Bertolt Brecht und der Juniaufstand


Dossier / Travail de Séminaire, 2001

24 Pages, Note: 2,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1.Vorwort

2.Brechts letzte Jahre in Berlin

3.Die Ereignisse des 17. Juni 1953

4.Brechts späte Lyrik
4.1.Buckower Elegien
4.1.1.Die Lösung
4.1.2.Der Radwechsel
4.1.3.Heisser Tag
4.1.3.Der Einarmige im Gehölz
4.1.5.Vor acht Jahren
4.1.6.Die Kelle
4.2.Schlussbetrachtung

6.Bibliographie

1. Vorwort

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit Bertolt Brechts Haltung zum Aufstand des 17. Juni 1953 in der DDR. Dazu sollen anhand von Briefen, in denen er Stellung zu den Ereignissen nimmt, und anhand des Gedichtzykluses Buckower Elegien seine Ansichten herausgestellt werden.

Die Buckower Elegien, die vom 17. Juni ausgelöst wurden, geben in verschlüsselter Weise Aufschluss über Brechts politische Einstellung und seine Meinung zu den Vorkommnissen dieses Tages. Exemplarisch werden sechs bzw. sieben Gedichte der Elegien von mir analysiert. Zunächst werde ich mich allerdings, um einen Überblick über seine Tätigkeiten in dieser Zeit zu gewinnen, der Arbeit Brechts nach der Rückkehr aus dem Exil widmen. Das darauf folgende Kapitel beschäftigt sich ausschließlich mit dem 17. Juni. Untersucht werden hauptsächlich die von Brecht verfassten Briefe, u.a. an Regierungsmitglieder der DDR. Inwieweit diese Brechts „offizielle“ Meinung zum Aufstand preisgeben, wird sich noch zeigen. Der grösste Teil der Arbeit befasst sich mit den bereits angesprochenen Buckower Elegien. Die wichtigsten Erkenntnisse, die aus den untersuchten Texten gewonnen werden konnten, werden am Schluss nochmals zusammengefasst.

2. Brechts letzte Jahre in Berlin

Als Bertolt Brecht 1949 nach dem Sieg der Alliierten über das nationalsozialistische Deutschland aus dem Exil zurückkehrt, entschließt er sich nach Ost-Berlin überzusiedeln. Dass er sich für die DDR entscheidet, mag (neben der Tatsache, dass ihm die Einreise nach Westdeutschland verweigert wurde) hauptsächlich an seiner Ansicht liegen, nur der Sozialismus habe in Deutschland eine Zukunft. So will Brecht am Aufbau dieses sozialistischen Deutschland im Osten teilhaben; dem Westen hingegen steht er in dieser Zeit kritisch gegenüber. Aber auch dem DDR-Regime gegenüber verhält er sich skeptisch. Kurz nachdem er in die DDR kommt, besorgt Brecht sich die österreichische Staatsbürgerschaft. Als Ausländer kann er so ungehindert in den Westen reisen. Auch werden die Rechte an seinem Werk an den westdeutschen Verlag von Peter Suhrkamp gegeben.

Bertolt Brechts Arbeit gestaltet sich in der DDR relativ schwierig. Textliche Eingriffe in sein Werk werden immer wieder versucht, und auch seine Theaterstücke werden - im Westen wie im Osten - kaum aufgeführt. Immerhin erhält er 1954 sein eigenes Theater, das er mit dem von ihm und seiner Frau Helene Weigel gegründeten Berliner Ensemble nutzen darf. Damit „[...] schuf er sich [...] ein in der deutschen Theatergegenwart einzigartiges Instrument, um seine Werke wie seine Theorie konsequent an der praktischen Theaterarbeit zu überprüfen und zu modifizieren.“1 Ein Brief Brechts an Otto Grotewohl veranschaulicht, dass das Interesse an der Arbeit Brechts nicht allzu gross gewesen sein muss:

Lieber Genosse Grotewohl, durch die Fertigstellung der Volksbühne wird das Schiffbauerdammtheater frei werden. Dies ist das Theater, an dem ich vor meiner Emigration arbeitete und z.B. die »Dreigroschenoper« aufführte. Seit der Gründung des Berliner Ensembles wurde uns dieses Haus für den Fall in Aussicht gestellt, daß die Volksbühne fertig würde. [...] Sie haben vielleicht gehört, daß in Westdeutschland die unsinnigen Gerüchte über Zwistigkeiten zwischen mir und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik wieder sehr verstärkt aufgemacht werden. Die Übernahme des Theaters am Schiffbauerdamm durch das Berliner Ensemble, das weit über Deutschland hinaus bekannt ist, würde meine Verbundenheit mit unserer Republik deutlichst dokumentieren.2

Die ihm gebührende Anerkennung muss Brecht sich also mehr oder weniger erbetteln. Die Gründung des Berliner Ensembles läßt jedoch nicht ganz so lange auf sich warten. Im April 1949 legt Walter Ulbricht auf Vorschlag von Otto Grotewohl und Wilhelm Pieck die Gründung des Ensembles fest. Trotz allem lehnt man in der DDR aber „[...] die moderne experimentierfreudige Dramaturgie [Brechts] ab.“3 Auch späteren Aussagen Ulbrichts kann man entnehmen, dass er von der Kunst Brechts nichts hielt.

Die Arbeit des Berliner Ensembles beginnt am 15. September 1949 mit den Proben zu Herr Puntila und sein Knecht Matti. Die Inszenierung wird, ebenso wie Der kaukasische Kreidekreis, ein sensationeller Erfolg. Brecht verschafft sich dadurch Beachtung und Ansehen und kann zumindest ohne grössere Einmischung des Staates seine Ideen realisieren.

