Hospiz - weil Sterben ein Teil des Lebens ist

Geschichtliche Entwicklung und Möglichkeiten der palliativen Versorgung


Bachelor Thesis, 2006

66 Pages, Grade: 1,2


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Krankheit, Tod und Sterben im Verlauf der Jahrhunderte
2.1 Frühzeit bis Beginn des Christentums
2.1.1 Ägypten
2.1.2 Indien - Buddhismus
2.1.3 China
2.1.4 Griechenland
2.1.5 Vorchristliches Rom
2.2 Krankenpflege von Christi Geburt bis zum Mittelalter
2.2.1Klostermedizin im frühen Mittelalter
2.2.2Klostermedizin im mittleren und ausgehenden Mittelalter
2.3 Tod und Sterben im Mittelalter
2.4 Tod und Sterben im 19. und 20. Jahrhundert
2.5 Wesentliche Entwicklungen der Krankenpflege vom 18. Jahrhundert bis zum 21. Jahrhundert

3.Hospiz – Inseln der Humanität
3.1 Pionierinnen der Hospizarbeit
3.1.1Dame Dr. Cicely Saunders
3.1.2Dr. Elisabeth Kübler- Ross
3.2 Entwicklung der Hospizbewegung in Deutschland
3.3 Umsetzung der Hospizidee

4 Kennzeichen der Hospizarbeit
4.1 Bedeutung der sozialen Dimension
4.2 Struktur der körperlichen Dimension
4.2.1Erschöpfung und Müdigkeit
4.2.2Körperpflege
4.2.3Ernährung und Flüssigkeitsaufnahme
4.2.4Schmerzen
4.3 Bedeutung der psychischen Dimension
4.4 Grundlagen der spirituellen Dimension

5. Qualitätsmerkmale der Hospizarbeit
5.1 Sterbende und ihr soziales Umfeld
5.2 Unterstützende Begleitung
5.3 Ehrenamtliche Helfer
5.4 Teamarbeit
5.5 Kontinuität der Begleitung

6. Unterstützendes Ehrenamt

7. Palliativversorgung Schwerstkranker und Sterbender
7.1 Palliativmedizin
7.2 Palliative Care

8. Organisationsformen der stationären und teilstationären Betreuung
8.1 Palliativstation
8.2 Stationäres Hospiz
8.3 Tageshospiz
8.4 Kinderhospiz

9. Organisationsformen der häuslichen Hospizbetreuung
9.1 Aufbau ambulanter Hospizarbeit
9.2 Ziele der ambulanten Hospizarbeit

10. Zusammenfassung und Schlussgedanken

11. Quellen-/Toolverzeichnis

Quellenverzeichnis Online

Vorwort

Menschen, die sich in der Hospizbewegung engagieren, erklären ihre Bereitschaft zum Mitgefühl. Sie bejahen das Sterben des Anderen und sind bereit, die Zeit bis zum Ende des Lebens mit ihm zu teilen und für unterstützende Maßnahmen zu sorgen. Die Hospizbewegung nimmt die Sorgen, Nöte und Gedanken der kranken Menschen und ihrer Angehörigen ernst.

Hospiz – das bedeutet in erster Linie keine Einrichtung, sondern eine Einstellung, die Sterben und Tod als zum Leben gehörend akzeptiert.Die ernsthaft-existenzielle Auseinandersetzung mit dem Sterben ist deutlich von berührenden und tiefgehenden menschlichen Erfahrungen bestimmt, die das eigene Leben beeinflussen.

Hospizarbeit, seit vielen Jahren fester Bestandteil meines Lebens, lässt mich jeden Tag bewusst erleben, da ich verinnerlicht habe, was leben dürfen in jeder Minute und an jedem Tag bedeutet.

Die vorliegende Arbeit, mit der ich meiner Familie für ihre große Unterstützung und ihr Verständnis für all meine Aktivitäten danke, soll den Wandel in der Einstellung der Menschen zu Sterben und Tod aufzeigen, eine verständliche Einführung in die Hospizarbeit geben und neue Freunde für die Hospizbewegung gewinnen.

Elfershausen, den 30.09.2006 Barbara Mayerhofer

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Kennzeichen der Hospizarbeit

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Aufbau ambulanter Hospizarbeit

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Hospiz – weil Sterben ein Teil des Lebens ist. Dieser Gedanke ist tief greifend und für viele Menschen nur schwer nachvollziehbar. Sterben ist durch dengesellschaftlichen Wandel in den letzten hundert Jahren noch schwerer geworden, als es durch die existenzielle Bedrohung, durch die Vielfalt der Krisen und die Veränderung der Gesellschaft schon war. Hauptursachen sind jedoch nicht nur die Auflösung des Familienverbandes sondern auch die fühlbare psychische und physische Überforderung vieler Angehöriger mit der Pflege eines Sterbenden.

Die geplanten Veränderungen im Gesundheitswesen haben Unruhe und Verunsicherung ausgelöst. Besonders alte und schwerstkranke Menschen fragen sich, wie viel medizinische und pflegerische Leistung sie erwarten können, und welche Wertschätzung ihnen am Ende ihres Lebens noch entgegengebracht wird. Die Begleitung Schwerstkranker und Sterbender ist ein brisantes öffentliches Thema und eine große Herausforderung für die Verantwortlichen der Gesundheits- und Sozialpolitik.

Unzählige Schlagzeilen in allen Medien handeln vom Sterben, Sterbehilfe, Hilfe beim Sterben und einem selbst bestimmten Lebensende. Menschen haben Angst vor diesem Sterben -haben Sorge, mit ihrem Leid, anderen ausgeliefert zu sein. Tod und Sterben gehören zum Leben und werden dennoch aus dem Leben ausgeblendet und verdrängt. Der medizinische Fortschritt und die Entwicklung immer effektiverer diagnostischer und therapeutischer Möglichkeiten fördern den Glauben an die Allmacht der Medizin – selbst in aussichtslosen Fällen. In einer Gesellschaft, die die Attribute jung, gesund, erfolgreich und dynamisch als Ideale propagiert, ist für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Sterben und Tod wenig Platz.

In den letzten zwanzig Jahrenhat die Hospizbewegung mit dazu beigetragen, dass sich ein nun spürbarer Wandel in der Einstellung vieler Menschen zu Sterben und Tod vollzieht. Fachleute und vor allem Laien engagieren sich zunehmend für eine menschenwürdige Sterbe- und Trauerbegleitung.

