Es ist ernüchternd, was Jean Claud Juncker 2005 zum Stand der Europäischen Integration einfällt: "Europa hat aufgehört die Menschen zum Träumen zu bringen", lautet die bittere Bilanz des luxemburgischen Ministerpräsidenten (Centrum für angewandte Politikforschung 2007).
Wahrscheinlich ist dieses Urteil noch milde ausgedrückt. Für viele Europäer ist die Europäische Union mittlerweile zum Albtraum geworden. So würden durch das Vereinigte Königreich wahrscheinlich Freudenschreie hallen, wenn die Menschen erführen, dass die Europäische Union abgeschafft würde. Laut Eurobarometer-Umfrage aus dem Jahr 2003 wären knapp 30 Prozent der britischen Inselbewohner „sehr erleichtert“, „45 Prozent würden diese Nachricht gleichgültig“ aufnehmen. Europaweit sehen die Zahlen nicht viel besser aus (vgl. ebd.).
Die Anti-Europa-Stimmung trägt Früchte und kommt Heerscharen von Autoren gerade recht. In den Buchläden warten auf die EU-Skeptiker Titel wie „Europa – Der Staat, den keiner will“, „Die sieben Todsünden der EU“ oder „Das Europa-Komplott – Wie EU-Funktionäre unsere Demokratie verscherbeln“. Die Publikationen verkaufen sich laut Verlagsangaben nicht schlecht.
Die Europäische Union hat ein Problem: 50 Jahre nach ihrer Geburtsstunde durch die Römischen Verträge wanken ihre Grundfesten. Das politische Projekt taumelt, schwankt, droht zu stürzen.
Die Union verliert ihren Rückhalt, ihr Fundament. Die politische Gemeinschaft droht zu einer Demokratie ohne Demos zu werden. Das Elektorat wendet sich frustriert ab, die Wahlbeteiligung zum EU-Parlament schwindet und erreicht ungeahnte Tiefen. Stimmung und Zustimmung zu politischen Initiativen sinken dramatisch.
Die ersten Folgen zeigen sich bereits: Der Verfassungsvertrag - mühsam ausgearbeitet - wurde in Frankreich und den Niederlanden durch Referenden blockiert. Die Völker Europas wollen von dem Werk nichts wissen, zwingen die Verantwortlichen zu einer "Denkpause". Es droht, aus der Phase des Nachdenkens ein Herzinfarkt zu werden.
Denn die Krisensymptome reichen viel weiter. Sie liegen tief im Inneren des Systems. Politische Effektivität und Effizienz sind verwässert, die demokratische
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Legitimität ist fragwürdig, nationale Egoismen bremsen europäische Kompromisse immer wieder aus, die mangelnde Transparenz der politischen Entscheidung lässt die Menschen resignieren, eine politische Öffentlichkeit kann sich nicht etablieren.
Der Dortmunder Politologe Thomas Meyer gibt schon mal einen Vorgeschmack darauf, was passiert, wenn die Europäische Union nicht umlenkt und die Menschen elektrisiert: “Politische Gemeinwesen, deren Bürger nicht ein Zugehörigkeitsbewußtsein verbindet […], sind in ihrem Bestand gefährdet.” (Meyer 2004, S. 8). Ein System ohne Anhänger führe eine äußerst “prekäre Existenz” (ebd., S. 38).
Ist die Europäische Union nach 50 Jahren Erfolgsgeschichte an einem Scheitelpunkt angelangt? Steht das Projekt kurz vor dem Scheitern?
Der vorliegende Essay hat den Anspruch, genau diese These zu untermauern und aufzuzeigen, wo die Knackpunkte der Diskussion liegen.
Parallel erfolgt eine Suche nach den Ursachen für die so tiefsitzende Ablehnung der Europäischen Union. Dabei kann das multikausale Ursachengefüge nur im Ansatz skizziert und diskutiert werden. Absichtlich wird zunächst eine extreme polarisierende Position eingenommen.
Abschließend wird versucht auch Lichtblicke zu zeigen, auf denen man aufbauen kann um das Interesse an Europa wieder zu beleben.
Der Fokus liegt auf empirischen Untersuchungen über das Verhalten der deutschen Bevölkerung.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Krisensymptome: Ablehnung auf breiter Front
- Spurensuche: Das komplexe Ursachengefüge für die EU-Verdrossenheit
- Die Degradierung der EU-Wahlen zu „second-order-selections“
- Das Demokratiedefizit als Achillesferse
- Fragwürdigkeit von Effektivität, Effizienz und Transparenz politischer Prozeduren
- Fehlende Identität und Sprache als Hindernis zum Gemeinschaftsgefühl
- Schleichender Zerfall der EU? - Es gibt Hoffnung.
- Synthese: Chancen und Optionen für eine stabile EU
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Der Essay analysiert die Krise der Europäischen Union, die sich in Desinteresse, Frust und Wähler-Abstinenz der Bürger äußert. Er beleuchtet die Gründe für diese EU-Verdrossenheit, insbesondere in Deutschland, und untersucht die Auswirkungen auf das politische System.
- Die zunehmende Ablehnung der EU durch die Bürger
- Das Demokratiedefizit der EU als zentrales Problem
- Die Rolle von mangelnder Transparenz und politischer Effizienz bei der EU-Verdrossenheit
- Die fehlende Identifikation der Bürger mit der EU als Hindernis für das Gemeinschaftsgefühl
- Die Auswirkungen der EU-Verdrossenheit auf die politische Partizipation und die Wahlbeteiligung
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung beleuchtet die Krise der Europäischen Union und stellt die These auf, dass das politische Projekt der EU an einem Scheitelpunkt angelangt ist. Kapitel 2 analysiert die Krisensymptome, die sich in Form von Ablehnung und Desinteresse der Bürger äußern. Es werden Ergebnisse von Umfragen vorgestellt, die den Umfang der EU-Verdrossenheit verdeutlichen.
Kapitel 3 befasst sich mit den Ursachen der EU-Verdrossenheit. Es werden verschiedene Faktoren, wie die Degradierung der EU-Wahlen, das Demokratiedefizit und die Fragwürdigkeit der Effizienz und Transparenz von politischen Prozeduren, untersucht.
Schlüsselwörter
EU-Verdrossenheit, Desinteresse, Frust, Wähler-Abstinenz, Demokratiedefizit, Effizienz, Transparenz, Identität, Gemeinschaftsgefühl, politische Partizipation, Wahlbeteiligung, Eurobarometer, empirische Untersuchungen, deutsche Bevölkerung.
- Arbeit zitieren
- Marcus Sommer (Autor:in), 2007, Desinteresse, Frust, Wähler-Abstinenz: Die Europäische Union in der Krise, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/74932