Die letzten Jahre seines Lebens widmet Brecht ausschließlich der praktischen Theaterarbeit. Lediglich das Drama Turandot oder der Kongreß der Weißwäscher schreibt er in dieser Zeit noch. Ansonsten verfasst er in der DDR kein grösseres Stück mehr. Manch Kritiker behauptet gar, Brecht sei mit der Übersiedlung in den Osten aus der Opposition ausgetreten. Dazu läßt sich sagen, dass Bertolt Brecht sich in diesen Jahren sehr wohl noch kritisch äußert. Beispielsweise beteiligt er sich an politischen Auseinandersetzungen zwischen Ost und West. Während er zu der Politik Westdeutschlands öffentlich Stellung nimmt, äußert er sich zu den Mißständen in der DDR jedoch kaum. Dies mag daran liegen, dass er zum einen versuchte, seine Abeit nicht zu gefährden, und zum anderen, dass er es vermeiden wollte, die eigene Seite vor dem „verfeindeten“ Westen schlecht zu machen. Daher ist es auch schwierig Brechts eigentliche Haltung zum DDR-Regime ausmachen zu können. Diese kann zumindest als zwiespältig beurteilt werden.

Brechts Konfrontation mit dem Westen resultiert hauptsächlich aus der Politik Konrad Adenauers. 1955 hält Brecht eine Rede gegen die Pariser Verträge. Diese schrieben die Aufhebung des Besatzungsstatus, die Verleihung der Souveränität und den Beitritt der BRD zur NATO fest. Zwar sind die Verträge auch in Westdeutschland umstritten, doch kann sich die Bundesregierung unter Adenauer durchsetzen.

Die ablehnende Haltung Brechts der Regierung Westdeutschlands gegenüber ist allerdings auch an der bloßen Tatsache festzumachen, dass die BRD Kriegsverbrecher amnestierte und mit Globke ein führender Nazi in die Regierung aufgenommen wurde. Bertolt Brecht war nunmal Antifaschist und sah den Sozialismus als Garanten gegen den Faschismus. In jener Zeit schreibt er sogar ein Spottlied über Adenauer und Kurt Schumacher (in den Fünfziger Vorsitzender der SPD).

So feindselig manche Äußerung auch dem Westen gegenüber aussehen mag, Brecht spricht sich dennoch für die nationale Einheit aus und fordert in einer Erklärung der Akademie der Künste eine Sprache „gesamtdeutschen Gepräges“4 in den Medien. Mit einer Reihe solcher und ähnlicher Schriften versucht Brecht immer wieder seinen Beitrag zum Geschehen in der DDR zu leisten.

Als sich im Bereich der Kulturpolitik zwischen 1951 und 1953 eine zunehmende Unzufriedenheit abzeichnet, da die getroffenen Festlegungen der Regierung sich zerstörend auf die Entwicklung einzelner Künstler auswirken, verteidigt Brecht die Werke seiner Kollegen und wehrt sich beispielsweise gegen die Anschuldigungen des Formalismus. In einem Vorschlag, den er mit Hanns Eisler an die II. Parteikonferenz der SED schickt, vertritt er die Meinung, dass Kunst und Politik getrennt maschieren, aber einander folgen müssen.5 Die Zustände dieser Zeit machen auch die Eingriffe der DDR-Behörden in die Opernfassung des Stücks Das Verhör des Lukullus deutlich. Auch die Veröffentlichung der Kriegsfibel soll verboten werden. Brecht droht sogar daraufhin sich an den Weltfriedensrat zu wenden. Ohne politische und künstlerische Freiheit war ein Sozialismus, wie ihn Brecht sich vorstellte, wohl nicht möglich.

Seine zwiespältige Haltung der DDR-Regierung gegenüber wird auch an den Ereignissen des 17. Juni deutlich.

3. Die Ereignisse des 17. Juni 1953

Die Ursachen des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 in der DDR gehen auf die II. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 zurück. Dort verkündet Walter Ulbricht den planmässigen Aufbau des Sozialismus. Die Folgen der dort beschlossenen Maßnahmen sind eine schwere Ernährungskrise und ein Rückgang der industriellen Produktion. Viele Bewohner der DDR reagieren darauf mit Protest oder Republikflucht. Im Mai 1953 erläßt die SED-Führung deshalb ein Gesetz zur Erhöhung der Arbeitsnormen um 10,3 Prozent, die mehr Arbeit für den gleichen Lohn bedeutet. Die Proteste der Arbeiter erweitern sich auch mit politischen Forderungen nach freien Wahlen und Redefreiheit. Der RIAS meldet an diesem Tag:

Eine Delegation der Bauarbeiter, von denen die Aktion ausgegangen war, hat dem RIAS heute eine Resolution mit der Bitte um Veröffentlichung überreicht. Darin heißt es: die Arbeiter haben durch ihren Streik und ihre Demonstration bewiesen, daß sie in der Lage sind, den Staat zur Bewilligung ihrer berechtigten Forderungen zu veranlassen. Die Arbeiter werden von der Möglichkeit jederzeit wieder Gebrauch machen, wenn die Organe des Staates und der SED nicht unverzüglich folgende Maßnahmen einleiten: Erstens: Auszahlung der Löhne nach den alten Normen schon bei der nächsten Lohnzahlung; zweitens: sofortige Senkung der Lebenshaltungskosten; drittens: freie und geheime Wahlen; viertens: keine Maßregelung der Streikenden und ihrer Sprecher.6

Das sowjetische Militär und die Volkspolizei schlagen die Erhebung der Arbeiter blutig nieder. Die SED-Regierung bezeichnet den Aufstand als faschistischen Putschversuch und will so ihr Vorgehen rechtfertigen.

Bertolt Brecht stellt sich einerseits auf die Seite der protestierenden Arbeiter, andererseits fühlt er sich auch der SED verbunden als sie seiner Meinung nach von „faschistischem und kriegstreiberischem Gesindel angegriffen wurde“,7 das sich unter die Arbeiter mischte. Wegen seiner Haltung wird Brecht im Westen lange Zeit kritisiert bzw. sogar boykottiert. Auslöser dessen ist besonders ein Telegramm Brechts an Ulbricht, von welchem allerdings nur der letzte Teil abgedruckt wird. In diesem ist zu lesen: „Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen in diesem Augenblick meine Verbundenheit mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands auszudrücken.“8 Brecht soll darüber verärgert sein, doch legt er nie öffentlich Protest ein. Vielleicht sieht er seine Existenz als Künstler gefährdet und ist besorgt, die Regierung könne sein Theater schliessen oder anderweitig gegen ihn vorgehen. Dennoch resigniert Brecht keinesfalls in Anbetracht dieser „Niederlage“. Er drängt zu einer „grossen Aussprache“ zwischen Arbeiterschaft und Partei und hofft „[...] der Regierung beim Ausmerzen der Fehler zu helfen, welche die Unzufriedenheit hervorgerufen haben und unsere unzweifelhaft großen sozialen Errungenschaften gefährden.“9

Brechts eigentliche Meinung zum 17. Juni kann man auch aus einzelnen Gedichten seines Nachlasses erahnen. Die Buckower Elegien schreibt er im Sommer 1953, ausgelöst durch den Volksaufstand, nieder.