Die Implementierung von Palliative Care in die stationäre Altenhilfeeinrichtung Theresienstift Bad Kissingen sowie die langjährige Erfahrung in der Hospizarbeit untermauerten die Entscheidung zu dieser Arbeit und veranlassten die Verfasserin, sich eingehend mit der Hospizbewegung auseinanderzusetzen. Ziel ist, Hospizarbeit im geschichtlichen Kontext darzustellen und die heutigen Möglichkeiten der palliativen Versorgung zu veranschaulichen.

In der Arbeit wird ausführlich die Entwicklung und Veränderung der menschlichen Einstellung zu Sterben, Tod und Trauer, aber auch der Wandel der damit zusammenhängenden Krankenpflege, erläutert. Das Wissen um die geschichtliche Entwicklung ist notwendig, um dieEntstehung der Hospizbewegung, das Spektrum der Hospizarbeit und ihre Chancen, nachvollziehen zu können.Es wird bewusst auf eine Diskussion über Möglichkeiten der Sterbehilfe verzichtet, da dieses komplexe Thema, das derzeit nicht nur die Bevölkerung, sondern vor allem politisch Verantwortliche und Ethikkommissionen beschäftigt, den Rahmen der Arbeit sprengen würde.

2. Krankheit, Tod und Sterben im Verlauf der Jahrhunderte

Die Menschen entwickelten seit den frühesten Anfängen über Jahrhunderte hinweg Rituale und veränderten immer wieder ihre Einstellungen gegenüber Kranken, Sterbenden und Toten. Der Begriff „Hospiz“ wird bereits sehr früh genannt und ist seit dem frühen Mittelalter Synonym der Sorge um Pilger, Kranke und Sterbende.

2.1Frühzeit bis Beginn des Christentums

Die Urgeschichte der Menschheit ist in ihren langen epochalen Abschnitten eine Geschichte der zunehmenden Todeserkenntnis. Im Altpaläolithikum war nach Auffassung der Menschen der Tod wederendgültig noch unvermeidlich, was darauf schließen lässt, dass es eine Zeit gab, in der die Menschen den Tod gleichmütig hinnahmen. Barloewen sagt, dass der Tod erst „…entdeckt werden mußte, ehe er als Problem begriffen wurde.“[1],[2] Beweis einer gefühlsmäßigen und intellektuellen Entwicklung ist, dass im Laufe der Jahrtausende nicht nur die Vergänglichkeit der Menschen, sondern vor allem die Unvermeidbarkeit des Todes erkannt wurde.

Grabfunde aus der Zeit von 70.000 – 35.000 v. Chr. belegen, dass sich der Mensch der eigenen Vergänglichkeit bewusst wurde und, nicht mehr wie im Altpaläolothikum, vor dem Toten floh, sondern ihm eine eigene Stätte bereitete. Bis ca. 10.000 v. Chr. vermehrten sich die Todesrituale und Verstorbene wurden in Gräbern begraben, die auf ersten Friedhöfen angelegt wurden. Eingeführte Bestattungsrituale setzten eine Zäsur in der Entwicklungsgeschichte und schufen durch die freigesetzten Kräfte eine neue Auffassung von Leben und Tod, die Gedanken an ein Weiterleben nach dem Tode vermuten lassen.[3]

In der Jungsteinzeit änderten sich die Lebensbedingungen, die Menschen verehrten ihre Ahnen und verstanden den Tod als zufälliges Ereignis in einem unbegrenzten Leben. Der Verstorbene[4] wurde bestattet und erhielt Gegenstände des täglichen Gebrauchs als Grabbeigabe, so dass entsprechend der Art derBestattungen, Vorstellungen von einem Weiterleben im Jenseits vorhanden gewesen sein mussten.[5] Die Kultur eines Landes bestimmte auch die Kultur des Sterbens und des Todes.

2.1.1 Ägypten

In der ägyptischen Hochkultur (3000 v. Chr.), die sich ebenso wie die tibetische Hochkultur mit dem Tod intensiv auseinandersetzte, wurden bereits viele Krankheiten behandelt und erste Aussagen zu anatomischen und physiologischen Zusammenhängen getroffen. Die Priesterkaste befasste sich eingehend mit dem Leben und auch Sterben und überzeugte die Menschen, dass ihre erarbeiteten Rituale das Sterben erleichtern und die Seelenreise ermöglichen würden, denn der Tod wurde als Übergangsphase und Beginn von etwas Neuem angesehen. Eine wichtige Handreichung war das ägyptische Totenbuch, das eine Sammlung von Pyramidentexten darstellt, in der eine Zusammenfassung von Bestattungsanweisungen, Beschwörungen und magischen Zauberformeln, aber auch Rituale der Einbalsamierung und Bestattung beschrieben wurden. Bei Ausgrabungen wurden Totenbücher auf Papyri gefunden und es ist davon auszugehen, dass den Toten diese mit ins Grab gegeben wurden.[6]

Im Zusammenhang mit dem ägyptischen Totenbuch wird meist das tibetische Totenbuch „…von der Befreiung durch Hören auf der Ebene nach dem Tode…“[7] genannt. Es enthält über Jahrhunderte hinweg überlieferte Erzählungen über den schwebenden Zustand zwischen der Zeit des Todes und der Wiedergeburt und leitet Sterbende und Tote an, über die unterschiedlichen Stadien die Befreiung zu erlangen.[8]

Erwähnenswert ist der besondere Umgang mit Verstorbenen. Die Ägypter verbrachten viel Zeit mit der Sorge für die Toten, um diesen einen angenehmen Aufenthalt im Jenseits zu ermöglichen. Der trocken-heiße Sand Ägyptens führte zu einer Austrocknung der Leichen, deren Knochen von der geschrumpften Haut umkleidet und so vor Verwesung geschützt wurden. Die Eingeweide wurden vor einer Einbalsamierung des Körpers entnommen und getrennt bestattet. Die mit Natron, Asphalt und Zedernprodukten erreichte Mumifizierung der leiblichen Hülle entsprach den Vorstellungen der Ägypter, dass der Körper erhalten bleiben musste.[9] Man kann davon ausgehen, dass die ägyptische Religion die Gewissheit eines persönlichen Weiterlebens nach dem Tode an die Menschen vermittelte.

