Der Wandel von Parteiensystemen beschäftigt die Politikwissenschaft seit nunmehr über zwei Jahrzehnten auf intensive Weise. Waren bis zu den siebziger Jahren hauptsächlich Thesen und Theorien zur Stabilität von Parteiensystemen aufgestellt worden, so setzte von nun an ein Paradigmenwechsel ein, der in der Politikwissenschaft seines gleichen sucht. Plötzlich war von Wertewandel, Transformationstheorie, Postmaterialismus, Dealignment, Realignment und ,,end of ideology" zu lesen und zu hören: Begriffe, mit denen kurz zuvor noch niemand etwas hätte anfangen können.
Doch was versteht man genau unter diesen Bezeichnungen, welche Theorien verbergen sich hinter ihnen und was hat sich davon bis heute im Streit der Politikwissenschaft halten können? Wie können wir die Aussagefähigkeit der Theorien testen, welche Indikatoren dienen hier als Maßstäbe und in welchen Ländern kommen wir hiermit zu welchen Ergebnissen?
Seit der letzten Bundestagswahl beschäftigt ein weiteres Thema die Parteiensystemforschung: mit Bündnis 90 / Die Grünen ist zum ersten Mal eine Partei in der Bundesregierung vertreten, die bisher klar zur neuen, postmaterialistischen Bewegung gezählt wurde. Die Postmaterialismus-Theorie scheint also zumindest in Deutschland nicht vollkommen aus der Luft gegriffen zu sein.
Doch wie verhält es sich mit dem Wandel der Parteiensysteme in anderen Ländern? Sind überall ähnliche Bewegungen und Entwicklungen zu beobachten wie in Deutschland? Oder haben die verschiedenen Theorien nur länderspezifische Bedeutung und Gültigkeit?
Diese Arbeit soll einen Versuch darstellen, den eben genannten Fragen anhand eines Vergleichs verschiedener Forschungsergebnisse auf den Grund zu gehen.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Typologisierung von Parteiensystemen
2.1 Erste Typologisierungsansätze und Definition des Parteiensystems
2.2 Weiterentwicklung durch Niedermayer
2.2.1 Fragmentierung eines Parteiensystems
2.2.2 Polarisierung eines Parteiensystems
3 Bestimmungsfaktoren der Parteiensystementwicklung
3.1 Institutionelle Rahmenbedingungen: Das Wahlsystem
3.2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen: Die Cleavage-Theorie
3.2.1 Erweiterung durch Inglehart und Dalton: Wertewandel als neues Cleavage
3.2.2 Erweiterung auf insgesamt sieben „issue dimensions“ durch Lijphart
3.3 Veränderungen der Angebotsseite: die Allerweltspartei nach Kirchheimer
3.4 Zusammenfassung und Hypothesenbildung
4 Vergleich dreier europäischer Parteiensysteme
4.1 Die Bedeutung der Cleavages
4.2 Die Bedeutung des Links-Rechts-Gegensatzes
4.3 Die Entwicklung der Fragmentierung und der Polarisierung
4.4 Das wiedervereinigte Deutschland als Sonderfall
5 Schlussbetrachtung
6 Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Eigenschaften von Parteien und Parteiensystemen (Quelle: Niedermayer, 1996)
Abb. 2: Determinanten der Parteiensystementwicklung (Quelle: Niedermayer, 1996)
Abb. 3: Entwicklung der Fragmentierung (Quelle: Niedermayer, 1992)
Abb. 4: Entwicklung der Polarisierung (Quelle: Niedermayer, 1992)
Abb. 5: Konfliktstruktur des deutschen Parteiensystems nach der Wiedervereinigung (Quelle: Von Alemann, 2000)
1 Einleitung
Der Wandel von Parteiensystemen beschäftigt die Politikwissenschaft seit nunmehr über zwei Jahrzehnten auf intensive Weise. Waren bis zu den siebziger Jahren hauptsächlich Thesen und Theorien zur Stabilität von Parteiensystemen aufgestellt worden, so setzte von nun an ein Paradigmenwechsel ein, der in der Politikwissenschaft seines gleichen sucht.
Plötzlich war von Wertewandel, Transformationstheorie, Postmaterialismus, Dealignment, Realignment und „end of ideology“ zu lesen und zu hören: Begriffe, mit denen kurz zuvor noch niemand etwas hätte anfangen können.
Doch was versteht man genau unter diesen Bezeichnungen, welche Theorien verbergen sich hinter ihnen und was hat sich davon bis heute im Streit der Politikwissenschaft halten können? Wie können wir die Aussagefähigkeit der Theorien testen, welche Indikatoren dienen hier als Maßstäbe und in welchen Ländern kommen wir hiermit zu welchen Ergebnissen?