4. Brechts späte Lyrik

4.1. Buckower Elegien

Die Buckower Elegien sind der zweite (nach Neue Kinderlieder) in der DDR entstandene Gedichtzyklus. Brecht schreibt sie in seinem Haus in Buckow nach den Ereignissen des 17. Juni nieder. Als abgeschlossene Sammlung werden sie erst 1964 publiziert. Im Entstehungsjahr werden lediglich sechs Gedichte daraus in der Akademiezeitschrift „Sinn und Form“ veröffentlicht.

Die Buckower Elegien gelten, obwohl Brecht nur 58 Jahre alt wurde, als sogenannte Alterslyrik, dh. „weise, distanziert, lakonisch und im klassichen Sinn ‘naiv’, innerhalb der deutschen Literatur vergleichbar nur mit Goethes ‘Westöstlichem Divan’.“10 Die späte Lyrik Brechts ist durch eine „nüchterne Einschätzung der Lage“ gekennzeichnet, während er in der Aufbauphase der DDR Gedichte verfasst, „die ihm im Westen den Ruf des ‘ideologiekonformen Lobredners eines politischen Zwangssystems’ [...] eintrugen.“11 In dem Gedicht Die Erziehung der Hirse (1950) beispielsweise spricht er von Stalin als „des Sowjetvolks großer Ernteleiter“.12

Der in den Buckower Elegien vorherrschende Grundton ist hauptsächlich nachdenklich und kritisch. Der Titel spielt auf Goethes Römische Elegien und auf Rilkes Duniser Elegien an und stellt einen Bezug zum Ort Buckow in der märkischen Landschaft her. Im Ortsnamen klingt das Wort „bukolisch“, also „idyllisch“ oder „schäferhaft“ durch. Nach inhaltlicher Bestimmung ist die Elegie „[...] ein Gedicht im Tone verhaltener Klage und wehmütiger Resignation.“13 Inwieweit dies auf Brechts Gedichtzyklus zutrifft, wird noch herauszustellen sein.

Die Buckower Elegien werden durch einen Vierzeiler, das Motto des Zykluses, eingeleitet.

Ginge da ein Wind

Könnte ich ein Segel stellen.

Wäre da kein Segel

Machte ich eines aus Stecken und Plane.14

Das Gedicht ist durch seine zwei Aussagen, die im Konjunktiv verfasst sind, eigentlich widersprüchlich. Die grammatische Form verdeutlicht, dass das Stellen des Segels in der aktuellen Situation nicht möglich ist. Es herrscht sozusagen Windstille. Der Wind ist Symbol für Antriebskraft und Energie, kann aber auch im Sinne von „der Wind bläst einem ins Gesicht“ negativ gedeutet werden. Hier ist aber weder davon, noch von der positiven Kraft des Windes, dem Anschub, zu lesen. Daher bekommt man den Eindruck, dass der Verfasser des Gedichtes sich im Stillstand befindet. Auf die Gesellschaft übertragen hiesse das zugleich, dass es keine Mobilität und folglich keine Veränderung gibt. Das scheint im Hinblick auf Brecht schwer vorstellbar zu sein, zumal er ja immer für eine Veränderung der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Situation plädierte. In seiner Schrift Kann die heutige Welt durch Theater wiedergegeben werden? sagt Brecht:

Es wird Sie nicht wundern, von mir zu hören, daß die Frage der Beschreibbarkeit der Welt eine gesellschaftliche Frage ist. Ich habe dies viele Jahre lang aufrechterhalten und lebe jetzt in einem Staat, wo eine ungeheuere Anstrengung gemacht wird, die Gesellschaft zu verändern. [...] Und Sie werden mir vielleicht darin zustimmen, daß die heutige Welt eine Änderung braucht.15

Die Veränderung ist folglich die Grundvorrausetzung für ein Zusammenleben in der Gesellschaft, wie Brecht sie sich vorstellt. So scheint es in den ersten beiden Versen fast, als gebe Brecht alle Hoffnung auf Veränderung auf. Dieser Teil des Mottos drückt so etwas wie Resignation aus, was sich ja mit der inhaltlichen Bestimmung einer Elegie vereinbaren ließe. Die folgenden Verse erscheinen im Vergleich dazu wie ein Widerspruch. Der Sprecher sagt, er machte ein Segel aus Stecken und Plane wenn keines vorhanden wäre. Dies ist paradox, da hier wiederum ein Fortbewegen (durch das Segel ist erst der Antrieb durch den Wind möglich), also eine Veränderung, in Aussicht gestellt ist. Man könnte dies so deuten, dass das lyrische Ich bereit ist die Veränderung aufzunehmen und an ihr mitzuwirken (er scheint auf diese zu warten bzw. zu hoffen), sobald die Gelegenheit sich dazu bietet. So drückt das Gedicht also keineswegs Resignation aus, sondern Bereitschaft und Ungeduld. Denn das Wort „stellen“ ist auch doppeldeutig: Es „[...] spielt möglicherweise mit der doppelten Bedeutung von ‘zur Verfügung stellen’ und ‘nach dem Wind stellen’ zur Beschleunigung der Fahrt.“16 Gleichzeitig ist auch durch die Aussicht auf Veränderung die Chance auf Verbesserung gegeben. Übertragen auf die Situation Brechts, aus der heraus er die Elegien verfasste, bedeutet dies wohl die Ereignisse des 17. Juni keineswegs als „Rückschlag“ zu betrachten, sondern als Möglichkeit, aus begangenen Fehlern zu lernen und eine Besserung anzustreben. Andererseits ist es wohl falsch, den Vierzeiler zu optimistisch zu sehen. Immerhin scheint die Lage, in der sich der lyrische Sprecher befindet, ziemlich aussichtslos zu sein. Zwar wartet er auf einen Umschwung, doch ob dieser wirklich stattfindet ist hier nicht gegeben. Wenn dies im Motto der Fall ist, so sind die Gedichte der Buckower Elegien gesellschaftskritisch zu lesen.

