Die Aufwertung des Tastsinns in der Hierarchisierung der Sinne


Dossier / Travail, 2007

19 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Bedeutung des Tastsinns im Laufe der Zeit

3. Johann Gottfried Herder
3.1. Kritik an der optischen Wahrnehmung
3.2. Die Erkenntnis der Wahrheit durch den Tastsinn in Herders „Plastik“
3.3. Ist der Tastsinn unfehlbar in seiner Wahrnehmung?

4. Schlussbetrachtung

5. Quellenverzeichnis

1. Einleitung

„ […] Aber die Nächte hindurch hält Amor mich anders beschäftigt;

Werd ich auch halb nur gelehrt, bin ich doppelt beglückt.

Und belehr ich mich nicht, indem ich des lieblichen Busens

Formen spähe, die Hand leite die Hüften hinab?

Dann versteh ich den Marmor erst recht: ich denk und vergleiche,

Sehe mit fühlendem Aug, fühle mit sehender Hand. […]“[1]

Der Mensch muss Formen und Körper selbst erfahren indem er sie ertastet, um über sie sprechen zu können. Durch diese selbstertastenden Erfahrungen gewinnt er Erkenntnisse, bildet sich Urteile über die Welt und erkennt das Schöne. Mit fühlendem Auge sehen- mit diesem Vers wird deutlich, dass sich Goethe in dem Auszug aus seiner fünften der „Römischen Elegien“ auf Johann Gottfried Herder bezieht, denn der Ausspruch des fühlenden Auges kann als eine Art Leitmetapher seiner Ästhetik gesehen werden. Herder gelang es, die in der Geschichte der Philosophie oft vorgenommene Hierarchisierung der Sinne umzukehren. Er wertete den Tastsinn auf, der traditionell für nicht sonderlich wichtig und an letzter Stelle einer „Rangliste“ der Sinne gesehen wurde, es gelang ihm gar, ihn an die oberste Stelle zu setzen und ihm die größte Wichtigkeit für die Erkenntnis zuzuschreiben.

Im Rahmen des Hauptseminars „Hierarchie der Sinne“ des Wintersemesters 2006/2007 betrachtet die vorliegende Arbeit nun genauer die Aufwertung des Tastsinns mit besonderem Bezug auf Herders Erkenntnistheorie. Zu diesem Zwecke wird zunächst ein kurzer geschichtlicher Abriss zeigen, wie sich die Vorrangstellung des Auges in der Sinneshierarchie zugunsten des Tastsinnes verändert hat. Anschließend rückt Herders revolutionäre Theorie in den Mittelpunkt des Interesses, indem zunächst seine Kritik an der optischen Wahrnehmung dargestellt wird und darauf folgend die Erkenntnisleistung des Tastsinns betrachtet werden soll, die Herder in seinem Werk „Plastik“ verdeutlicht. Beendet wird der Gedankengang mit der Frage, ob der Tastsinn wirklich so unfehlbar ist, wobei ein kleiner Exkurs in die Naturwissenschaften unternommen wird.

2. Die Bedeutung des Tastsinns im Laufe der Zeit

Schon seit der Antike wird eine Hierarchisierung der Sinne vorgenommen. Das Auge nahm unter erkenntnistheoretischen Aspekten dabei immer die traditionelle Spitzenstellung ein, da die Erkenntnis als „distincio“, als Distanz von Subjekt und Objekt, verstanden wurde und stark von Geist, Logos, Vernunft und Begriff bestimmt war. Das Auge wurde dabei als das Sinnesorgan angesehen, welches zur Unterscheidung am fähigsten ist. Das Ohr nahm meistens den zweiten Rang ein und ihm wurde die Fähigkeit zur Erkenntnis ebenfalls zugeschrieben. Auf den Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn war nach Ansicht der früheren Philosophen wie Platon und Aristoteles wenig Verlass. Über sie wurde gesagt, dass sie selten etwas deutlich wahrnehmen und sie folglich nicht zur Erkenntnis fähig sind. So sah Aristoteles das Auge an erster, das Ohr und den Geruch an zweiter und dritter Stelle, den Geschmack und den Tastsinn jedoch als Schlusslichter in seiner Hierarchie der Sinne. Doch auch unter Betrachtung des Kriteriums der Lebenserhaltung und Fortpflanzung wurden die Sinne in ihrer Hierarchie bewertet. Unter diesem Aspekt stand nun der Tastsinn in Koexistenz mit dem Auge an oberster Stelle. Es wurde eine optisch- taktile Doppelhierarchie festgestellt, also eine Hierarchie des Auges in erkenntnistheoretischer kognitiver Hinsicht und eine Spitzenstellung des Tastsinns in Bezug auf den genetischen Gesichtspunkt.[2] So sah bereits Aristoteles in seinem Werk „De Anima“ den Tastsinn in Anbetracht der Lebenserhaltung als dem Auge übergeordnet. Er benannte ihn als genetisch primären Sinn, als den allgemeinen Sinn aller beseelten Lebewesen und als Basis allen Strebens und Begehrens. Diese Annahme einer Doppelhierarchie setzte sich bis zu Jacob Grimm fort, der behauptete, dass der Sinn des Auges etymologisch nachweisbar der edelste Sinn ist, da er eine direkte Verbindung zum Wissen hat, der Tastsinn aber unter genetischen Aspekten eine Vorrangstellung einnimmt.[3] Thomas von Aquin, auf den im Folgenden noch näher eingegangen wird, beschrieb das Zusammenspiel von Auge und Hand in Betrachtung der fleischlichen Liebe, wobei das Auge den Anreiz gibt und die Begierde auslöst, welcher durch den Tastsinn nachgegeben wird. Auch in der Dichtung wurde dieses erotische Zusammenspiel von Auge und Hand mehr als einmal aufgegriffen und gilt nach HEINZ SCHLAFFER sogar als gattungsspezifisches Merkmal erotischer Poesie.[4]

