeptionstheorie. Einführungs- und Arbeitsbuch. Band 3. Frankfurt am Main 2003, S. 147.

[18] Vgl.: Sachwörterbuch, S. 437.

[19] Vgl.: Reallexikon, S. 286.

[20] Vgl. Ariane Neuhaus-Koch: Krisen des Exils. Anna Seghers` Exilroman Transit, in: Gerhard Rupp (Hs.): Klassiker der deutschen Literatur. Epochen-Signaturen von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Würzburg 1999, S. 333; künftig zitiert als: „Neuhaus-Koch: Krisen“.

[21] Heinz Neugebauer: Anna Seghers. Leben und Werk. 3. Auflage. Berlin, 1988, S. 31.

[22] Vgl. Iser: Akt, S. 7.

[23] Ebenda.

[24] Vgl. Bernhard Spies: Bandbearbeitung zur Werkausgabe, in: Anna Seghers: Das siebte Kreuz. Roman aus Hitlerdeutschland. Berlin 2000, S. 472; künftig zitiert als: „Spies: Werkausgabe Kreuz“.

[25] Spies: Werkausgabe Kreuz, S. 473.

[26] Georg Lukacs: Literatur im Zeitalter des Imperialismus. Eine Übersicht ihrer Hauptströmungen. Berlin 1947, S. 66.

[27] Für das Phänomen Exilliteratur benutze ich hier den Begriff Stilrichtung als eine Klassifikationsmöglichkeit literarischer Texte innerhalb der größeren Epoche der Moderne.

[28] Neuhaus-Koch: Krisen, S. 233.

[29] Ebenda.

[30] Das Zitat findet sich in einem Brief Anna Seghers` an Iwan Anissimow vom 23.9.1938, abgedruckt in: Sigrid Bock (Hs.): Über Kunstwerk und Wirklichkeit. Berlin 1970, S. 43.

[31] Vgl. Kurt Batt: Versuch über Entwicklung und Werke. 2. Auflage, Leipzig 1980, S. 120; künftig zitiert als: „Batt: Versuch“

[32] So äußert sich Anna Seghers im Gespräch mit Christa Wolf, abgedruckt in: Sigrid Bock (Hs.): Über Kunstwerk und Wirklichkeit, Bd. II., in: Batt: Versuch, S. 120.

[33] Vgl. Äußerrungen Wilhelm Girnus im Gespräch mit Anna Seghers, abgedruckt in: Sigrid Bock (Hs.): Über Kunstwerk und Wirklichkeit, Bd. III., in: Batt: Versuch, S. 120.

[34] So richtet sich Anna Seghers an ihre Leser, abgedruckt in: Sigrid Bock (Hs.): Über Kunstwerk und Wirklichkeit. Berlin 1970, S. 44.

[35] Spies: Werkausgabe Kreuz., S. 446.

[36] Vgl. die Äußerungen Anna Seghers in einem Brief an Wieland Herzfelde von Ende 1939, abgedruckt in: Ursula Emmerich und Erika Pick (Hs.): Ein Briefwechsel. Berlin 1985, S. 32.

[37] Spies: Werkausgabe Kreuz, S. 447.

[38] So äußert sich Christa Wolf im Gespräch mit Anna Seghers, abgedruckt in: Sigrid Bock (Hs.): Über Kunstwerk und Wirklichkeit, Bd. II., in: Kurt Batt: Versuch über Entwicklung und Werke. 2. Auflage. Leipzig 1980, S. 120; künftig zitiert als: „Batt: Versuch“.

[39] Batt: Versuch, S. 120.

[40] Vgl.: Spies: Werkausgabe Kreuz, S. 446.

[41] Vgl.: Spies: Werkausgabe Kreuz, S. 450.

[42] Vgl.: Spies: Werkausgabe Kreuz, S. 481.

[43] Ebenda.

[44] Ebenda.

[45] Vgl. Ingeborg Münz-Koenen (Hs.): Literarisches Leben in der DDR. 1945 bis 1960. Berlin 1979, S. 30.

[46] Spies: Werkausgabe Kreuz, S. 452.

Ende der Leseprobe aus 91 Seiten

Details

Titel
Wechselnde Relevanzen - Zur Rezeption der Exilromane von Anna Seghers
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf  (Germanistisches Institut)
Note
2,1
Autor
Jahr
2006
Seiten
91
Katalognummer
V73216
ISBN (eBook)
9783638635776
ISBN (Buch)
9783638675680
Dateigröße
1405 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wechselnde, Relevanzen, Rezeption, Exilromane, Anna, Seghers
Arbeit zitieren
M.A. Baghira Karlos (Autor:in), 2006, Wechselnde Relevanzen - Zur Rezeption der Exilromane von Anna Seghers, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/73216

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