Die im Gedicht angestrebte Veränderung ist in fast allen Gedichten der Elegien das zentrale Thema.

4.1.1. Die Lösung

Das Gedicht ist das einzige der Buckower Elegien, das direkt auf den Aufstand des 17. Juni 1953 anspielt.

Nach dem Aufstand des 17. Juni

Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbandes

In der Stalinallee Flugblätter verteilen

Auf denen zu lesen war, daß das Volk

Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe

Und es nur durch verdoppelte Arbeit

Zurückerobern könne. Wäre es da

Nicht doch einfacher, die Regierung

Löste das Volk auf und

Wählte ein anderes?17

Der Sarkasmus des Gedichtes läßt Bertolt Brechts aufsässige Haltung gegenüber dem DDR-Regime erahnen. Die Schlussfolgerung, die Regierung möge das Volk auflösen und sich ein neues wählen, geht auf den ersten Entwurf des Stückes Turandot oder Der Kongreß der Weißwäscherei zurück. In diesem sagt die Figur Gogher Gogh: „Was heißt das: Das Volk kann sich sein Regime wählen? Kann sich etwa das Regime sein Volk wählen? Es kann nicht.“18 Zugleich besteht aber auch ein Zusammenhang zu einem realen Ereignis: Nach dem Juni-Aufstand meinte Kurth Barthel, Sekretär des Schriftstellerverbandes der DDR, die aufsässigen Arbeiter kritisieren zu müssen: „Für euch und den Frieden der Welt wachen die Sowjetarmee und die Kameraden der deutschen Volkspolizei. / Schämt ihr euch auch so, wie ich mich schäme? / Da werdet ihr sehr viel und sehr gut mauern und künftig sehr klug handeln müssen, ehe euch diese Schmach vergessen wird.“19 Brecht attackiert mit dem Gedicht diese Haltung gegenüber der eigenen Regierung, aber auch die Regierung selbst, die nach dem 17. Juni die Arbeiter, die „in berechtigter Unzufriedenheit demonstriert haben“20, zu Unrecht angriff und die Schuld im Westen suchte. Brechts Forderungen nach einer „grossen Aussprache“ nahm sie nicht wahr wie er sich erhoffte. Er bezeichnet dies in einem Brief an Käthe Rülicke (daher ebenfalls der Bezug zum Stück Turandot) als „Weißwäscherei“.21 Die Regierung versuchte sich gewissermaßen von ihrer Schuld reinzuwaschen.

Brecht wählte wohl auch bewußt die Stalinallee als Ort, um auf das Thema Stalinismus zu verweisen:

Daß Brecht die Flugblattverteilung ausgerechnet in die Stalinallee legt, bringt auf einfache, aber genaue Weise das Thema »Stalinismus« ins Gedicht. Der Name der Straße, von der der Aufstand ausging, verweist auf den überständigen Stalinismus in der DDR, gegen den sich (auch) die berechtigten Forderungen der aufständigen Arbeiter gerichtet haben. Nicht »verdoppelte Arbeit« wollten sie leisten, sondern »angemessene«: für sich und auch für den neuen Staat.22

4.1.2. Der Radwechsel

Ich sitze am Straßenrand

Der Fahrer wechselt ein Rad.

Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.

Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.

Warum sehe ich den Radwechsel

Mit Ungeduld?23

Wie im Motto der Elegien kommt hier der Gegensatz von Stillstand und Bewegung zum Ausdruck. Das lyrische Ich verharrt gezwungener Maßen an einem Ort, da der Fahrer seines Wagens einen Radwechsel vornimmt. In dieser passiven Haltung reflektiert der Sprecher seine Situation: Sowohl an seine Vergangenheit, als auch an seine Zukunft denkt er ungern. Dennoch ist er voller Ungeduld. Diese Erwartungshaltung, die einem auch im Motto begegnet, ist daher paradox.

Wie im Motto sind es hier äußere Umstände, die den Sprecher zum Stillstand zwingen. Das eine Gedicht läßt den Wind vermissen; hier ist es das Rad, das zur Fahrt fehlt. Auch das Rad bedeutet wie der Wind Antrieb. Weder ohne das eine, noch ohne das andere ist ein Weiterkommen möglich, doch ist dieses Voranschreiten in beiden Fällen in Aussicht gestellt. Während aber im Motto das Ich bereit ist, ein Segel zu machen, ist es im Radwechsel völlig tatenlos. Es sitzt am Straßenrand und sieht den Radwechsel mit Ungeduld. Diese Verben grenzen sich von denen des Mottos ab, in dem der Sprecher ein Segel stellen bzw. eines machen will. Trotz der beteuerten Ungeduld bekommt man so doch den Eindruck, als sei das Ich zurückhaltender was das Vorankommen angeht. Die Aussage, es sei nicht gerne wo es herkommt bzw. hingeht, unterstützt diese Vermutung. Nun stellt sich die Frage, von wo denn das lyrische Ich überhaupt kommt, und wo es hin möchte. Auf die Situation Brechts übertragen könnte man die Strasse als seinen Lebensweg interpretieren. Der Ursprungsort kann somit nur das Exil (bzw. nicht örtlich begrenzt der Faschismus) sein. Folglich muss es sich beim Zeil um den Sozialismus handeln. Diesen „steuerte“ Brecht ja nach seiner Rückkehr aus Amerika auch in Ost-Deutschland an. Es ist daher erstaunlich, wenn er sagt er fahre ungern dort hin. Schliesslich war dort (d.h. in der DDR) doch „die neue Welt, an deren Aufbau er mitarbeiten wollte [...].“24 So läßt sich aus diesem Unwohlsein des Sprechers eine Kritik am Sozialismus in der DDR heraushören. Auch die Hoffnung auf Besserung der Situation scheint (zunächst) nicht gegeben. Die Tatsache allerdings, dass er ungeduldig ist, erscheint dennoch als ob er den Wandel zum Sozialismus hin als positiv bewertet. Interpretiert man das Fahren, die Bewegung, als Fortlaufen der geschichtlichen Ereignisse, so löst sich die widersprüchliche Situation auf: Zwar sieht er skeptisch in die Zukunft, doch das Voranschreiten an sich stimmt ihn trotz allem positiv ein. Es ist also die Bewegung selbst, die den Widerspruch auflöst. Wenn man den 17. Juni als Auslöser für die Entstehung der Gedichte der Buckower Elegien nimmt, dann ist die Ratlosigkeit, die besonders in den letzten Versen hervorscheint, durchaus nachvollziehbar. Der Sprecher sieht nach dem Aufstand mit Unbehagen in die Zukunft. Allein deshalb ist ein Verharren in der akuten Situation schon nicht wünschenswert; denn wenn Vergangenheit und Gegenwart schon schlecht aussehen, dann kann das, was noch kommt, eigentlich nur besser werden. Auch im Hinblick darauf erklärt sich die Ungeduld des lyrischen Ich. Ob das, was die Zukunft noch bringt, mehr Glück bedeutet, läßt sich aus der Situation des Sprechers heraus nicht sagen. Da der Stillstand gar keine Hinwendung zum Besseren, zur Änderung (vgl. Seite 7) bringen kann, muss es das Vorwärtsschreiten sein, das die Veränderung in Aussicht stellt. Die Fahrt selbst ist also die einzige Lösung. Daher die Ungeduld des lyrischen Sprechers: Bewegung ermöglicht Veränderung.