Denn gerade in Deutschland wird in den letzten Jahren immer häufiger vom Wandel der beiden großen Parteien zu „Allerweltsparteien“ und – damit verbunden – von der immer schwierigeren Abgrenzung ihrer Programme und Politikinhalte gesprochen. Eng mit diesem Problem verbunden sind auch zwei weitere Phänomene, die immer wieder durch die Presse geistern: die steigende Zahl von Wechselwählern sowie eine zunehmende Politikverdrossenheit bei einem Großteil der Bevölkerung, die von Zeit zu Zeit (zuletzt bei den Landtagswahlen 1998 in Sachsen-Anhalt) auf aufsehenerregende Weise durch Protestwahlen oder immer geringere Wahlbeteiligungen in Erscheinung treten.
Seit der letzten Bundestagswahl beschäftigt ein weiteres Thema die Parteiensystemforschung: mit Bündnis 90 / Die Grünen ist zum ersten Mal eine Partei in der Bundesregierung vertreten, die bisher klar zur neuen, postmaterialistischen Bewegung gezählt wurde. Die Postmaterialismus-Theorie scheint also zumindest in Deutschland nicht vollkommen aus der Luft gegriffen zu sein.
Doch wie verhält es sich mit dem Wandel der Parteiensysteme in anderen Ländern? Sind überall ähnliche Bewegungen und Entwicklungen zu beobachten wie in Deutschland? Oder haben die verschiedenen Theorien nur länderspezifische Bedeutung und Gültigkeit?
Diese Arbeit soll einen Versuch darstellen, den eben genannten Fragen anhand eines Vergleichs verschiedener Forschungsergebnisse auf den Grund zu gehen.
Einerseits ist hierzu eine ganzheitliche Betrachtungsweise nötig, die beispielsweise nicht nur beschränkt die Entwicklung einzelner Parteien betrachtet, andererseits sind – schon aus Platzgründen – einige Einschränkungen zu treffen, ohne die das Thema den hier vorgesehenen Rahmen sprengen würde. So kann zum Beispiel nicht in gleicher Weise auf alle (später noch genauer zu erläuternden) Aspekte und Eigenschaften der untersuchten Parteiensysteme eingegangen werden. Dementsprechend kann diese Arbeit auch keine erschöpfende Analyse der für den Vergleich ausgewählten Parteiensysteme darstellen.
Trotz dieser Schwierigkeiten soll versucht werden, einen Überblick über die wichtigsten Theorien und ihre Gültigkeit im Vergleich dreier Länder zu vermitteln.
Hierzu werden zunächst die Merkmale von Parteiensystemen erläutert, die heutzutage in den meisten Fällen zu einer Typologisierung herangezogen werden. Gleichzeitig wird die Untersuchung hierbei auf einige dieser Eigenschaften eingeschränkt.
Im Anschluss folgt eine Betrachtung der wichtigsten Bestimmungsfaktoren, die zur individuellen Erscheinung jedes Parteisystems führen. Auch hier gibt es verschiedene Theorien, bei denen sich jedoch einige im Laufe der Zeit als besonders geeignet erwiesen haben.
Anhand dieser theoretischen Grundlagen werden dann einige Hypothesen gebildet, die schließlich durch empirische Beobachtungen in verschiedenen Ländern getestet werden.
Abschließend wird in einem kurzen Fazit der Versuch unternommen, die vorgestellten Ergebnisse in einen Gesamtzusammenhang zu stellen und damit die eingangs genannten Fragen zu beantworten.
2 Typologisierung von Parteiensystemen
Was kennzeichnet ein Parteiensystem? Welche Merkmale lassen sich generell bei jedem zu untersuchenden Parteisystem unterscheiden? Diese Fragen wurden im Verlauf der Parteiensystemforschung immer wieder auf verschiedene Weise versucht, zu beantworten.
2.1 Erste Typologisierungsansätze und Definition des Parteiensystems
Lange Zeit dominierte hier eine rein numerische Betrachtungsweise die Analyse: Parteiensysteme wurden ausschließlich nach der Anzahl der vertretenen Parteien unterschieden und typologisiert. Bekannte Beispiele hierfür liefern die Typologisierung in Zwei- und Mehrparteiensysteme von Duverger[1] sowie die weitere der Mehrparteiensysteme in verschiedene Klassen nach Sartori[2]. Keiner dieser Ansätze konnte jedoch das Problem der Operationalisierung, also der Frage, welche Parteien überhaupt in die Analyse mit einbezogen werden sollen, endgültig lösen. Auch Erweiterungen der dichotomen Typologien durch Blondel[3] und von Beyme[4], der, ausgehend von Sartoris Parteiensystemtypologie Zweiparteiensysteme, gemäßigten Pluralismus, polarisierten Pluralismus und Systeme mit einer dominanten Partei (jeweils noch in verschiedene Untergruppen differenziert) unterscheidet, führten hier zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis.