2.1.2 Indien - Buddhismus

Gautama Buddha (560 – 468 v. Chr.), der „Erleuchtete“, warder Initiator einer vertieften religiösen Bewegung und prägte entscheidend die indische Heilkunde. Er stellte ethische Regeln auf, die forderten, dass die Menschen sich ganz dem Kranken zuwenden sollten und dem Patienten niemals schaden dürften. Diese Anordnungen entsprechen der palliativ-medizinischen Haltung unserer Zeit, da Leiden vonPatienten, bei denen die ärztliche Kunst versagt, nur noch durch Pflege gelindert werden sollte.[10]

Hinweise auf Buddhas Umgang mit dem Tod erhält man aus der buddhistischen Erzählung der „vier Zeichen“. Der Sage nach veranlasste die Begegnung mit dem Tod Gautama Buddha, seine irdischen Güter zugunsten der Erlösung aufzugeben.

„Als er eines Morgens sein Schloss verlässt, tritt zunächst ein Alter

auf ihn zu, dann, bei der zweiten Ausfahrt, ein Kranker, dann ein

Toter. (...) Als Gautama schließlich auf einen Bettelmönch stößt,

fasst er den Entschluss, seinen Palast zu verlassen und nach der

letzten Befreiung von Leiden, Alter, Krankheit und Tod zu forschen.“[11]

Buddha verstand nun, dass Angesichts des Todes irdische Güter und Freuden sinnlos seien, und nur der ein sinnerfülltes Leben führen könne, der sich lebenslang mit der Problematik des Todes auseinandersetzen würde.Seine Lehre betonte die Bedeutung des Lebens im Hinblick auf dieWiedergeburt, dennphysische und psychische Kräfte würden nach seiner Auffassung in eine neue Form des Daseins übergeführt, und bislang erworbene Charaktereigenschaften in diese neue Daseinsform übermittelt werden.

Nicht Trost und Ermutigung für den Sterbenden, sondern die schrittweise Wegweisung sind heute noch Grundpfeiler des asiatischen Denkens. Ziel der buddhistischen Heilslehre ist eine Befreiung vom Tod als Inbegriff des Leidens, um Unsterblichkeit zu erzielen. Barloewen ist der Meinung, dass die Unsterblichkeit nicht als die zeitlich-unendliche Existenz einer individuellen Persönlichkeit gelten kann, da es im Buddhismus kein individuelles Ich gibt und es vielmehr Aufgabe der Buddhisten sein muss, die vollkommene Selbsthingabe oder Selbstlosigkeit zu erzielen.

Aus buddhistischer Sicht gehören Geburt und Tod zusammen, daher muss derSchlüsselbegriff der indischen Philosophie, das Karma, erwähnt werden. Nach der Lehre vom Karma hängt das Schicksal des Menschen nach seinem Tod von seinem bisherigen Dasein oder auch früheren Daseinsformen ab. Eine Wiedergeburt ist im Himmel oder auf der Erde als Mensch, Tier oder Pflanze möglich. Man kann daraus folgern, dass der Hinduismus das Karma als Konsequenz des Handelns ansieht, weil er überzeugt ist, dass das neue Leben durch das vorherige Leben bestimmt wird.[12] Der Mensch trägt demnach durch künftige Wiedergeburten soviel Karma ab, bis er von der Plage seiner Geburten und Leiden erlöst wird und in die ewige Seeligkeit eingeht.

Sogyal Rinpoche kritisiert die im Westen übliche Auslegung des Begriffes als „Vorherbestimmung“ und erläutert, dass mit Karma „…sowohl die Kraft, die in unseren Handlungen verborgen liegt als auch die Ergebnisse…“[13] unserer Handlungen bezeichnet werden.

2.1.3 China

Der Buddhismus kam erst 100 n. Chr. nach China. Bemerkenswert ist, dass nach Ansicht der vorkonfuzianischen[14] Religionsausübung, alle Erkrankungen auf die Einwirkungen verstorbener Personen zurückzuführen sind.[15] Konfuzianische Gelehrte betonten,dass ein früher Tod zwar bedauert werden könnte, aber grundsätzlich „…der Tod als notwendiger Bestandteil des kosmischen Prozesses akzeptiert…“[16] werden sollte.

2.1.4 Griechenland

Die alte griechische Medizin ist mit der griechischen Philosophie untrennbar verbunden. Der Einfluss der Lehre der antiken Medizinreicht bis insfrühe 19. Jh. und wurde erst danndurch die Erkenntnisse der Naturwissenschaften an den Universitäten abgelöst. Homer erzähltin seinen Epen Ilias und Odyssee von zahlreichenärztlichen Behandlungen, aber auch von heilkundigen Frauen wie z.B. Agamede oder Kirke. Die Odyssee, durchdrungen von der Faszination des Todes und Zeugnis der Todeserfahrung und Todesbewältigung, geht „…durch die >Nekyia< (>>Totenopfer<<) in die Kulturgeschichte ein…“[17].

Die Götter wurden verehrt und bestimmten das Leben. Apollon stand als Gottheit der Krankheiten und Heilung in besonderer Beziehung zur Heilkunde, wurde aber auch als Überbringer des Todes angesehen.[18] Asklepios, der wichtigste Heilgott, der aus einer Verbindung zwischen Apollon und einer sterblichen Frau stammen soll, hat der Sage nach Tote wiederbelebt, wofür er von Zeus mit einem Blitzschlag getötet wurde.[19]

2.1.5 Vorchristliches Rom

Im vorchristlichen Rom fasste die griechische Medizin schnell Fuß. Hervorzuheben sind die Heilmethoden des Asklepiades, der bereits 90 v. Chr. nach Rom kam und sich mit Diäten, sowie der Verordnung von Wein als Heilmittel allgemeine Anerkennung verschaffte.[20]

Auf großen Landgütern entstanden die sog. Valetudinarien (valetudo, lat.: der Gesundheitszustand, Anm. d. Verf.), die für die Aufnahme erkrankter Sklaven zur Herstellung ihrer Arbeitskraft, bestimmt waren.Chronisch Kranke oder unheilbare Menschen mussten allein und im Elend sterben, da es für sie keine Einrichtungen gab. Im Übrigen diente das Valetudinarium als Vorbild fürMilitärlazarette der späteren Jahre.[21]

2.2 Krankenpflege von Christi Geburt bis zum Mittelalter

Mit Christi Geburt, seinem Leben und Sterben, veränderte sich die Einstellung der Menschen zueinander. Es bildete sich bald nach seinem Tod die erste christliche Gemeinde, deren stärkstes Motiv in einer Identifikation mit Christus über die sieben Werke der Barmherzigkeit bestand.[22] Es ist für Christen daher selbstverständlich gewesen, dass sie ihre Hilfe, auch in Seuchenzeiten, sowohl christlichen als auch nicht-christlichen Mitbürgern anboten. Kranke wurden, von der Öffentlichkeit unbemerkt,hauptsächlich von allein stehenden Frauen in Privathäusern gepflegt, da eine öffentliche Pflege durch Christen bis zum Toleranzedikt von Mailand im Jahre 313 n. Chr. nicht gestattet war. Die dann zugesicherte Religionsfreiheit gab Christen die Möglichkeit, öffentliche Einrichtungen zur Pflege und Obhut von Hilfsbedürftigen zu schaffen.[23]

