Um mich dem pädagogischen Fallverstehen zu nähern, werde ich in den folgenden Kapiteln die für mich relevanten Themen zum Fall R. erläutern. Mein Ziel ist es das Verhalten von R. im Hinblick auf seine Gesamtsituation zu verstehen. Zu seiner Gesamtsituation bzw. zu seinem Zustand gehört zum einen seine geistige und körperliche Behinderung, das Leben bzw. Wohnen im Heim, das Heimweh als Ausdruck von einem scheinbar unvorbereiteten Ablösungsprozess von den Eltern und sein Alter mit den damit einhergehenden Bedürfnissen bzw. Veränderungen.
In den nächsten Kapiteln werde ich zum einen darauf eingehen, was es für Gründe gibt, warum Menschen mit Behinderung im Heim leben und die Institution eine Notwendigkeit für sie hat. Außer dem Konzept des Wohnheims werde ich noch auf andere Wohnformen für Menschen mit Behinderung und auf die Bedeutung von Wohnen eingehen. Zum anderen möchte ich gerne den Prozess der Ablösung vom Elternhaus als eine der Entwicklungsaufgaben von Menschen mit und ohne Behinderung, um autonom und erwachsen zu werden, erläutern sowie auf Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung im Alter eingehen.
Abschließend werde ich versuchen den Fall R. zu verstehen, einzuschätzen und zu bewerten.
Inhaltsverzeichnis
1 Falldarstellung: „Fall R.“
1.1 Beschreibungen von Szenen, Handlungen, Interaktionen
2 Ansätze zum pädagogischen Fallverstehen
3 Auffälliges Verhalten
4 Leben im Heim
4.1 Die Notwendigkeit von Institutionen für Menschen mit Behinderung
4.2 Das Konzept des Wohnheims
4.3 Wohnformen von Menschen mit Behinderung
4.4 Bedeutung von Wohnen für Menschen mit Behinderung
4.5 Ablösung vom Elternhaus als Entwicklungsaufgabe - Einzug ins Heim
5 Menschen mit Behinderung im mittleren bzw. hohen Alter
5.1 Kommunikation
5.2 Bedeutung von Ernährung
6 Schlussbewertung
Literaturverzeichnis
1 Falldarstellung: „Fall R.“
R. ist 1954 geboren und ist somit zur Zeit der Fallbeschreibung im mittleren bzw. hohen Alter von 52 Jahren. Seine Körpergröße ist ca. 1,80 m und er wiegt zwischen 50 und 60 kg. Er kann sich gut selbst beschäftigen, malt, sieht gerne „Tatort“ und Musiksendungen im Fernsehen, wird zweiwöchig zum Spielkreis des Deutschen Roten Kreuzes gefahren oder vom Taxi abgeholt, fährt gern im Auto oder Bus mit. Er besucht täglich die Tagesförderstätte für Senioren im Behindertenzentrum, nicht weit vom Wohnheim entfernt. Seine Eltern leben beide im Pflegeheim und sind inkontinent. Seine Mutter ist dazu noch demenzkrank. Hierzu ist zu erwähnen, dass zu den häufigsten Erkrankungen in mittleren und höheren Lebensalter Demenz und die Depression gehören. Die Demenz hat verschiedene Schweregrade. Sie kann mittelgradig bis schwer sein. Statistiken lassen einen stetigen Zuwachs der dementiellen Erkrankungen in den letzten Jahren erkennen. Der Hauptgrund ist der Anstieg der Lebenserwartung. Nach international anerkannten Klassifikationenschemata zerebraler Abbausyndrome wird Demenz in primäre oder sekundäre eingeteilt. (Vgl. Oestereich 1992, 132f)
R. hat zwei jüngere Brüder, wovon einer der gesetzliche Betreuer ist. Bis zum Einzug ins Wohnheim lebte R. bei seinen Eltern, dann bei seinem gesetzlichen Betreuer, welche eine Hilfskraft aus Polen für ihn beschäftigte. R. hat eine cerebrale, spastische Lähmung und eine chronische Gastritis. Seine linke Hand krampft und er hat unkontrollierten Speichelfluss. Er braucht Hilfe bei der Basisversorgung, beim Waschen, An- und Ausziehen sowie beim Brote schmieren. R. weiß genau, was er essen und anziehen will.
Bei langen Strecken braucht er einen Rollstuhl.