THOMAS VON AQUIN, ein bedeutender und wirkungsmächtiger Philosoph und Theologe des 13.Jahrhunderts, stellte eine Wahrnehmungstheorie auf, die Probleme aufwarf, welche bis hin zu Herder die Diskussionen um die Erkenntnis und Wahrnehmung bestimmen sollte.[5] Er unterschied zwischen primären und sekundären Qualitäten. Als primäre Qualitäten bezeichnete er die spezifischen Wahrnehmungsgegenstände für die einzelnen Sinne, also die Farbe, die durch die Augen wahrgenommen wird, die Drucknachgiebigkeit, welche der Tastsinn und den Ton, welchen das Ohr erfasst. Hinsichtlich dieser Qualitäten können sich die Sinne nicht täuschen. Anders verhält es sich mit den sekundären Qualitäten Zahl, Bewegung, Gestalt, Größe und Ruhe. Um sie zu erkennen, müssen die Sinne mehrere primäre Qualitäten verbinden. Außerdem unterscheidet Aquin noch zwischen den Qualitäten und ihrer Realisierung. So kann beispielsweise ein Gegenstand lauwarm oder heiß sein, kann also eine unterschiedliche Beschaffenheit haben, seine Qualität der Wärme bleibt jedoch gleich. Das, was die Sinne wahrnehmen, sind also auch nicht die Qualitäten an sich, die sie schon potentiell enthalten, also der Tastsinn beispielsweise Härte, Weichheit, Wärme, sondern lediglich ihre Realisierung im Vergleich zu anderen Realisierungen. So wird also ein weicher Gegenstand im Vergleich zu einem etwas härteren Gegenstand als sehr weich empfunden. Er sagt weiter, dass die Sinne nicht in der Lage sind, etwas Wesenhaftes zu erkennen. Sie nehmen nur akzidentiell wahr, schließen von etwas Wahrgenommenen auf etwas anderes, was den Sinnen nicht möglich ist, es aufzunehmen oder sie erfassen etwas mit, was früher einmal wahrgenommen wurde. Das Auge nahm auch bei Aquin die oberste Stelle in der Hierarchisierung der Sinne ein, denn es nimmt seiner Ansicht nach auf materiefreieste Weise wahr und erfasst mehr und wichtigere Unterschiede als der Tastsinn. Diesen sah er als, wie schon erwähnt, Erfüllung der sinnlichen Begierden an und sprach ihm im Gegensatz zum Auge Warmes, Kaltes, Feuchtes und Trockenes zu, was in ihm wohnt, aber auch die Fähigkeit, etwas außerhalb seiner selbst haptisch wahrzunehmen.

Ausschlaggebend für die veränderte Bewertung von Seh- und Tastsinn unter

kognitionstheoretischen Aspekten war die Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Der Diskurs in Hinblick auf Wahrnehmung und Erkenntnis führte dazu, dass der Tastsinn dem Auge ernstzunehmend den Rang als höchsten und edelsten Sinn strittig machte. Durch die cartesianische Orientierung der Erkenntnis auf die res extensa, auf die Körperwelt, entstand ein neuer, ganzheitlicher Erkenntnisbegriff. Im Gegensatz zum platonischen Erkennen der Ideen durch das Licht rückte nun die mechanisch verstandene Welt der Körper in den Mittelpunkt des Interesses und damit auch die Erkenntnisfähigkeit des Tastsinnes.[6]