Diese ersten Gebäude wurden als „Xendochion“ (xenos: fremd; subst. Gast, Gastgeber[24]) bezeichnet undwaren Herbergen für Fremde, Kranke und Schwache, die vor allem an beliebten Pilger- und Heeresstraßen errichtet wurden.[25]

Im „Nosocomion“ (nosos: Krankheit; komizo: pflegen, gastlich aufnehmen[26]), einer anderen Bezeichnung für „Xendochion“, wurden ausschließlich Kranke betreut. Es wurde daher als „Krankenhaus“ bezeichnet und sollerstmals von Bischof Basilius dem Großen um 369 n. Chr.errichtet worden sein.[27] Der hl. Hieronymus berichtete, dass seine Schülerin Fabiola (…399), im Westen von Rom ein „Nosocomion“ baute, um, die aus Afrika zurückkehrenden Pilger[28], aber auch Kranke und Sterbende zu pflegen, die sie selbst von der Straße geholt habe.[29]

2.2.1 Klostermedizin im frühen Mittelalter

Für die Entwicklung der Hospizbewegung ist die Entstehung der Klosterkultur von nachhaltiger Bedeutung, wobei jedoch ungewiss ist, wann die ersten Klöster entstanden. Hawel schreibt dies dem Ägypter Pachomius zu, der, bis zu seinem Tod im Jahre 347 n. Chr., elf Klöster an der Thebais (Gegend um die ägyptische Stadt Theben, Anm. d. Verf.) geschaffen hat, die beispielhaft für die Entstehung des abendländischen Mönchtums waren. Bemerkenswert ist, dass es in jedem Klosterein Hospiz mit eigener Küche gab, das sowohl Reisende als auch Kranke und Alte aufnahm.[30]

Von großer Bedeutung für die weitere Entfaltung des Hospitalwesens war Benedikt von Nursia (480-547 n. Chr.), der um 529 n. Chr.auf dem Monte Cassino das erste Kloster seiner Gemeinschaft baute. Die Verfasserin ist der Ansicht, dass das 36. Kapitel der Regula Benedikti, der Ordensregel des hl. Benedikt , noch heute für Pflegende Prinzip ihres Handelns sein sollte.[31] „Die Sorge für die Kranken steht vor und über allen anderen Pflichten. Man soll ihnen wirklich wie Christus dienen.“[32] Aufgrund der baulichen und personellen Ausstattung konnte die Unterstützung für Arme und Kranke am besten in den Hospizen der Klöster gewährleistet werden. Man kann dies auf die Anordnung des hl.Benedikt zurückführen, besonders Fremden und Pilgern alle Ehre zu erweisen und sie wie Christus aufzunehmen.[33]

Das Mönchtum der westlichen Kirche wurde stark von irischen Missionaren beeinflusst und geprägt.[34] Der in Irland geborene hl. Columban(543-615 n. Chr.) kam nach erfolgreichem Wirken in Irland als Missionar in die Vogesen und baute dort unter königlichem Schutz mehrere Klöster, in denen Hospize für Gäste und Arme eingerichtet wurden. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass Columban seine Klosteranlagen durch eigene Brauereien ergänzte und so den Grundstein für spätere Klosterbrauereien schuf.

Hawel führt an, dass die Eigenart der irischen Bußtätigkeit und der Beweggrund für die Pilgertätigkeit von Generationen irischer Mönche und Nonnen über viele Jahrhunderte hinweg in der vollkommenen Hingabe zu Christus zu sehen ist. Auf ihrer Wanderschaft, die sie nach Jerusalem, Kiew und durch Spanien führte, errichteten sie an ausgeprägten Standorten Hospize.[35]

Murken, der sich intensiv mit der Entwicklung der Hospitäler auseinandergesetzt hat, berichtet über weitere Klosterbauten im Zusammenhang mit Hospizen. Er erwähnt das Hospital S. Johannis in Jerusalem, erbaut von italienischen Kaufleuten um 600 n. Chr. auf den Mauerresten eines schon älteren Hospizes, ebenso wie „…ein an der Grabeskirche gelegenes Marien-Kloster mit einem Pilger-Hospiz…“[36].

200 Jahre später entwickelten die Benediktinerim Klosterplan von St. Gallen(820 n. Chr.) die Idealform eines Klosters. Neben dem völlig abgetrennten Bereich der Mönche wurden Einrichtungen wie Gästehaus, Hospiz, Schule und Abtei neben der Kirche, und zusätzlichim Osten ein eigener Bereich der Fürsorge für Verstorbene geplant.Der Grundriss wurde nie realisiert und konnte erst, nachdem er lange Zeit verschollen war, 1704 veröffentlicht werden.[37]

2.2.2 Klostermedizin im mittleren und ausgehenden Mittelalter

Das Edikt von Clermont (1130) und die Beschlüsse des anschließenden Konzils von Tours (1163) untersagten den Mönchen jegliche ärztliche Tätigkeitund leiteten damit das Ende der Mönchsmedizin ein.[38] Das Interesse junger Männer an kirchlichen Gemeinschaften war dennoch so groß, dass zahlreiche neue Ordensgemeinschaften gegründet wurden, die sich nunmehr ausschließlich der Krankenfürsorge widmeten. Seidler fasst sie in drei große Gruppen zusammen, die im Mittelalter, aufgrund ihres pflegerischen Schwerpunkts, „Hospitaliter“ genannt wurden und sich in die geistlichen Orden, die Ritterorden und die weltlichen Orden aufteilten .