Veränderung überhaupt scheint ein zentrales Thema bei Brecht zu sein. Sie ist Voraussetzung für einen Neuanfang „nach einem schrecklichen Krieg“25:

Wenn sich durch besondere Umstände in einem Teil eines Landes eine neue Gesellschaftsordnung bildet, während der andere in der alten verharrt, muß eine scharfe Feindschaft dieser beiden Teile des Landes erwartet werden. Beide werden sich bedroht fühlen, und sie werden einander barbarisch nennen. Im Osten Deutschlands hat sich nach einem schrecklichen Krieg ein Arbeiter-und-Bauern-Staat gebildet, der Politik und Wirtschaft nach völlig neuen Grundsätzen behandelt. [...] Der Westen Deutschlands ist unter der Herrschaft der großen bürgerlichen Eigentümer und damit der bürgerlichen Ideen geblieben.26

4.1.3. Heisser Tag

Wie in den vorigen Gedichten ist es hier eine widersprüchliche Situation, die im Leser Verwunderung hervorruft:

Heißer Tag. Auf den Knien die Schreibmappe

Sitze ich im Pavillon. Ein grüner Kahn

Kommt durch die Weide in Sicht. Im Heck

Eine dicke Nonne, dick gekleidet. Vor ihr

Ein ältlicher Mensch im Schwimmanzug,

wahrscheinlich ein Priester.

An der Ruderbank, aus vollen Kräften rudernd

Ein Kind. Wie in alten Zeiten! Denke ich

Wie in alten Zeiten!27

Der beschriebene Vorgang wirkt eigentlich sehr lustig weil eine verkehrte Welt dargestellt wird: Eine Nonne ist an einem heissen Sommertage dick gekleidet; ein Priester trägt einen Schwimmanzug. Das ganze ruft zugleich Erstaunen hervor, denn da ist noch ein Kind, das den Kahn „aus vollen Kräften rudernd“ steuert während die Erwachsenen nichts tun. Das gesamte Bild ist also paradox: Die Bekleidung von Nonne und Priester sind unzeitgemäß (die Bekleidung der beiden widerspricht Jahreszeit bzw. Geschlechterrolle) und das Kind verrichtet Arbeit für zwei. Die Unnatürlichkeit dieser Situation wird in der Umkehr der Erwartungen offenbart. Dies ist auch der Fall beim chronologischen Ablauf der Ereignisse: Der Beobachter entdeckt zuerst das Heck des Bootes mit der Nonne, dann den Mann im Schwimmanzug, und schliesslich das rudernde Kind im Vordergrund. Der Kahn kommt also gegenläufig der Erwartung in Sicht, nämlich so, dass man den Eindruck erhält, es werde in die verkehrte Richtung gerudert.28 Der Ausruf des lyrischen Ich („Wie in alten Zeiten!“), der unter „normalen“ Umständen wohl eher positiv gemeint ist, kann hier also als Kritik an den verdrehten Zuständen aufgefasst werden. Es ist ein Appell die alte Zeit, die hier noch latent ist, hinter sich zu lassen und sich der neuen Zeit zuzuwenden.

Von welcher alten Zeit ist hier aber die Rede? In Anbetracht der Tatsache, dass sich das Kind für die „Großen“ abrackert, könnte man es als Arbeiter, als jemanden aus dem Proletariat sehen, und Priester und Nonne als Menschen der Oberschicht. Eine Zeit vor dem Sozialismus also, in der die arbeitende Bevölkerung noch ausgenutzt wurde. Brecht wählte wohl bewußt den Klerus als Nutznießer der beschriebenen Situation, da dieser in der DDR nämlich so gut wie keine Bedeutung hatte. Gerade diese Tatsache aber bringt den Leser anhand des einfachen Vorganges zu fast schockierenden Erkenntnissen: Es wird ihm bewußt, dass das, was da vor sich geht, eigentlich nicht sein dürfte bzw. kann. Da das Gedicht aus der neuen Zeit heraus erzählt wird, aber auf Umstände verweist, die der Vergangenheit angehören (sollten), wird ersichtlich, dass es hier keine Wandlung zum Besseren in dieser Hinsicht gegeben hat. D.h., die alten Zustände in der Gesellschaft sind noch immer vorhanden. Eine Verbesserung, die auch in den vorigen Gedichten angestrebt wird, hat (noch) nicht stattgefunden bzw. läßt noch auf sich warten. Die Verhältnisse der alten Zeit werden in die neue übertragen. Der eben herausgestellte Eindruck, es werde in die rückläufige Richtung gerudert, erscheint einem sogar so, als solle der Ablauf der Zeit zurückgedreht werden.