Eine entscheidende Rolle in der Diskussion der Aufklärung spielte John Locke, welcher nur die Sinnesempfindungen und die Selbstwahrnehmung als Quellen der Erfahrung ansah. Seiner Ansicht nach ist allein der Tastsinn in der Lage dazu, die dreidimensionale Qualität eines Körpers wahrzunehmen, welche er als primäre Sinnesqualität signifizierte. Nur ihm ist es möglich, die Kohärenz, den Zusammenhang der Teile zu erkennen, die Ausdehnung und Gestalt nimmt er jedoch zusammen mit dem Auge wahr.[7] Seine Gedanken bildeten den Ausgangspunkt der im 18. Jahrhundert vertretenen Sensualphilosophie beziehungsweise des Empirismus. Viele Philosophen wie beispielsweise BERKELEY und HUME griffen Lockes sensualistischen Ansatz auf und gingen davon aus, dass nur durch die Sinneswahrnehmung Erkenntnis erlangt werden kann.[8] CONDILLAC, der Begründer des französischen Sensualismus, hatte es sich zum Ziel gemacht zu zeigen, dass die Sinne, aber besonders der Tastsinn, alle Erkenntnisse hervorbringen. Dabei greift er auf das Pygmalion- Motiv[9], das Bild einer lebendig werdenden Elfenbeinstatue zurück, der nach und nach die einzelnen Sinne verliehen werden. Erst als sie mit dem letzten Sinn des Tastens ausgestattet ist, ist sie dazu fähig, ganzheitlich wahrzunehmen. Davon leitet Condillac ab, dass zur erkennenden Wahrnehmung alle Sinne zusammenkommen und unter Anleitung des Tastsinns die Sinneseindrücke aufnehmen müssen.[10] Ausschlaggebend dafür, dass im Sensualismus besonders der Tastsinn hervorgehoben wurde und das Auge in seiner Unfehlbarkeit in Frage gestellt wurde, war ein Brief von dem Philosophen MOLYNEUX an Locke, in dem er die Frage in den Raum stellte, ob ein Mensch, der blind geboren wurde und später operiert wird, nur mit Hilfe seiner nun sehenden Augen einen Würfel von einer Kugel unterscheiden könnte. DIDEROT beantwortete diese Frage in seinen „Lettre sur les aveugles à l'usage de ceux qui voient“[11], indem er den Bericht des Chirurgen William Chelsden, dem es gelang, den blinden Mathematiker Saunderson operativ das Augenlicht zu schenken, aufgriff. Der Arzt berichtete, dass der Mann kurz nach der Operation weder die Größe von Gegenständen einschätzen, noch Formen unterscheiden oder perspektivisch sehen konnte. Auch dies mache sich Condillac zu Nutze, um die Überlegenheit des Tastsinns zu beweisen.[12]

[...]


[1] Auszug aus Goethes fünfter seiner „Römischen Elegien“ in: Conrady (2000): S. 285

[2] vgl. Naumann-Beyer(2003): S. 206ff.

[3] ebd. S. 206

[4] vgl. Naumann-Beyer (2003): S. 208

[5] vgl. Zeuch (2000): S. 66ff.

[6] vgl. Naumann-Beyer (2003): S. 211

[7] ebd. S. 210

[8] vgl. Jütte (2000): S. 141

[9] in der Philosophie und beispielsweise auch oft in der Literatur wurde dieser Mythos von dem Bildhauer Pygmalion, der sich in eine von ihm geschaffene Statue verliebte und Aphrodite darum bat, sie zum Leben zu erwecken, aufgegriffen. So schildert sie Ovid beispielsweise in seinem Werk „Metamorphosen“ sehr eingehend, der Dramatiker George Bernhard Shaw inszenierte den Mythos sogar in einem Schauspiel („Pygmalion“).

[10] vgl. Jütte (2000): S. 144f.

[11] 1749 anonym veröffentlicht

[12] vgl. Jütte (2000): S. 148

Fin de l'extrait de 19 pages

Résumé des informations

Titre
Die Aufwertung des Tastsinns in der Hierarchisierung der Sinne
Université
Ernst Moritz Arndt University of Greifswald
Note
1,0
Auteur
Année
2007
Pages
19
N° de catalogue
V76472
ISBN (ebook)
9783638818841
ISBN (Livre)
9783638836258
Taille d'un fichier
437 KB
Langue
allemand
Annotations
Die Arbeit beschäftigt sich mit der Hierarchisierung der Sinne mit besonderem Blick auf Johann Gottfried Herder, der die traditionelle Hierarchisierung umwarf und statt des Auges als erstem Wahrnehmungsorgan den Tastsinn an die Spitze setzte.
Mots clés
Aufwertung, Tastsinns, Hierarchisierung, Sinne
Citation du texte
Juliane Kittelmann (Auteur), 2007, Die Aufwertung des Tastsinns in der Hierarchisierung der Sinne, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/76472

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