Zu den geistlichen Orden, in der Tradition von Benedikt von Nursia, gehörte der Franziskanerorden, dessen Begründer Franziskus von Assisi (1181-1226) anordnete, dass die Pflege von Kranken so durchgeführt werden muss, wie man es sich für sich selber wünsche.[39]

Es ist in diesem Zusammenhang auch Dominikus (1170-1221), der Begründer der Dominikaner, zu erwähnen, der im Jahre 1217 in Paris ein Hospiz dem hl. Jakobus weihte.[40]

Seit Anfang des 11. Jh. betreuten die Brüder des Hospitals vom heiligen Johannes wandernde Pilger, Sterbende und Kranke entlang der großen Kreuzzugstrassen und pflegten in ihrem Krankenhaus in Jerusalem mehr als 2000 Menschen.[41] Während der Kreuzzüge wechselten sie den Namenspatron – vonJohannes Eleemon zu Johannes der Evangelist – und nannten sich fortan Johanniter .[42] Als die Mönche nach dem Fall von Akkon (1291) Jerusalem verlassen mussten, ließen sie sich auf Rhodos nieder und bauten dort eine große Hospitalanlage, die jedoch nicht für Pilger bestimmt war, da dieseim Hospiz St. Katharinaaufgenommen wurden.[43]

Der Begriff Hospiz als Bezeichnung von Herbergen für Pilger und Sterbende, wird in der Literatur nicht einheitlich verwendet.Hawelbezeichnet ein, um 1540 in Italien errichtetes Haus der Somasker, in demWaisenkinder unterrichtet und versorgt wurden, als Hospiz und weicht damit von der ursprünglichen und eigentlichen Bedeutung ab.[44]

Die aufstrebende Ordensbewegung wurde durch die Reformation, maßgeblich durch Martin Luther (1483-1546), gestoppt, da in vielen Ländern die Klöster und damit auch die angeschlossenen Hospize geschlossen wurden.[45] Im Zuge der Gegenreformation wurden neue katholische Ordensgemeinschaften aufgebaut, die die Entwicklung der Krankenpflege erneutbeeinflussten

Im 16. Jh. sind Johannes von Gott, als Gründer des Ordens der Barmherzigen Brüder, undVinzenz von Paul, Gründer des Ordens der Vinzentinerinnen,wegweisend für die Pflege Kranker und Sterbender zu erwähnen. Vinzenz von Paul eröffnete in Frankreich Hospize für Galeerensklaven und Pestkranke.[46] Die Barmherzigen Brüder, heute an vielen Orten in Medizin und Krankenpflege tätig, betreiben seit 1991 in München eine Palliativstation, und verwirklichen so das Leitmotiv ihres Gründers.

Die Hospitäler des 16. und 17. Jh. nahmen alle Hilfsbedürftigen auf und waren daher für die Versorgung der Bevölkerung baldnicht mehr ausreichend. Im „Hôtel – Dieu“ in Paris, aber auch in den Hospitälern von Rom, Neapel und London waren jeweils mehrere tausend Menschen untergebracht. Einzelne Städte verfügten daher, dass Siechende, die ihren Lebensunterhalt noch mit Betteln verdienen könnten, nicht aufgenommen werden dürften.

Die Klöster in England wurden geschlossen, die Orden lösten sich auf, so dass viele Menschen ohne angemessene Hilfe blieben. In ihrer Not wandten sich Londoner Bürger vergeblich an König Heinrich VIII., ein Haus zur Versorgung Hilfloser zu errichten, die dort liebevoll umsorgt und gepflegt werden könnten. Diese Einrichtung sollte nicht der Wiederherstellung der Gesundheit dienen, sondern vielmehr ein Ort der Gastfreundschaft sein.[47]

Die mittelalterlichen Hospitäler, die als Weiterentwicklung der „Xenodochien“ angesehen werden können, waren ebenso überfüllte Anlaufstätten für alle Hilfsbedürftigen. In Frankreich veranlasste dies Ludwig XIV. zu drastischen Maßnahmen, die teilweise auch in Deutschland übernommen wurden.Er verfügteim Edikt von 1656, dass im Pariser„Hôpital général“ Menschen mit chronischen Erkrankungen, Pfründner und aus der Gesellschaft ausgestoßene Personen aufzunehmen seien, und lediglich das „Hôtel – Dieu“ akut erkrankten Menschen wäre. Ludwig XV. ließ zusätzlich „Arbeitshäuser“ einrichten, die aber, ebenso wie die „Zucht- und Tollhäuser“ für geistig Kranke, die Problematik nicht verringern konnten.[48]

Die Differenzierung der Hospitäler entwickelte sichzwangsläufig durch die Entstehung größerer Städte, durch die sich die Kluft zwischen armen und reichen Menschen vergrößerte. Eckart unterscheidet zwischen Allgemeinen- und Hauptspitälern, Armen- und Seelhäusern (für arme und unverheiratete Frauen, Anm. d. Verf.), Blatter- und Franzosenhäusern (für Menschen, die an Pocken oder Syphilis erkrankt waren, Anm. d. Verf.) sowie Leprosenhäusern.[49] Diese waren für amtlich bestätigte, an Aussatz erkrankte Menschen, die nach einer Totenmesse dorthin verbracht wurden, die letzte Heimat.[50] Der Begriff „Hospiz“, der im Zusammenhang mit Hospitälern vielfach verwendet wird,kann nach Eckarts Auffassung nur für Fremden – und Pilgerspitäler, angewandt werden.[51]

2.3 Tod und Sterben im Mittelalter

Das Mittelalter war geprägt durch ein Massensterben während der Kreuzzüge und aber auch durch viele Infektionskrankheiten. Die Pest, forderte zusammen mit anderen Krankheiten, wie z.B. Lepra oder Masern, Millionen von Toten.[52] Nach der ersten großen Pestwelle im 6. Jh. wurden die Menschen im 14. Jh. unerwartet von einer zweiten Epidemie heimgesucht, die von den Menschen als Strafe Gottes angesehen wurde. Die Ansteckungsgefahr war hoch und Sterben fand in der Öffentlichkeit statt, da die Menschen aufgrund ihrer Lebenssituation selten alleine waren.[53] Die Sterblichkeit war, überdies auch bei Ordensangehörigen,hierdurch größer als bei„Eremiten“ und zwangsläufig forderte die Pest auchim städtischenBereich mehr Opfer als auf dem Land.[54]

Tod und Sterben waren durch die zahlreichen Infektionserkrankungen allgegenwärtig, so dass die Menschen sich fortwährend mit der Thematik auseinander setzen mussten. Selbst einfache Entzündungen, Schwangerschaften und vor allem Geburten bedeuteten eine große Gefahr für das Leben.[55] Furchterregende Volkspredigten der Bettelorden im 15. Jh. führten bald zu einer weiteren Ausweitung des Todesgedankens. Sterben war für die Menschen mit Ängsten und Schrecken verbunden, denn das tägliche Leben wurde durch die Erfahrung der Vergänglichkeit und durch Ängste vor möglichen Höllenqualen bestimmt.[56]

Elias sagt, dass „…das Sterben oft schmerzhafter, die Schuldangst vor der Strafe nach dem Tode unverdeckter, aber auch die Mitbeteiligung anderer am Sterben des Einzelnen…“[57] größer war als in der heutigen Zeit. Nassehi führt die Verzweiflung der Welt auf „…die schrille Omnipräsenz von Totengeläut, Sterbeprozessionen und sozialen Katastrophen durch die Auflösung tradierter Strukturen…“[58] zurück.