In diesem Sinne mahnt Brecht als aufmerksamer Beobachter der gesellschaftlichen Zustände, die alten Formen der Gesellschaft genauer unter die Lupe zu nehmen um diese dann zu beseitigen. Erst dann können die Aufgaben der neuen Zeit in Angriff genommen werden.

Ein weiteres Gedicht, Rudern, Gespräche, deutet bereits diese neue Zeit voraus. Es ist gewissermaßen das Pendant zu Heisser Tag, denn der Vorgang des Ruderns ist auch hier das zentrale Thema.

Es ist Abend. Vorbei gleiten

Zwei Faltboote, darinnen

Zwei nackte Männer: Nebeneinander rudernd

Sprechen sie. Sprechend

Rudern sie nebeneinander.29

Während aber in Heisser Tag das Rudern wie Sklavenarbeit aussieht, ist es in Rudern, Gespräche das, was es normalerweise ist, nämlich eine Freizeitbeschäftigung. Das ist daran zu erkennen, dass Abend ist. Eine Zeit also, an der die Arbeit schon getan ist. Dass es sich um zwei junge Männer handelt, legt die Vermutung nahe, dass sie das Rudern als Sportart betreiben. Die Arbeit wird also durch eine sinnvolle Betätigung fortgesetzt. Das Rudern geschieht so, dass die Männer, während die Boote aneinander vorübergleiten, miteinander kommunizieren können. Folglich kann nicht viel Anstrengung damit verbunden sein. Insofern ist mit Rudern, Gespräche die Veränderung, zu der Brecht in Heisser Tag aufruft, eingetreten.

4.1.3. Der Einarmige im Gehölz

Genau wie in Heisser Tag ist es hier das Fortleben der alten Zeit in der Gegenwart, die im Beobachter Besorgnis hervorruft.

Schweißtriefend bückt er sich

Nach dem dürren Reisig. Die Stechmücken

Verjagt er durch Kopfschütteln. Zwischen den Knieen

Bündelt er mühsam das Brennholz. Ächzend

Richtet er sich auf, streckt die Hand hoch, zu spüren

Ob es regnet. Die Hand hoch

Der gefürchtete SS-Mann.30

Das Gedicht beschreibt die Überstände der Nazi-Zeit in einer Gesellschaft, die nicht mehr nationalsozialistisch ist. Die berichtete Situation erscheint zunächst keineswegs ungewöhnlich: Ein offenbar Kriegsversehrter sammelt im Wald Holz für den Winter. Das Sammeln von Brennholz stand in der Nachkriegszeit an der Tagesordnung, da noch keine Öl-Heizungen verwendet wurden. Auch an einem Einarmigen scheint zu dieser Zeit nichts Auffälliges zu sein. Man hat wegen der Strapazen, die er auf sich nehmen muss, sogar fast Mitleid mit ihm. So ist es einzig und allein der letzte Vers des Gedichtes, der Erschrecken erzeugt. Der Einarmige wird durch sein Hand-Hoch-Strecken (Hitlergruß) als SS-Mann enttarnt.

Auf diesem Hintergrund erschließen sich einem bei einem zweiten Lesen des Gedichtes die Wörter „Reisig“ und „Brennholz“ wie Metaphern. Immerhin galten die Nazis seit dem Reichstagsbrand, und natürlich auch seit der Pogromnacht, als Brandstifter. Sammelt der SS-Mann im Gedicht also Reisig, um wieder anzünden zu können? Man mag meinen, dass von einem Versehrten keine Gefahr ausgehen kann, zumal dieser, wie wohl alle Menschen, die den Krieg überlebten, Anfang der Fünfziger besseres zu tun hatten als wieder Brände zu legen. Brecht aber verband die Brandstiftung auch mit dem Aufstand des 17. Juni:

Gegen Mittag, als auch in der DDR, in Leipzig, Halle, Dresden, sich Demonstrationen in Unruhen verwandelt hatten, begann das Feuer seine alte Rolle wieder aufzunehmen. Von den Linden aus konnte man die Rauchwolke des Columbushauses, an der Sektorengrenze des Potsdamer Platzes liegend, sehen, wie an einem vergangenen Unglückstag einmal die Rauchwolke des Reichstagsgebäudes. Heute wie damals hatten nicht Arbeiter das Feuer gelegt: es ist nicht die Waffe derer, die bauen. Dann wurden - hier wie in anderen Städten - Buchhandlungen gestürmt und Bücher herausgeworfen und verbrannt, und die Marx - und Engels-Bände, die in Flammen aufgingen, waren so wenig arbeiterfeindlich wie die roten Fahnen, die öffentlich zerrissen wurden.31

Wenn Brecht hier von der „alten Rolle“ des Feuers spricht, dann wird man zwangsläufig an die Bücherverbrennungen der Nazis erinnert. Die Furcht vor dem SS-Mann ist also keine bloße Wahnvorstellung, sondern ein reales Problem mit dem Brecht sich zu dieser Zeit auseinandersetzt. So scheint Der Einarmige im Gehölz zu genauer Beobachtung zu mahnen. Der Mann ist unauffällig (versteckt er sich im Gehölz?), doch als SS-Mann eine der „[...] Gestalten der Nazizeit, [...], die man seit Jahren nicht mehr in Haufen hatte auftreten sehen und die doch immer dagewesen waren.“32 Es ist die Hartnäckigkeit und Ausdauer, mit der der Einarmige zu Werke geht, die die Besorgnis des Beobachters erregt. Der Schlächter von damals ist folglich noch immer im Besitz seiner Kräfte. Brechts Verbundenheit mit der SED (siehe Brief vom 17. Juni 1953 an Walter Ulbricht) nach dem Aufstand scheint insofern als ein Ausdruck des Widerstandes gegen die faschistischen Elemente zu verstehen zu sein.

4.1.5. Vor acht Jahren

Da war eine Zeit

Da war alles hier anders.

Die Metzgerfrau weiß es.

Der Postbote hat einen zu aufrechten Gang.

Und was war der Elektriker?33

Der Titel des Gedichtes weist konkret auf die Zeit des Nationalsozialismus bzw. auf das Ende des Dritten Reiches hin, als (angeblich) alles anders wurde.

