Hermeneutische Analyse des Gewaltphänomens im Märchen


Trabajo Escrito, 2001

24 Páginas, Calificación: 1,3


Extracto


Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Einleitung
1.1. Unsere erste Begegnung mit dargestellter Gewalt
1.2. Mögliche Vorgehensweisen
1.3. Angewandte Vorgehensweise
1.4. Das Vorverständnis

Kapitel 2: Die hermeneutische Interpretation
2.1. Inhaltliche und formale Charakteristika des Märchens
2.1.1. Zensur durch die Brüder Grimm?
2.2. Das Phänomen der menschlichen Gewalt
2.3. Gewalt im Märchen als hermeneutische Analyse
2.3.1. Spaß an Gewalt
2.3.2. Manifeste Gewalt
2.3.3. Subtile Gewalt
2.3.4. Gewalt gegen die Obrigkeit

Kapitel 3: Schluss
3.1. Faszinierende Gewalt, auch im Märchen
3.2. Märchen: ein Nebenprodukt der Realität?
3.3. Der klassische Weg der subtilen Gewalt: Propaganda
3.4. Befriedigung geheimer Wunschträume
3.5. Neue Hypothese

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Hu! Da fing sie an zu heulen, ganz grauselich; aber Gretel lief fort,

und die böse Hexe musste elendiglich verbrennen.“[1]

Aus: Grimmmärchen ‚Hänsel und Gretel’

1.1 Unsere erste Begegnung mit dargestellter Gewalt

Jeder, dem früher des öfteren Märchen erzählt wurden, wird sich wohl an diese bekannte Szene erinnern, stammt sie doch aus einem der populärsten Märchen der Brüder Grimm. Und genau diese und ähnliche Szenen, die in irgendeiner Form Gewalt beinhalten oder darstellen, sollen im folgenden den Kern dieser Arbeit bilden. Als eine Art Leitwerk sei hier zunächst der Band ‚Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm’ erwähnt, denn die dort enthaltenen Erzählungen bieten ausreichend Nährboden für Interpretationsansätze bezogen auf ihre Gewaltdarstellungen, und sie sind fast jedem, zumindest aus jungen Jahren, bekannt.

1.2 Mögliche Vorgehensweisen

Jene Interpretationsansätze wurden jedoch bis heute selten von Vertretern einer Geisteswissenschaft aufgegriffen und vertieft. Doch existieren bereits diverse herausgegebene Interpretationen zu dem Inhalt der Märchen selbst; wissenschaftliche Veröffentlichungen bezüglich der inhaltlichen Thematik werden vorwiegend von einer Disziplin der Psychologie, nämlich der Psychoanalyse, getätigt. Diese klammert zwar das Phänomen der Gewalt im Märchen nicht gänzlich aus, aber es wird häufig ‚nur’ als eine Ursache unter vielen im Rahmen der psychologischen Prozesse und Entwicklungen beim Kind erwähnt.[2]

Ebenso bietet das textbezogene und vergleichende Vorgehen der Geschichtswissenschaft wenige Ansatzmöglichkeiten, denn hier wird das Märchen ‚nur’ als eine Art Quelle zur Beschreibung jeweiliger historischer Hintergründe herangezogen.

Beides, das psychologische und das geschichtswissenschaftliche Vorgehen, soll in dieser Arbeit nicht angewandt werden. Trotzdem wird es im folgenden zu Ergebnissen kommen, die einerseits deutlich im psychologischen, andererseits mehr im historischen Zusammenhang verstanden werden müssen. Es sei also noch einmal erwähnt, dass die Ergebnisse dieser Arbeit, welche im Schlussteil zusammengefasst sind, durchaus psychologische oder geschichtliche Züge tragen, der Weg zu ihnen aber nur durch ein Verfahren begangen wurde: der hermeneutischen Analyse.

1.3 Angewandte Vorgehensweise

Die Hermeneutik ist ein Bestandteil der darstellenden Forschungsmethode im Hinblick auf ihre vorfindbare Gestalt und ihre Anwendungsmöglichkeit. Im Gegensatz zur Phänomenologie, die versucht, unter Ausklammerung allen Vorverständnisses den Kern oder die Idee eines Forschungsgegenstandes zu fassen, ist die Hermeneutik als Methodenreflexion gerade auf das jeweilige Vorverständnis angewiesen. Ohne dies wäre das Verstehen eines Sachverhaltes nicht möglich. In diesem Zusammenhang gewinnt der Begriff des ‚hermeneutischen Zirkels’ an Bedeutung, denn nur durch ihn lassen sich bisherige Hypothesen falsifizieren und ergänzen, nur durch ihn kommt es zu einer interpretativen Synthesenbildung.[3]

Zur Vereinfachung: Die meisten aufmerksamen Leser dieser ersten Seiten haben bereits ein Stück Weg des hermeneutischen Zirkels beschritten. Mit einem anfänglichen Vorverständnis lasen sie bereits das Zitat aus ‚Hänsel und Gretel’, danach einige Anmerkungen. Durch diese wenigen Sätze, die sie auf die augenscheinliche Gewalt im Märchen aufmerksam machten, ihnen also dazu verhalfen, das Märchen unter dem Aspekt ihrer expliziten Gewaltdarstellungen genauer zu betrachten, wurde bereits ihre eventuelle Hypothese: ‚Märchen täuschen eine heile Welt vor’ verworfen und durch ein nun erweitertes Vorverständnis beispielsweise geändert zu: ‚Naja, Märchen gehen ganz schön rau zur Sache.’

