In dieser Ausarbeitung wird die Entwicklung der Mutter-Kind-Beziehung (Bindung) unter
Berücksichtigung der Polytoxikomanie (Mehrfachabhängigkeit) der Mutter in einer (teil-)stationären Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe/Drogenhilfe untersucht.
"Kinder von Suchtkranken gelten als die übersehene Gruppe im familiären Umfeld der Sucht." Die Forschungen zum Thema "Kinder drogenabhängiger Eltern" zeigen, dass der elterliche Konsum von Drogen einen großen negativen Einfluss auf die psychosoziale Entwicklung der eigenen Kinder haben kann: Fehlen der notwendigen körperlichen Versorgung und Zuwendung, Verzögerung der sozio-emotionalen und kognitiven Entwicklung.
Gerade im Bereich der Abhängigkeit der Eltern von Drogen (Heroin, Kokain, Marihuana u.a.) können die Schäden für das Kind massiv sein:
1. Die Kinder sind häufig Trennungen ausgesetzt und wachsen vorrangig bei nur einem Elternteil, in der Regel bei der Mutter, auf.
2. Die häufig durch die Drogenabhängigkeit bedingten Frühgeburten können zu verstärkten Beziehungsproblemen zwischen Mutter und Kind führen. Die Kinder weisen oft ein problematisches Temperament auf, was die Erziehungsprobleme der Eltern/des Elternteils verstärkt und zu Überforderungsgefühlen führen kann.
3. Die Kinder sind oft gerade in den frühen Lebensjahren von der Drogenabhängigkeit der Eltern/des Elternteils betroffen, so dass hier verstärkt Entwicklungsdefizite auftreten können.
4. Die Kinder von drogenabhängigen Eltern erleben in der Regel eine starke soziale Isolation und Stigmatisierung, lernen dadurch weniger sozial förderliche Verhaltensweisen und haben dadurch ein instabileres Selbstwertgefühl.
5. Die Kinder erleben oft traumatische Situationen, die aus der Beschaffungskriminalität der Drogenabhängigkeit der Eltern resultieren (z.B. Prostitution, Inhaftierung).
Im Folgenden werden Forschungsergebnisse zu dem Elternverhalten von drogenabhängigen Müttern kurz skizziert. [...]