Aus dem Gesamtplan des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen entnehme ich Folgende Ziele:
- R. soll das Einleben im Wohnheim ermöglicht werden, er soll in die Gruppe integriert werden.
- Er soll Unterstützung im Zurechtfinden im Wohnheim bekommen und seine Teilnahme an Aktivitäten der Wohngruppe sollen gefördert werden.
1.1 Beschreibungen von Szenen, Handlungen, Interaktionen
Am Anfang meines Praktikums habe ich R. als den „stillen Beobachter“ definiert. Er kam aus der Tagesstätte für Senioren heim und brachte seine Sachen in sein Zimmer, ging auf Toilette, bat um Hilfe und setzte sich dann an den Tisch ins Wohnzimmer. Da saß er vor seinem Becher mit Strohalm, gefüllt mit Wasser oder Tee. Er beobachtete die Vorgänge im Wohnzimmer und mich, als Neue im Aufenthaltsraum. Außer ja und nein sagte er nicht weiter viel. Ich sprach ganz normal mit ihm. R. hatte nur die Themen Wetter und Kopfweh. Dazu erzählt er mir noch, dass er eine Runde fahren will, damit meinte er Einkaufen gehen oder einfach mal in den Bus setzen und wohin fahren. R. weinte viel, er sagt er schläft gar nicht und hat Heimweh.
Oft saß er auf seinem Stuhl und verzog keine Miene, beobachtet aber was die Anderen taten. Er fügte sich nicht wirklich in die Geselligkeit ein. Als ich ihn das erste Mal alleine pflegte, war mir dabei etwas mulmig, da er nicht viel Sprach und ich Angst hatte etwas falsch zu machen. R. verstand alles, was ich ihn fragte und gab mir auch kurze Antworten bzw. körpersprachliche Antworten. In Gesprächen in der abendlichen Pflege erfuhr ich immer mehr von ihm, z.B. dass er nicht damit klar kommt, dass er nicht richtig laufen, essen und sprechen konnte.
Es vollzog sich langsam ein undefinierbarer Wandel im Verhalten von R. Als ein Bewohner mit allen Bewohnern des Wohnheimes sein Geburtstag feierte, erlebte ich und alle anderen die R. kannten, ihn als eine ganz andere Person. Das erste Mal erlebte ich, dass ein Mensch mit Behinderung Bier trank. Ich weiß nicht mehr, ob R. danach gefragt hatte oder ob er es hingestellt bekommen hatte. Jedenfalls war ich verwundert, aber erfuhr dann, dass er Bier trinken darf und ich dachte, wieso glaubst du, dass Menschen mit Behinderung kein Bier trinken dürfen? Die Bewohner bestimmen selbst was sie tun oder nicht tun, wenn sie bestimmte Anweisungen nicht überschreiten. Z.B., dass sie keinen Alkohol trinken dürfen, wenn sie Tabletten nehmen müssen. R. war glücklich mit seinem Bier. Der Gruppenleiter sagte mir noch, dass es außerdem alkoholfreies Bier sei, was er ihm gegeben hätte. Dies wusste R. aber nicht. Er fing an, sich wie ein Betrunkener zu verhalten und begann in den lautesten und schrillsten Tönen, die man sich vorstellen kann zu singen, zu lachen und zu tanzen. Er hob die Arme und schwang seinen Körper hin und her, dass es auf mich beängstigend wirkte. Die Menschen um ihn herum ließen ihn und machten teilweise mit. Ich wusste nicht wie mir geschieht. Er wurde in dem Glauben gelassen, dass er richtiges Bier getrunken hatte, aber darauf hingewiesen, dass er nicht zu ausfallend sein sollte. In den nächsten Wochen war R. wie ausgelassen. Plauderte im Wohnzimmer munter drauf los, über alle möglichen Dinge. Er war gar nicht mehr zu bremsen. Ich unterhielt mich gerne mit ihm.
Dann fiel dem Team auf, dass R. weniger essen wollte. Er sagte, dass er keinen Hunger mehr habe. Zudem fing er auf einmal an zu Erzählen, dass ihn in der Werkstatt alle „Arschloch“ nennen würden, ihn damit aufziehen, dass er nicht laufen und sprechen könne. Von da an sagte R. zu Allem und jedem „Arschloch“ und „Scheiße“, und dass er sich betrinken will, sterben will, usw. R. nervte mit seiner Art, alle waren böse auf ihn, er wurde ein „Störfaktor“ in seiner Gruppe.