Die Menschen flüchteten aus den Städten und ließen ihre sterbenden Angehörigen allein. Viele Seelsorger kamen ihrer Aufgabe, Sterbenden Beistand zu leisten, nicht mehr nach und entflohen wegen der Seuche und der damit verbundenen Ansteckungsgefahr, so dass die Erkrankten sich selbst überlassen blieben.[59] Martin Luther schrieb dazu: „Ja, es kann kein Nachbar vom andern fliehen, wo sonst nicht (Menschen) sind, die die Kranken an ihrer Statt versorgen und pflegen können.“[60]

Das Leben wurde bestimmt durch Seuchen, heilige Kriege und Armut. Selbst die moralische Kraft der Kirche war nur mühsam durch die Gewalt derheiligen Inquisition aufrechtzuerhalten. Es verbreitete sich ein Nihilismus, der jede Hoffnung auf Auferstehung und eine positive Veränderung nach dem Tode auslöschte.

Mit Beginn der Renaissance setzte sich ein neues Lebensgefühl durch, das das „memento mori“ durch ein „memento vivere“ ersetzte. In der Wiederentdeckung der Antike begann der Mensch sich auf das Diesseit s zu besinnen und sein Seelenheil in der „Ars moriendi“, der Kunst des Sterbens, zu suchen.[61] Das von Johannes Gerson (1363 – 1429) verfasste, bebilderte Lehrbuch „Ars moriendi“, sollte den Menschen als Unterweisungbei der Vorbereitung auf ihren Tod dienen, beinhaltete aber auch Hinweise zur Sterbebegleitung.[62] Das irdische Leben wurde als Vorbereitung auf dasLeben im Jenseits angesehen, und die „Ars moriendi“ sollte ein möglichst gutes Bestehen beim Jüngsten Gericht ermöglichen.

In dem Werk demonstrieren 11 Holzschnittzeichnungen auf 24 Blättern drastisch die Versuchungen des Teufels, aber auch die Hilfen durch die himmlischen Mächte.[63] Für die Menschen sind hier die heilige Jungfrau und der gekreuzigte Christus allgegenwärtig und es wird einprägsam gezeigt, wieim Augenblick des Todes, Gott die Leiden der Betroffenen beendet.[64] Imhof stellt fest, dass die Bilder ihren Zweck erfüllten, und das Sterben für zahlreiche Menschen den Schrecken verlor. „Sie hatten rechtzeitig gelernt, zu sterben…“[65].

Erstmals wird in der „Ars moriendi“ die Notwendigkeit eines Sterbehelfers, der im Sterbeprozess dem Sterbenden beistehen soll, angesprochen. Es istbemerkenswert, dass eine neutrale Person, nach Möglichkeit ein Laie, den Sterbenden während des Sterbeprozesses begleiten sollte, da man der Ansicht war, dass vor allem Blutsverwandte sich mehr um das Erbe als um den Sterbenden kümmern würden.[66] Hier ist eine Parallele zur heutigen Hospizarbeit festzustellen. Der Hospizhelfer kümmert sich aus humanen und christlichen Motiven heraus um den Sterbenden, wirkt als „neutrales Element“ in der Familie und kann daher oftmals Schwierigkeiten unter den Angehörigen ausgleichen.

Das Massensterben zeigte große Auswirkungen auf das Verhalten der Bevölkerung. Der Tod im Hochmittelalter und in der Renaissance kann daher als Scheidepunkt und außergewöhnlicher Augenblick angesehen werden. Der Sterbende trug nun mit seiner Familie die Verantwortung für seinen Tod und hatte die Aufgabe, den Tod zu erleiden.[67]

Angst vor einer Bestrafung nach dem Tod, aber auch Angst um das Seelenheil waren Beweggründe für die einfachen Menschen, intensiv zu beten und ihre Sünden zu bereuen. Testamente stiegen um ein Vielfaches an, denn die Aussage Jesu, dass „…ein Reicher…nur schwer in das Himmelreich kommen“ wird (Mt 19,23), beeinflusste das Handeln der Menschen. Außerdem vermehrten sich Bruderschaften, und Fürsten erhofften sich Vergebung durch die Einrichtung von Stiftungen für Klöster und Kirchen.[68]

Tod und Sterben wurden nun ein Teil des Lebens, und die Menschen machten sich keine übertriebenen Vorstellungen vom Ende oder dem Jenseits. Sie erwarteten den Tod üblicherweise auf dem Krankenbett, da das Bett „…der unvordenklich alte Ort des Todes“[69] war. Die Menschen fürchteten, plötzlich und unvorbereitet zu sterben, weil ihnen die außergewöhnliche „mors improvisa“, der plötzliche Tod, keine Zeit für den erwarteten Todeskampf ließ und zudem als sündhafter Tod angesehen wurde.[70]

Sterben blieb öffentlich, so dass das Sterbezimmer meist überfüllt vonBesuchern war. Ariès folgert aus Texten und Bildern, dass der Sterbende, den Tod vor Augen, die Umstehenden nicht wahrgenommen habe, da er sich den überirdischen Wesen, die sich an seinem Kopfende versammelt hatten, zuwenden musste.[71]

Ab Mitte des 18. Jh. breiteten sich unter der Bevölkerung Zweifel an den bisherigen Glaubensvorstellungen und einem möglichen Weiterleben nach dem Tode aus. Es sind nun reduktive Tendenzen durch einfachere Totenmessen und einer Abnahme der Stiftungen für Arme feststellbar. Zudem wurde der Einfluss des Staates größer, denn Tod und Sterben wurden staatlichen Regelungen unterworfen.[72]

Es ist bemerkenswert, dass sich traditionelle christliche Gruppierungen sowie die Einflüsse der Romantik gegen die nüchterne Haltung der Aufklärung stellten und sich ein, für heutige Begriffe, sentimentaler Totenkult im Bürgertum entwickelte. Durch Veränderungen in Wissenschaft, Technik und Ökonomie wurden diese Strömungen jedoch reduziert und zogen sich auf künstlerische Bereiche oderFriedhöfe zurück.[73]

2.4 Tod und Sterben im 19. und 20. Jahrhundert

Die wichtigste Sozialform des ausgehenden 18. und 19. Jh. war die Familie, aus der sich eine bürgerliche Sterbekultur entwickelte. Die „ideale“ Familie, die aus den Eltern und wenigen Kindern bestand, schloss die Verwandtschaft und das Gesinde aus. Diese neue Form des Zusammenlebens beinhaltete den Wunsch nach einem vertrauten Zuhause, das der Familie Schutz bot. Die Liebe wurde als das Fundament der Familie angesehen und bezog nur die engsten Familienangehörigen mit ein.