1.4 Das Vorverständnis

Es ist also im Sinne der hermeneutischen Analyse unabdingbar, mein Vorverständnis im Zusammenhang mit der Fragestellung zu formulieren. Die Fragestellung ergibt sich aus dem Thema: Wie tritt Gewalt im Märchen auf, und wie lässt sich dieses Auftreten interpretieren? Mein Vorverständnis bezüglich dieser Fragestellung in aller Kürze und Prägnanz lautet: Gewalt tritt explizit erwähnt und häufig im Grimmschen Märchen auf, weil sie so das moralische Resümee eines jeden Märchens verstärkt.

Führt man sich das Bild des hermeneutischen Zirkels vor Augen, so befinden wir uns zum momentanen Zeitpunkt am Anfang, beim Vorverständnis. Sinn der folgenden Kapitel soll es sein, im Rahmen dieser Arbeit möglichst viel an Aspektenzuwachs beziehungsweise Interdisziplinarität zu gewinnen, um eine neue Hypothese auf Basis eines erweiterten Verständnisses zu bilden.

Warum nun also die Hexe verbrennen musste, soll im folgenden schrittweise analysiert werden.

2.Die hermeneutische Interpretation

2.1. Inhaltliche und formale Charakteristika des Märchens

Der Begriff „Märchen“ hat seinen Ursprung in der Verkleinerungsform des vom Mittelhochdeutschen stammenden Wortes ‚maere’, was soviel bedeutet wie „Erzählung, Geschichte, Bericht“. Dessen linguistische Wurzeln lassen sich noch im Althochdeutschen des zehnten und elften Jahrhunderts finden; unter den Begriff ‚mären’ verstand man damals Synonyme wie „verkünden, rühmen“.[4]

Es handelt sich hierbei um eine in ihrem Umfang begrenzte unterhaltende Prosaerzählung, deren Inhalt frei erfunden, weder zeitlich noch räumlich festgelegt und von phantastisch-wunderbaren, den Naturgesetzen widersprechenden Gestalten und Begebenheiten geprägt ist. Die beiden Hauptformen der Gattung sind Volksmärchen und Kunstmärchen. Formal ist das Märchen gekennzeichnet durch einen realistischen, der alltäglichen, gesprochenen Sprache angenäherten Stil, der einen bruchlosen Übergang von einer vorstellbaren in eine magische, überwirkliche Welt gewährleistet. Formelhafte Wendungen finden sich am Anfang „Es war einmal ...“ und am Schluss „ ... und wenn sie nicht gestorben sind ...“ oder in Zauber beziehungsweise Beschwörungsversen. Häufig spielt die Dreizahl, sowohl im Gesamtaufbau wie auch in einzelnen Handlungsabschnitten, eine bedeutsame Rolle, wenn etwa der Protagonist drei Aufgaben zu bewältigen hat, um beispielsweise in den Genuss einer besonderen Vergünstigung zu kommen. Im allgemeinen steigern sich diese Aufgaben und erzeugen dadurch ein erhöhtes Spannungspotential.

Man unterscheidet unter anderem folgende Typen des Märchens, welche hauptsächlich aufgrund ihrer inhaltlichen Aspekte zu trennen sind: Zauber und Wundermärchen, Schwankmärchen, Tiermärchen, Schicksalsmärchen, Frage- und Neckmärchen, Kettenmärchen und Naturvölkermärchen. Im Gegensatz zu diesen Formen des Märchens steht das Kunstmärchen. Es kann manchmal auch eng am Volksmärchen orientiert sein, ist häufig aber betont kunstreich gebaut, psychologisch und philosophisch ausgerichtet und schriftlich festgehalten. In jedem Fall ist es das Werk eines namentlich bekannten Autors.

Die inhaltliche Struktur des Märchens verzichtet meist auf komplizierte Handlungsstränge oder gar komplexe Charaktere und Gestalten. In beinahe jedem Märchen besteht eine deutliche Trennung zwischen den beiden konträren Begrifflichkeiten Gut und Böse. Dies bedeutet, dass auch sämtliche im Märchen vorkommende Gestalten nicht ambivalent, also nicht gut und böse zugleich sind.[5] Eine Person ist entweder gut oder böse, aber nichts dazwischen. Diese scharfe Trennung vollzieht sich auch auf andere merkmalsprägende Eigenschaften. Der eine Bruder ist dumm, der andere schlau, wobei die eine Schwester schön, aber ihre beste Freundin hässlich und schließlich der Vater gut und fleißig, die Stiefmutter hingegen böse und faul ist.