Im Endeffekt stellt man fest, dass er sich in der Werkstatt genauso verhielt, und dass er von niemandem beschimpft wurde.
R. wurde zurechtgewiesen, was bedeutete, dass er vom Essenstisch verwiesen wurde, er den Spielkreis verboten bekam und in seinem Verhalten ignoriert wurde. Sein Verhalten in Sachen Schimpfwörter ging allmählich zurück. R. hatte auf nichts mehr Lust und weinte viel. Auf den geplanten Urlaub hatte er schon gar keine Lust mehr. Seine Stimmung wechselte von gut zu schlecht. Im Urlaub gab es dann den Fall, dass wir auf seinen Wunsch hin eine Disco besuchten und dort (richtigen) Alkohol trank. Er sagte, er wolle sich besaufen wie früher, er wisse wie das wäre. Diesmal trank er nach Selbstbestimmung etwas mehr, aber im Fall im Rahmen und abwechselnd mit anderen Getränken. Diesmal war R. richtig betrunken, sein Kreislauf sackte ab und er hat sich die ganze Nacht übergeben müssen. Ihm wurde der Katerzustand erklärt und er wurde darauf aufmerksam gemacht, dass er dies selbst so gewollt habe. R. lernte durch Selbsterfahrung.
Dieser Fall veranlasste den Gruppenleiter und das Team die Selbstbestimmung in diesem Fall zu unterbinden. Mit seinem Bruder wurde ein Gespräch geführt, wobei heraus kam, dass R. nur noch alkoholfreies Bier trinken darf, da es manchmal sein kann, dass er Bier nicht verträgt.
R. war richtig schlecht drauf, als wir wieder zuhause waren. Er zog ein Gesicht, also ob er jemanden gleich eine reinhauen wollte!
2 Ansätze zum pädagogischen Fallverstehen
Um mich dem pädagogischen Fallverstehen zu nähern, werde ich in den folgenden Kapiteln die für mich relevanten Themen zum Fall R. erläutern. Mein Ziel ist es das Verhalten von R. im Hinblick auf seine Gesamtsituation zu verstehen. Zu seiner Gesamtsituation bzw. zu seinem Zustand gehört zum einen seine geistige und körperliche Behinderung, das Leben bzw. Wohnen im Heim, das Heimweh als Ausdruck von einem scheinbar unvorbereiteten Ablösungsprozess von den Eltern und sein Alter mit den damit einhergehenden Bedürfnissen bzw. Veränderungen.
In den nächsten Kapiteln werde ich zum einen darauf eingehen, was es für Gründe gibt, warum Menschen mit Behinderung im Heim leben und die Institution eine Notwendigkeit für sie hat. Außer dem Konzept des Wohnheims werde ich noch auf andere Wohnformen für Menschen mit Behinderung und auf die Bedeutung von Wohnen eingehen. Zum anderen möchte ich gerne den Prozess der Ablösung vom Elternhaus als eine der Entwicklungsaufgaben von Menschen mit und ohne Behinderung, um autonom und erwachsen zu werden, erläutern sowie auf Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung im Alter eingehen.
Abschließend werde ich versuchen den Fall R. zu verstehen, einzuschätzen und zu bewerten.
3 Auffälliges Verhalten
Im Folgenden gehe ich auf die Entwicklung von auffälligen Verhalten als eine Eigenart ein und nenne anhand Klauß 1999 mögliche Gründe, warum es nahe liegt, weshalb Menschen mit Behinderung dieses entwickeln können. Dabei ist anzumerken, dass nicht alle Verhaltensaufälligkeiten bzw.- Störungen auf diesen Hintergründen zu erklären sind, und dass alle Menschen auch ohne Behinderung in ihrem Verhalten auffällig werden können.
- Keine Entwicklung von eigenen Bedürfnissen
Menschen mit Behinderung geraten schneller als Menschen ohne Behinderung in eine soziale Abhängigkeit, da sie oft nicht wissen, was sie wollen, sie keine eigenen Bedürfnisse entwickelt haben, kognitiv eingeschränkt sind oder zum Gegenteil hin nicht unterstützt worden sind. Die Erziehung bei Menschen mit Behinderung hat ihren Fokus darauf, dass sie den Menschen bewusst macht, was sie können oder nicht, was sie wollen oder nicht und sie dabei lernen zu lassen, wo ihre Entwicklungsmöglichkeiten sowie ihre Grenzen durch die Behinderung liegen. Durch Illusionen können sie keinen Stolz über das entwickeln, was sie können und somit kein Selbstbewusstsein aufbauen, weil ihnen ein Selbstwertgefühl fehlt.