Der Umgang mit Tod und Sterben veränderte sich. Nach der Einsicht, dass alle Menschen sterben müssen und dem Aufbau einer besonderen Beziehung zum eigenen Tod, trat nun der Tod eines anderen, des geliebten Menschen, in den Mittelpunkt.[74] Eine Trennung vom geliebten Menschen war fortan kaum erträglich, denn „…es ist das bare Leid, wenn der Tote dein gewesen.“[75] Das Sterbezeremoniell fand im privaten Rahmen statt, wobei sich die Aufmerksamkeit auf das Abschiednehmen und die Trauer der Angehörigen konzentrierte.

Der Tod wurde nicht mehr als Bedrohung empfunden, und die Menschen verherrlichten ihn. Sie sehnten ihn herbei, glaubten nicht mehr an den Untergang in der Hölle, und fühlten sich frei von Schuldgefühlen und Ängsten. Die physische Trennung wurde mehr als das Sterben als solches beklagt. Der Tod hatte nichts mehr bedrohliches, er wurde herbei gesehnt und verherrlicht. Mit der neuen Einstellung zum Tod veränderte sich das Verhalten am Sterbebett. Spontane Gefühlsausbrüche im Sterbezimmer oder während der Trauerzeit als Ausdruck starker Bindungen zum Verstorbenen hoben die Schranken verdrängter Pathetik auf.[76]

Fischer führt das veränderte Trauerverhaltendarauf zurück, dass für die Menschen die Wiedervereinigung mit ihren Angehörigen von größerer Bedeutung war als die Wiedervereinigung mit Gott. Die traditionelle christliche Eschatologie, deren Kernpunkt die leibliche Auferstehung ist, und die in der röm.-kath. Kirche, mit ihrer Doktrin vonFegfeuer und Hölle das Mittelalter beeinflusste,büßte ihre Überzeugungskraft ein.Fischerbetont in diesem Zusammenhang, dass sich „…der ständisch-theozentrische organisierte Himmel des 16. und 17. Jahrhunderts…zum bürgerlich-anthropozentrischen Himmeldes 18. und 19. Jahrhunderts gewandelt…“[77] hat. Die Veränderung der Weltanschauung, in der nicht mehr Gott, sondern der Mensch, als das Zentrum der Welt angesehen wurde, beherrschte ab Mitte des 19. Jh. auch den Umgang mit Tod und Sterben. Der Einfluss von Kirche und Familie wurde zu Gunsten bürokratischer Regelungen, ähnlich wie im 18. Jh., und einer zunehmenden Professionalität der Ärzte und Pflegekräfte abgeschwächt.[78]

Ohler ist der Ansicht, dass die Herausforderungen des Mittelaltersunsere heutige Diskussion um Sterben und Tod bereichern könnten. Damals starb der Mensch im Beisein derer, die mit ihm gelebt haben und wurde von ihnen bis zum Ende begleitet. „…man (ließ) ihn gerade dann mitmenschliche Nähe spüren, wenn er seine Mitmenschen fürimmer verlassen musste.“[79] Heute wird die Einbeziehung der Angehörigen und Nachbarschaft in den Sterbeprozess immer wichtiger, und von der Hospizbewegung gefordert und forciert, damit Sterbebegleitung wieder persönlicher und familiärer wird.

Hatte man bis Mitte des 19. Jh. dem Schwerkranken seinen Zustand nicht verheimlicht, um ihm die Regelung seiner letzten Dinge zu ermöglichen, so wurde er nun zunehmend gegen die Wahrheit abgeschirmt. Ariès stellt das Verschweigen der Wahrheit als Liebe zum „Anderen“ dar, den man nicht verletzen möchte. Es war zwar unbestritten, dass der Sterbende ein Recht auf Wahrheit hat, jedoch weigerte man sich, dem geliebten Menschen die traurige Nachricht zu überbringen, da die Menschen dadurch eine Verschlechterung des Zustandes bzw. einen vorschnellen Tod des Kranken befürchteten. Die Verfasserin ist der Meinung, dass Angehörige außerdem sich selbst schützen wollten, um sich als Überbringer einer schlechten Nachrichtnicht in Misskredit zu bringen. Um sich der Aufgabe entziehen zu können, wurde die Aufklärung oftmals einem Priester überlassen, da dessen Ankunft im Sterbezimmer für den Sterbenden als Zeichen des nahen Endes galt und so keiner Erklärung bedurfte.[80]

[...]


[1] Alle Zitate werden in ursprünglicher Form wiedergegeben

[2] vgl. Barloewen, C. von, Der lange Schlaf, in: Barloewen, C. von (Hg.), u.a., Der Tod in den

Weltkulturen und Weltreligionen, Frankfurt am Main usw., 2000, S. 26

[3] ebenda S. 28 f

[4] Zur besseren Übersicht wird in dieser Studienarbeit auf die Verwendung der weiblichen sowie männlichen Form der Bezeichnungen verzichtet. Bei Verwendung der männlichen Form sind die weiblichen Vertreter ebenfalls angesprochen.