Metzgerfrau, Postbote und Elektriker stehen hierbei repräsentativ für die gesamte Bevölkerung. Sie sind anders als in Der Einarmige im Gehölz nicht als (ehemalige) SS-Leute kenntlich gemacht sondern gehen einer „vernünftigen“ Arbeit nach. Die Berufe aber scheinen dennoch auf eine dunkle Vergangenheit zu schliessen: Der Beruf des Metzgers spielt auf den Faschismus an und ist ein häufig von Brecht verwendetes Motiv. Bereits im Kälbermarsch aus Schweyk im zweiten Weltkrieg spielt er mit dem Bild des Metzgers als Schlächter und Mörder: „Der Metzger ruft. Die Augen fest geschlossen / Das Kalb marschiert mit ruhig festem Tritt. Die Kälber, deren Blut im Schlachthof geflossen / Sie ziehn im Geist in seinen Reihen mit.“34 Die Kälber stehen hier für die jungen deutschen Soldaten, die vom Schlächter Hitler (im Gedicht der Metzger) auf die Schlachtfelder des Zweiten Weltkrieges geführt werden. Der Beruf der Frau hat in Vor acht Jahren also eine durchaus negative Konnotation. Sie wird so als ehemalige Nazi-Sympathisantin entlarvt. Auch der Postbote ist auffällig, denn sein Gang ist zu aufrecht. Dies bedeutet, dass er vor acht Jahren gebückter ging. Er war also unterwürfig und folglich wohl ein Mitläufer. Was der Elektriker war, wird aber nicht beantwortet. Seine „Tarnung“ ist wohl so gelungen, dass er sich nicht von den „anständigen“ Bürgern unterscheidet.

Auch hier ist die Furcht vor den alten Kräften präsent, die uns schon in den anderen Gedichten begegneten. Während der Mann in Der Einarmige im Gehölz aber eindeutig als Nazi enttarnt wird, bedarf es hier genauerer Beobachtung: Die Menschen haben sich (nur) äußerlich gewandelt. Folglich ist es im Grunde gar nicht anders als vor acht Jahren. Ob die Leute sich wirklich verändert haben, also auch von ihrer Ideologie her, bezweifelt Brecht. Zwar „denunziert“ er sie nicht explizit als Nazi-Gestalten, doch zeigt er zumindest Mißtrauen ihnen gegenüber. Brechts persönliche Erfahrungen seit dem 17. Juni scheinen dieses Mißtrauen zu legitimieren.

4.1.6. Die Kelle

Im Traum stand ich auf einem Bau. Ich war

Ein Maurer. In der Hand

Hielt ich eine Kelle. Aber als ich mich bückte

Nach dem Mörtel, fiel ein Schuß

Der riß mir von meiner Kelle

Das halbe Eisen.35

Das lyrische Ich ist durch den Beruf des Maurers als Arbeiter gekennzeichnet. Dadurch, dass es mit Mörtel arbeitet, kann man annehmen, dass es gerade am Bau eines Hauses mitarbeitet. Ein plötzlicher Schuss, der das Arbeitsmittel (die Kelle) beschädigt, macht die Arbeit aber schließlich unmöglich. Da es sich um einen Traum handelt ist eine gewisse Distanz zur Wirklichkeit gewahrt. Der Sprecher ist nicht selbst betroffen sondern denkt sich in den Arbeiter hinein: Er war ein Maurer. Dadurch findet aber gleichzeitig auch eine Identifikation statt. Man könnte sich vorstellen, dass der Dichter Brecht hier die Rolle des Arbeitenden annimmt und aus dessen Sicht den 17. Juni schildert: So steht der Bau des Hauses für den Aufbau des Sozialismus in der DDR. Der Schuss in die Kelle rührt folglich vom Aufstand her, d.h. die Aufbauarbeit wird durch die Revolte behindert. Ob von den sowjetischen Panzern oder den Putschisten der Schuss herrührt, wird nicht ersichtlich. So scheint der Schuss wohl die kriegerischen Zustände des 17. Juni zu versinnbildlichen, ohne die eine oder die andere Seite direkt anzusprechen.

Ob der Maurer im Gedicht für einen Demonstranten steht, ist zweifelhaft. Er scheint von dem Schuss überrascht zu sein, zumal er ihn selbst nicht provoziert. Allein deshalb kann er als „Unschuldiger“ betrachtet werden und darf somit, wie Brecht es formuliert, „nicht mit den Provokateuren auf eine Stufe gestellt werden.“36 Auch darum muss die Vermutung erlaubt sein, dass sich Brecht selbst im Traum als Arbeiter sieht. Er war zwar nicht unter den Demonstranten, kann sich aber in ihre Lage hineindenken. Brecht solidarisiert sich somit mit den friedlichen Arbeitern, die während der Demonstration kein Feuer entfachten (siehe auch Der Einarmige im Gehölz), denn „es ist nicht die Waffe derer, die bauen.“37 Das Wort „bauen“ stellt hier wiederum eine Parallele zwischen dem Aufbau des Sozialismus und dem Bau des Hauses im Gedicht her.

Dass nur das halbe Eisen weggerissen wird, ist auch bezeichnend: Das Arbeitsmittel ist zwar beschädigt, aber nicht vollständig zerstört. Der Aufbau ist also nicht langfristig gestoppt, sondern nur unterbrochen. Voraussetzung für eine Fortführung des Aufbaus ist aber auch „die so dringliche große Aussprache über die allseitig gemachten Fehler [...].“38