- Unzureichende Kommunikationsmittel
Menschen mit Behinderung, die genau wissen was sie wollen und brauchen, können dies meistens nicht äußern. Dies liegt daran, dass ihre Kommunikationsmittel unzureichend ausgebildet sind.
- Gruppenleben
Ein Problem liegt darin definiert, dass Menschen mit Behinderung fast immer ihr ganzes Leben lang mit Personen zusammen sind, die sie unterstützen und ihnen helfen. Im Gruppenleben werden, damit die Arbeit für die Mitarbeiter leistbar ist, für alle gleiche Regeln eingeführt. Die dadurch entstehende kollektive Einheitlichkeit lässt kaum Raum für Individualität. Der kleine geringe Teil für jeden und die geteilte Zeit und Zuneigung von betreuenden und pflegenden Menschen mit anderen aus der Gruppe fällt nur unzureichend befriedigend aus.
Jeder Mensch kommuniziert deswegen, weil er mit seiner einmaligen Art und Weise zur Geltung kommt. Die Gründe, keine eigenen Bedürfnisse entwickelt zu haben, unzureichende Kommunikationsmittel und das Gruppenleben lassen Menschen mit Behinderung schneller als andere in eine soziale Abhängigkeit geraten, welches sie ein auffälliges Verhalten als Eigenart entwickeln lässt. Menschen mit Behinderung machen die Erfahrung und gelangen zur Überzeugung, dass sie somit zur Geltung kommen. Dieses Verhalten ist so zu interpretieren, dass die normale Kommunikation nicht ausreicht und auf ein solches Verhalten ausweicht.
Das Verhalten kann abgebaut werden, wenn versucht wird, eine normale Kommunikationsfähigkeit aufzubauen, und dass die Menschen mit Behinderung lernen, dass sie anders zur Geltung kommen können. Lernen Menschen nicht ohne Druck etwas erreichen zu können, verfestigt sich ihr Verhalten und kann sich bis zur Hilflosigkeit, Depression oder Autoaggression ausweiten. Bei der Lösung eines solchen Verhaltens stößt die aber Pädagogik an ihre Grenzen und aus diesem Grund eine Psychotherapie oder eine medizinische Behandlung notwendig.
Bei Menschen mit Behinderung ist es so, dass sie ihre Verhaltensauffälligkeiten aus dem direkten Zusammenhang mit ihrer Beeinträchtigung entwickeln. Aus den genannten Gründen sind sie mehr gefährdet, sich in der Art zu entwickeln. (Vgl. Klauß 1999, 210-213)
4 Leben im Heim
Schätzungsweise leben in der Bundesrepublik Deutschland etwas ca. 18.000 Erwachsene mit geistiger Behinderung in Wohnheimen. (Vgl. Klauß 1999, 231) Menschen mit Behinderung kommen durch verschiedene Aspekte ins Heim. Ein Grund sind die Zukunftsperspektiven, welche sich aus einer Behinderung ergeben können. Für die meisten Menschen mit Behinderung gilt, dass es unwahrscheinlich ist, dass sie irgendwann einmal:
- für ihren Lebensunterhalt selbst sorgen können, eine freie Berufswahl haben oder ihr Einkommen für Konsumgüter ausreichen wird;
- bestimmen können, wo sie gerne leben möchten;
- sich mobil mit Auto, öffentlichen Verkehrsmitteln in der Gesellschaft bewegen können;
- „normale“ menschliche Beziehungen eingehen können, ihre Sexualität ausleben können, sich fortpflanzen;
- ihre allgemeinen Rechte in der Gesellschaft ausüben können;
- über Menschen bestimmen, Macht ausüben können oder Verantwortung tragen;
- ohne wesentliche Hilfe von außen und Bevormundung ihr Leben verbringen zu können. (Vgl. Klauß; Wetz-Schönhagen 1993, 18f)
4.1 Die Notwendigkeit von Institutionen für Menschen mit Behinderung
Institutionen haben die Aufgaben Menschen mit Behinderung in allen Lebenslagen zu unterstützen. Menschen mit Behinderung können ihre Familie überfordern und deswegen sind Institutionen gesellschaftlich notwendig. Die Institutionen geben Hilfe, die Tatsache Behinderung zu bewältigen. (Vgl. ebd., 63) Denn es gilt eine
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