[5] vgl. Seidler, E.; Leven, K.-H., Geschichte der Medizin und der Krankenpflege, Stuttgart, 2003, 7. Auflage,S.16

[6] vgl. Barloewen, C. von, a. a. O., S. 33 f

[7] ebenda, S. 58

[8] ebenda, S. 58

[9] vgl. Der große Brockhaus, Wiesbaden, 1955,Achter Band, S. 187

[10] vgl. Seidler E., a. a. O., S. 31

[11] vgl. Barloewen, C. von, a. a. O., S. 52

[12] ebenda, S. 5o ff

[13] vgl. Rinpoche, S., Das tibetische Buch vom Leben und Sterben, Wien, 1992, S. 118

[14] Konfuzius wurde um 500 v. Chr. geboren

[15] vgl. Seidler, E., a. a. O., S. 32

[16] vgl. Barloewen, C. von, a. a. O., S. 62

[17] ebenda S. 19

[18] vgl. Seidler, E., a. a. O., S. 40

[19] ebenda S. 4

[20] ebenda S. 64

[21] ebenda S. 71

[22] vgl. Angenendt,A., Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt, 1997, S. 586

[23] vgl. Seidler, E., a. a. O., S. 76 f

[24] vgl. Balz, H., Schneider, G., Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart usw., 1992, Band II, 2. verb. Auflage, S. 1189

[25] vgl. Murken, A., Vom Armenhospital zum Großklinikum, Köln, 1995, 3. veränd. Aufl., S. 40

[26] vgl. Balz, H., a. a. O., S. 1172 f

[27] vgl. Murken, A., a. a. O., S. 13

[28] vgl. Stoddard, S., Leben bis zuletzt, Die Hospiz-Bewegung; ein anderer Umgang mit Sterbenden, München, 1989, S.18

[29] vgl. Angenendt, A., a. a. O., S. 548

[30] vgl. Hawel, P., Das Mönchtum im Abendland, Freiburg,1993, S. 46 ff

[31] vgl. Seidler, E., a. a. O., S. 88

[32] ebenda

[33] vgl. Angenendt,A., a. a. O., S. 591

[34] ebenda S. 39

[35] vgl. Hawel, P., a. a. O., S 102 ff

[36] vgl. Murken, A., a. a. O., S. 15

[37] vgl. Angenendt, A., a. a. O., 168 f

[38] vgl. Eckart, W., Geschichte der Medizin, Berlin, 1998, 3. überarb. Aufl., S. 105

[39] vgl. Seidler, E., a. a. O., S. 114 f

[40] vgl. Hawel, P., a. a. O., S. 352

[41] vgl. Angenendt, A., a. a. O., S. 592

[42] vgl. Seidler, E., a.a.O., S. 115

[43] vgl. Ballestrem, C. W. von, Die Hospitalität des Ordens, in: Wienand, A. (Hg.), Der Johanniterorden – Der Malteserorden. Der ritterliche Orden des hl. Johannes vom Spital zu Jerusalem. Seine Geschichte, seine Aufgaben, Köln, 1988, S. 257 ff

[44] vgl. Hawel, P., a. a. O., S. 402

[45] ebenda S. 39

[46] vgl. Cachandt, R., Erkundigungen zur Hospizbewegung in Deutschland, in: Loewy, E., Gronemeyer, R. (Hg.), Dokumentation des ersten Gießener Symposiums vom 10. bis 12. Dezember 1999 zum Thema: Die Hospizbewegung im internationalen Vergleich, Gießen, 2000, S. 123

[47] vgl. Stoddard, S., a. a. O., S. 56

[48] vgl. Seidler, E., a. a. O. S. 153

[49] vgl. Eckart ,W., Geschichte der Medizin, Berlin usw.,1990, S. 127

[50] vgl. Seidler, E., a. a. O., S. 121

[51] vgl. Eckart, W., 1990, ebenda

[52] vgl. Ohler, N., Sterben und Tod im Mittelalter, München, 1990, S. 21 ff

[53] vgl. Elias, N., Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen, Frankfurt/Main,

1982, S. 30

[54] vgl. Ohler, N., a. a. O., S. 24

[55] vgl. Seitz, O., Seitz, D., Die moderne Hospizbewegung in Deutschland auf dem Weg ins

öffentliche Bewusstsein, Herbolzheim, 2002, s. 24

[56] vgl. Nassehi, A., Weber, G., Tod, Modernität und Gesellschaft, Opladen, 1989, S. 114

[57] vgl. Elias, N., a. a. O., S. 28

[58] vgl. Nassehi, A., a. a. O., S. 115

[59] vgl. Imhof, A., >>Sis Humilis !<<– Die Kunst des Lebens als Grundlage für ein besseres

Sterben, Wien, 1992, S. 9

[60] vgl. Aland, K., Martin Luther: Kirche und Gemeinde – Ob man vor dem Sterben fliehen möge -, in: Aland, K. (Hg.), Luther Deutsch, Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, Göttingen 1983, Dritte durchgesehene Auflage, Band 6,

S. 228 ff

[61] vgl. Nassehi, A., a.a.O., S. 116

[62] vgl. Weiß, W., Im Sterben nicht allein: Hospiz; ein Handbuch für Angehörige und

Gemeinden, Berlin, 1999, S. 88

[63] vgl. Angenendt, A., a.a.O., S. 664

[64] vgl. Ariès, P., Geschichte des Todes, München,2005, 11. Auflage, S. 139

[65] vgl. Imhof, A., Ars moriendi: Die Kunst des Sterbens einst und heute, Wien,1991, S. 38

[66] vgl. Angenendt, A., a. a. O., S. 664

[67] vgl. Barloewen, C. vonu.a., a. a. O., S. 109

[68] vgl. Angenendt, A., a. a. O., S.663

[69] vgl. Ariès, P., a. a. O., S. 138

[70] vgl. Fest, J., Der tanzende Tod, Lübeck, 1986

[71] ebenda

[72] vgl. Feldmann, K., Sterben und Tod – Sozialwisssenschaftliche Theorien und

Forschungsergebnisse, Opladen, 1997, S. 26

[73] vgl. Feldmann, K., a. a. O., S. 26

[74] vgl. Ariès, P., a. a. O., 2005, S. 783

[75] vgl. Kierkegaard, S., Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten 1845, Düsseldorf, 1964, S. 177

[76] vgl. Ariès, P., a. a. O., 2005, S. 784

[77] vgl. Fischer, M., Ein Sarg und nur ein Leichenkleid, Paderborn, 2004, S. 54

[78] ebenda

[79] vgl. Ohler, N., a. a. O.,S. 277

[80] vgl. Ariès, P., a. a. O., 2005, S. 718

Excerpt out of 66 pages

Details

Title
Hospiz - weil Sterben ein Teil des Lebens ist
Subtitle
Geschichtliche Entwicklung und Möglichkeiten der palliativen Versorgung
College
Steinbeis University Berlin  (Steinbeis-Business-Academy)
Grade
1,2
Author
Year
2006
Pages
66
Catalog Number
V74865
ISBN (eBook)
9783638683500
ISBN (Book)
9783638685313
File size
745 KB
Language
German
Keywords
Hospiz, Sterben, Teil, Lebens
Quote paper
Barbara Mayerhofer (Author), 2006, Hospiz - weil Sterben ein Teil des Lebens ist, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/74865

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