Inhalt
Einleitung
1 Basisinformationen zu Sucht, Abhängigkeit und Drogen
1.1 Definitionen und Kriterien
1.1.1 Drogen
1.1.2 Sucht und Abhängigkeit
1.1.3 Diagnostische Kriterien für Substanzkonsum (ICD-10, DSM-IV)
1.2 Drogen und ihre Wirkung
1.2.1 Legale Drogen
1.2.2 Illegale Drogen
1.3 Entwicklung von Sucht und Abhängigkeit
1.3.1 Suchtentwicklung
1.3.2 Vom Genuss zur Abhängigkeit
1.4 Der Weg aus der Sucht
2 Entwicklungspsychologische Aspekte
2.1 Entwicklungsaufgaben nach Havighurst und Erikson
2.2 Kognitive Entwicklung nach Piaget
2.2.1 Sensumotorisches Stadium (1. und 2. Lebensjahr)
2.2.2 Präoperatives Stadium (2. bis 7. Lebensjahr)
2.3 Die Entwicklung von Beziehungen und Bindung nach Bowlby und Ainsworth
2.3.1 Bindung/Bindungsverhalten nach Bowlby
2.3.2 Bindungsarten nach Ainsworth
2.3.3 Phasen der Entwicklung der Mutter-Kind-Bindung nach Ainsworth
2.4 Entwicklungsrisiken/Risikofaktoren
2.4.1 Teratogene
2.4.2 Genetisch bedingte Risikofaktoren
2.4.3 Soziale Risikofaktoren
2.4.4 Die Bedeutung von psychosozialen Risikofaktoren im Säuglings- und Kleinkindalter
3 Frauen, Kinder und Sucht
3.1 Kinder von suchtmittelkranken Eltern
3.2 Drogen und Schwangerschaft – Wirkungen von Drogen auf das ungeborene Kind
3.2.1 Tabak/Nikotin
3.2.2 Alkohol
3.2.3 Illegale Drogen
3.3 Süchtig geboren – Neugeborene von heroinabhängigen Müttern
3.4 Drogen und Erziehung – Auswirkungen des Drogenkonsums auf das Kind und die Familie
3.4.1 Zerrissen zwischen den Eltern
3.4.2 Gewalt und Grenzüberschreitungen
3.4.3 Regeln in der Familie
3.4.4 Die „Rolle“ als Strategie zum Überleben
3.5 Die Charakterisierung von Interaktionsmustern in Suchtfamilien durch Rollenmodelle
3.5.1 Das Rollenmodell nach Wegschneider
3.5.2 Die Bedeutung der Rollen für die psychische Entwicklung von Kindern
3.5.3 Auswirkung der Rollencharakterisierungen für das Familiesystem
3.6 Frauenspezifische Suchtarbeit im Drogenhilfesystem
3.6.1 Warum frauenspezifische Drogenarbeit?
3.6.2 Drogenberatungsstelle Bella Donna
4 Gemeinsame Wohnform für suchtmittelabhängige Mütter (Väter) und deren Kinder (Kinder- und Familienhilfe) – Suchthilfeverbund Bornheim/Bonn, Mutter-Kind-Einrichtung (Vater-Kind)
4.1 Gesetzliche Grundlage
4.2 Zielgruppe
4.3 Aufnahmesituationen
4.4 Ziele
4.5 Lage und Räumlichkeiten
4.6 Personalschlüssel und Mitarbeiterqualifikation
4.7 Grundleistungen
4.7.1 Stabilisierungsphase: Alltagspädagogische Hilfen für das Kind
4.7.2 Stabilisierungsphase: Frühförderung der Kinder
4.7.3 Stabilisierungsphase: Förderung der Mutter-Kind-Beziehung
5 Untersuchungsverlauf, Untersuchungsergebnisse
5.1 Vorbereitung, Hypothese/Fragestellung
5.2 Durchführung der Erhebung
5.2.1 Ziel der Untersuchung
5.2.2 Datenerhebung (Methode)
5.2.3 Befragungsablauf und -zeitraum
5.2.4 Beschreibung der Untersuchungsgruppen
5.3 Auswertung der Erhebung
5.3.1 Vorstellung der InterviewpartnerInnen (Bewohnerinnen)
5.3.2 Situation und Atmosphäre während der Interviews
5.3.3 Auswertung der Fragebögen
5.4 Auswertung der Befragungsergebnisse im Hinblick auf die Hypothese/Fragestellung der Untersuchung
6 Mögliche Konsequenzen für die Praxis
7 Schlussbetrachtung
Literatur
Internetquellen
Sekundärliteratur
Grundlagenliteratur für die Erstellung der Fragebögen
Abbildungen
Tabellen
Anhang
Anhang I
Anhang II
Anhang III
Einleitung
In dieser Ausarbeitung wird die Entwicklung der Mutter-Kind-Beziehung (Bindung) unter Berücksichtigung der Polytoxikomanie (Mehrfach-abhängigkeit) der Mutter in einer (teil-)stationären Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe/Drogenhilfe untersucht.
„Kinder von Suchtkranken gelten als die übersehene Gruppe im familiären Umfeld der Sucht. ...“[1] Die Forschungen zum Thema „Kinder drogenabhänger Eltern“ zeigen, dass der elterliche Konsum von Drogen einen großen negativen Einfluss auf die psychosoziale Entwicklung der eigenen Kinder haben kann: Fehlen der notwendigen körperlichen Versorgung und Zuwendung, Verzögerung der sozio-emotionalen und kognitiven Entwicklung[2].
Gerade im Bereich der Abhängigkeit der Eltern von Drogen (Heroin, Kokain, Marihuana u. a.) können die Schäden für das Kind massiv sein:
1. Die Kinder sind häufig Trennungen ausgesetzt und wachsen vorrangig bei nur einem Elternteil, in der Regel bei der Mutter, auf.