4.2. Schlussbetrachtung

Die inhaltliche Bestimmung der Elegie läßt sich mit den Aussagen der angesprochenen Gedichte der Buckower Elegien vereinbaren. So beklagt Brecht die gesellschaftlichen Zustände seiner Zeit, die sich (noch) nicht im Sinne des Sozialismus entfaltet haben. Statt dessen sind in der Gesellschaft die Strukturen der alten, faschistischen Zeit verwurzelt. Eine Veränderung, die die Grundvoraussetzung für einen Neuanfang sozialistischen Gepräges ist, wird in den Gedichten herbeigewünscht. Mit einzelnen Motiven spielt Brecht auf dieses Wegbewegen von den Formen der alten Zeit immer wieder an. Das Verharren in der Gegenwart ist etwas, das überwunden werden muss. So drücken die Gedichte wohl Brechts Enttäuschung über den Sozialismus in der DDR zu jener Zeit aus, der nach der Schreckensherrschaft des Faschismus in Deutschland nicht seine Hoffnungen auf Verbesserung der gesellschaftlichen und politischen Umstände erfüllte. Besonders die Ereignisse des 17. Juni brachten Brecht Enttäuschungen. Ein humaner, sozialistischer Staat schien unter den gegebenen Zuständen in der DDR nicht zu verwirklichen zu sein. Alle Mühen, eine Besserung der gesellschaftlichen Zustände herbeizuführen, wurden in weite Ferne gerückt. Dennoch ist bei Brecht keinesfalls Resignation zu verspüren. Das Hoffen auf Veränderung, das in den Gedichten immer wieder hervorscheint, stellt einen Umschwung implizit in Aussicht. Den 17. Juni sah Brecht also nicht als Rückschlag an, sondern als Aufforderung den Kampf gegen die faschistischen Elemente wieder aufzunehmen. In vielen Gedichten der Buckower Elegien mahnt Brecht diese Elemente genauer ins Auge zu fassen, um sie ausmerzen zu können. So erklärt sich seine Verbundenheit zur SED nach dem Niederschlag des Aufstandes wohl aus seiner Furcht vor dem Faschismus. Bertolt Brecht dazu: „Die Ereignisse des 17. Juni haben bewiesen, daß der Kampf gegen den Faschismus in allen seinen Erscheinungen auch von den Künsten mit gesteigerter Kraft wieder aufgenommen werden muss.“39

6. Bibliographie

Primärliteratur

Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band. - Zehnte Auflage Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1999.

Sekundärliteratur

Hecht, Werner (Hrsg.): Brechts Theaterarbeit. Seine Inszenierung des Kaukasischen Kreidekreises 1954. - Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1990.

Kesting, Marianne: Bertolt Brecht. - Hamburg: Rowohlt 1999.

Knopf, Jan: Bertolt Brecht. Buckower Elegien. - Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1991.

Mittenzwei, Werner: Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welt-rätseln. - Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1987.

Müller, Klaus-Detlef (Hrsg.): Bertolt Brecht. Epoche - Werk - Wirkung. - Müchen: Verlag C.H. Beck.

Payrhuber, Franz-Josef: Literaturwissen für Schule und Studium. Bertolt Brecht. - Stuttgart: Reclam 1998.

Rothmann, Kurt: Kleine Geschichte der deutschen Literatur. - Stuttgart: Reclam 1992.

Schweikle, Günther u. Irmgard (Hrsg.): Metzler-Literatur-Lexikon. Begriffe und Definitionen. - 2., überarb. Auflage Stuttgart: Metzler 1990.

Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 30, Briefe 3, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1998.

Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 23, Schriften 3, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1993.

[...]


1 Payrhuber, Franz-Josef: Literaturwissen für Schule und Studium. Bertolt Brecht. -Stuttgart: Reclam 1998, S. 14.

2 Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 30, Briefe 3,Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1998. S. 177.

3 Rothmann, Kurt: Kleine Geschichte der deutschen Literatur. - Stuttgart: Reclam 1992,S. 293.

4 Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 23, Schriften 3,Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1993. S. 254.

5 Mittenzwei, Werner: Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welt-rätseln. - Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1987, S. 414.

6 Ebd., S. 483.

7 Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 30, Briefe 3,Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1998. S. 182-185.

8 Ebd., S. 178.

9 Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 23, Schriften 3,Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1993. S. 250.

10 Knopf, Jan: Bertolt Brecht. Buckower Elegien. - Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1991, S. 121.

11 Literaturwissen Bertolt Brecht, S. 22.

12 Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band. - Zehnte Auflage Frankfurt am Main:Suhrkamp Verlag 1999, S. 984.

13 Metzler-Literatur-Lexikon: Begriffe und Definitionen. Hrsg. von Günther und IrmgardSchweikle. - 2., überarb. Auflage - Stuttgart: Metzler 1990, S. 118.

14 Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band. - Zehnte Auflage Frankfurt am Main:Suhrkamp Verlag 1999, S. 1009.

15 Hecht, Werner (Hrsg.): Brechts Theaterarbeit. Seine Inszenierung des KaukasischenKreidekreises 1954. - Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1990, S. 11.

16 Müller, Klaus-Detlef (Hrsg.): Bertolt Brecht. Epoche - Werk - Wirkung. - Müchen:Verlag C.H. Beck, S. 325.

17 Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band. - Zehnte Auflage Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1999, S. 1009 f.

18 Knopf, Jan: Bertolt Brecht. Buckower Elegien. - Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1991, S. 48.

19 Mittenzwei, Werner: Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln. - Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1987, S. 533.

20 Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 23, Schriften 3,Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1993. S. 250.

21 Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 30, Briefe 3,Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1998. S. 180.

22 Knopf, S. 51.

23 Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band, S. 1009.

24 Kesting, Marianne: Bertolt Brecht. - Hamburg: Rowohlt 1999, S. 119.

25 Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 23, Schriften 3,Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1993. S. 250.

26 Ebd.

27 Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band, S. 1011.

28 Müller, S. 931.

29 Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band, S. 1013.

30 Ebd.

31 Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 30, Briefe 3,Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1998. S. 184.

32 Ebd., S. 183.

33 Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band, S. 1013.

34 Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band, S. 1219.

35 Ebd., S. 1015.

36 Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 23, Schriften 3,Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1993. S. 250.

37 Ebd., S. 184.

38 Ebd., S. 250.

39 Ebd., S. 255.

Fin de l'extrait de 24 pages

Résumé des informations

Titre
Bertolt Brecht und der Juniaufstand
Université
RWTH Aachen University  (Germanistisches Institut der RWTH Aachen)
Cours
Exilliteratur im 20. Jahrhundert
Note
2,0
Auteur
Année
2001
Pages
24
N° de catalogue
V74428
ISBN (ebook)
9783638714860
Taille d'un fichier
444 KB
Langue
allemand
Mots clés
Bertolt, Brecht, Juniaufstand, Exilliteratur, Jahrhundert
Citation du texte
M.A. Anke Wartenberg (Auteur), 2001, Bertolt Brecht und der Juniaufstand, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/74428

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