Trotz aller Kritik an diesen frühen Typologisierungs-Ansätzen darf ihnen eine Leistung nicht aberkannt werden: durch die intensive Beschäftigung mit der Anzahl der Parteien, dem sogenannten Format eines Parteiensystems, kam es zu einer von der Systemtheorie abgeleiteten Minimaldefinition von Parteiensystemen. Ihr zufolge lässt sich jedes System als Menge von Objekten und von Relationen zwischen den Objekten bzw. ihren Attributen kennzeichnen. Diese Definition wiederum schließt strenggenommen alle Einparteiensysteme aus der Analyse aus. Trotz dieser Einschränkung konnte sich diese, zuerst von Sartori[5] gewählte Festlegung größtenteils durchsetzen und bis heute halten[6].
2.2 Weiterentwicklung durch Niedermayer
Nicht nur die Operationalisierung des Parteiensystemformats bereitete jedoch Probleme: durch das Fortschreiten der Parteiensystemanalyse wurde immer deutlicher, dass es an qualitativen Merkmalen zur Unterscheidung fehlte. Mintzel[7] zählt hierzu:
„(...) Ideologie, Programmatik, Aktionsformen, Konkurrenzsystem, Koalitionsbildung, Wahlsystem, sozialstrukturelle Charakteristika der jeweiligen Wähler- und Mitgliederbasis (...)".
Den ersten grundlegenden und umfassenden Ansatz zur Beschreibung von Parteiensystemen lieferte Niedermayer[8], der das Merkmal Format um sechs weitere, überwiegend qualitative Merkmale erweiterte (siehe Tabelle 1). Den Merkmalen auf der Parteienebene werden hierbei immer ein oder mehrere Merkmale auf der Parteiensystemebene zugeordnet. Diese Zuordnung ist v.a. für die Bestimmung der geeigneten Indikatoren wichtig, die
Niedermayer ebenfalls in seinem Ansatz mit einschließt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Eigenschaften von Parteien und Parteiensystemen (Quelle: Niedermayer, 1996)
Wie bereits angekündigt, muss für die weitere Untersuchung aus Platzgründen eine Einschränkung dieser Merkmale erfolgen. Auch wenn einige andere Merkmale vielleicht auch weiterhin am Rande erwähnt werden, konzentriere ich die im 4. Kapitel folgenden empirischen Vergleiche auf die Untersuchung der Merkmale „Fragmentierung“ und „Polarisierung“ der verschiedenen Parteiensysteme. Diese beiden Merkmale scheinen mir, nicht zuletzt durch ihre Anschaulichkeit und ihre häufige Erwähnung in den mir vorliegenden Forschungsergebnissen, besonders geeignet, um den Wandel der westlichen Parteiensysteme seit Mitte dieses Jahrhunderts zu untersuchen.
2.2.1 Fragmentierung eines Parteiensystems
Die Charakterisierung eines Parteiensystems durch die zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden Größenrelationen zwischen all seinen Parteien[9] wird als Fragmentierung bezeichnet. Es wird also nicht, wie bei der Bestimmung des Formats, die bloße Anzahl der Parteien betrachtet, sondern zusätzlich deren Größe in die Betrachtung miteinbezogen. Operationalisiert wird diese Eigenschaft durch einen Indikator mit einem kontinuierlichen Wertebereich. Hier haben sich v.a. zwei Indikatoren durchgesetzt: der „fractionalization index“ von Rae sowie die „effective number of parties“ (=ENOP) von Laakso und Taagepera. Wie Niedermayer und auch Lijphart[10], werde ich in dieser Arbeit aufgrund der größeren Anschaulichkeit den Indikator von Laakso und Taagepera vorziehen, definiert als „number of hypothetical equal-size parties that would have the same total effect on fractionalization of the system as have the actuel parties of unequal size“[11]. Je ungleicher also das Stimmenverhältnis ist, desto geringer ist die effektive im Vergleich zur realen Anzahl und bei deutlicher Dominanz nur einer Partei nähert sich der Index dem Wert 1.
[...]
[1] Duverger (1990)
[2] Niedermayer (1996), S.21
[3] Blondel (1990)
[4] von Beyme (1982)
[5] Janda (1993), S.179: „In a penetrating analysis, Sartori reasoned, that parties make a system only when there are multiple parties.(...) One party can relate to the state in a ‘party-state system’, in which the party’s properties figure in analysis, but there cannot properly be a one-party system. Despite the frequent usage of the terms ‘one-party’ or ‘single-party’ systems, Sartori’s view holds in the literature, which requires at least two parties to make a party system."
[6] Wiesendahl (1989), S.667
[7] Mintzel (1991), S. 427
[8] Niedermayer (1992), S. 143-148
[9] Niedermayer (1996), S. 22
[10] Lijphart (1999), S. 65ff
[11] Niedermayer (1996), S.24