Interessant ist diese strikte Unterteilung in Gut und Schlecht in Hinblick auf das offendargestellte Gewaltphänomen im Märchen. Denn fest steht: die ‚Kinder- und Hausmärchen’ der Gebrüder Grimm sind voll von expliziten Gewaltdarstellungen. Da muss eine böse Königin in glühenden Pantoffeln tanzen, eine Stiefmutter köpft ihre Stiefkinder, ein Vater sargt seinen Sohn ein, ein Ehemann zerstückelt seine Frau, und die Bösewichter kommen in siedendes Öl.[6]

Die immense Trennung der konträren Charakter- und Handlungseigenschaften birgt in sich schon logischerweise den Nährboden für künftige Gewalteskapaden. Warum nun gerade die eskalierende Brutalität und die Gewaltdarstellung an sich den dramaturgischen Kern vieler Märchen bilden, soll aufgrund des allgemeinen Phänomens menschlicher Gewalt im nächsten Kapitel näher analysiert werden. Doch zuvor sei noch einmal kurz auf die Entwicklung der Grimmschen Märchensammlung unter dem Aspekt der Gewaltdarstellung eingegangen, um Gewissheit über eventuelle Zensur oder gar Verherrlichung seitens der Herausgeber zu erlangen.

2.2. Zensur durch die Brüder Grimm?

Die weltweit größte zusammenhängende Märchensammlung entstand Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Um das alte Erzählgut vor dem Vergessen zu bewahren, haben Jacob Ludwig Carl Grimm (1785 –1863) und Wilhelm Karl Grimm (1786 – 1863) alte Volksmärchen gesammelt und schriftlich niedergelegt. Sie taten dies aber in erster Linie als Sprachwissenschaftler und Volkskundler und nicht etwa, um einen Bestseller für Kinder herauszubringen. Denn ursprünglich galten die Märchen damals nicht als reine Kindergeschichten.[7] Verwunderlich ist es daher nicht, dass Jacob Grimm sie ohne weiteres als Texte „... von Erwachsenen für Erwachsene ...“ betrachtete, und Albert Ludwig Grimm äußerte: „Ich habe es (das Grimmsche Märchenbuch) immer nur mit dem größten Missfallen in Kinderhänden gesehen.“[8]

Die Brüder Grimm versicherten in der Vorrede ihrer Urfassung: „Kein Umstand ist hinzugedichtet oder verschönert und abgeändert worden ...“. Jedoch blieb es nicht dabei. Wilhelm Grimm sorgte dafür, zum Verdruss seines Bruders Jacob, dass explizit erwähnte sexuelle Sachverhalte beseitigt wurden; er moralisierte die Werke und verschönte sie durch den unverkennbaren Märchenton. Für Jacob Grimm war das „... poetische Erfinden ...“ nichts als „... Lüge und Untreue ...“ und „... nichtsnutziges Überarbeiten ...“.[9]

[...]


[1] Grimm, Jacob (Hrsg.): Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. 27. Aufl. München 2000. S. 58.

[2] Vgl. Asanger, Roland / Wenninger, Gerd (Hrsg.): Handwörterbuch Psychologie. Weinheim 1999. S. 312 ff.

[3] Danner, Helmut: Methoden geisteswissenschaftlicher Pädagogik. 4 Aufl. München 1998. S. 31 ff.

[4] Bünting, Karl-Dieter (Hrsg.): Deutsches Wörterbuch. Chur /Schweiz 1996. S. 744.

[5] Bettelheim, Bruno: Kinder brauchen Märchen. 22. Aufl. München 2000. S. 15 ff.

[6] Grimm Jacob / Grimm Wilhelm (Hrsg.): Grimms Kinder- und Hausmärchen. München 1996. S. 321 ff.

[7] Mallet, Carl-Heinz: Kopf ab! Über die Faszination der Gewalt im Märchen. 1. Aufl. München 1990. S.38.

[8] Rölleke, Heinz (Hrsg.): Die älteste Märchensammlung der Brüder Grimm, Synopse der handschriftlichen Urfassung von 1810. Cologny-Genève 1975. S. 112.

[9] Panzer, Friedrich (Hrsg.): Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Vollständige Ausgabe in der Urfassung. Wiesbaden o. J. S. 32.

Final del extracto de 24 páginas

Detalles

Título
Hermeneutische Analyse des Gewaltphänomens im Märchen
Universidad
Helmut Schmidt University - University of the Federal Armed Forces Hamburg  (Allgemeine Pädagogik)
Curso
Hauptströmungen der Gegenwartspädagogik in wissenschaftshistorischer Sicht
Calificación
1,3
Autor
Año
2001
Páginas
24
No. de catálogo
V7523
ISBN (Ebook)
9783638147620
Tamaño de fichero
659 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Märchen, Gewalt, Hermeneutik, Grimm
Citar trabajo
Oliver Bock (Autor), 2001, Hermeneutische Analyse des Gewaltphänomens im Märchen, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/7523

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