2. Die häufig durch die Drogenabhängigkeit bedingten Frühgeburten können zu verstärkten Beziehungsproblemen zwischen Mutter und Kind führen. Die Kinder weisen oft ein problematisches Temperament auf, was die Erziehungsprobleme der Eltern/des Elternteils verstärkt und zu Überforderungsgefühlen führen kann.
3. Die Kinder sind oft gerade in den frühen Lebensjahren von der Drogenabhängigkeit der Eltern/des Elternteils betroffen, so dass hier verstärkt Entwicklungsdefizite auftreten können.
4. Die Kinder von drogenabhängigen Eltern erleben in der Regel eine starke soziale Isolation und Stigmatisierung, lernen dadurch weniger sozial förderliche Verhaltensweisen und haben dadurch ein instabileres Selbstwertgefühl.
5. Die Kinder erleben oft traumatische Situationen, die aus der Beschaffungskriminalität der Drogenabhängigkeit der Eltern resultieren (z. B. Prostitution, Inhaftierung).
Im Folgenden werden Forschungsergebnisse zu dem Elternverhalten von drogenabhängigen Müttern kurz skizziert:
Es zeigen sich keine Unterschiede in den erzieherischen Einstellungen und Erwartungen von drogenabhängigen Müttern an das Kind, aber drogenabhängige Frauen sind oft der Meinung, dass sie ungeeignete Mütter seien und machen sich mehr Sorgen über die Entwicklung des Kindes (mögliche Drogenabhängigkeit, dissoziales Verhalten)( Colten 1980).
Drogenabhängige Mütter isolieren sich mehr als andere Mütter von der sozialen Umwelt, versuchen Fremdeinflüsse von ihren Kindern fernzuhalten und sie zu kontrollieren (Wellisch & Steinberg 1980).
Verhalten bei Mutter-Kind-Aktionen (Mütter mit Methadonsubstitution): mehr Kommandieren, Provozieren und Drohen (Bauman & Dougherty 1983).
Drogenabhängige Mütter führen häufiger als andere Mütter harte verbale Verhaltensweisen gegenüber ihrem Kind aus (Kind anschreien und tadeln) (Hogan 1998).
Heroinabhängige Mütter haben Probleme beim Setzen und Ziehen von Grenzen (Arnold & Steier 1997).
Die durch Forschungen belegten häufig vorkommenden Unsicherheiten und Defizite im Beziehungs- und Erziehungsverhalten der Mutter-Kind-Beziehung bei suchtmittelabhängigen Müttern decken sich mit der oft in der Gesellschaft bestehenden Ansicht, dass drogenabhängige Frauen keine Kinder bekommen sollten, da diese Kinder keine wirkliche Zukunft haben, weil die Mütter nicht in der Lage sind, die Kinder großzuziehen[3].
Dies ist Grundlage für die Entwicklung der Hypothese und Fragestellung, die dieser Ausarbeitung zugrunde liegt:
Hypothese:
Mütter, die psychotrope Substanzen konsumieren,
- und ihre Kinder sind häufig Trennungen ausgesetzt (z. B. durch wechselnde Partner, Therapie, Pflegefamilie)
und
- sind nicht in der Lage, ihren Kindern den notwendigen Halt und die erforderliche Geborgenheit zu geben,
so dass sich ein gegenseitiges instabiles und unsicheres Bindungs- und Beziehungsverhalten ergibt.
Fragestellung:
Können mehrfachabhängige Mütter eine sichere, konstante und stabile Beziehung zu ihrem Kind (ihren Kindern) aufbauen? Können umgekehrt die Kinder eine gute und stabile Bindung zu ihrer drogenabhängigen Mutter entwickeln?
Berücksichtigung bei dieser Untersuchung soll die Einbindung der (teil-) stationären Mutter(Vater)-Kind-Einrichtung Bonn bzw. Alfter finden (Nachsorge), die im Rahmen der Kinder- und Familienhilfe des Suchthilfeverbundes Bornheim/Bonn seit 2003 besteht.
Ziel der vorliegenden Ausarbeitung ist es, zum einen das Bindungs- und Beziehungsverhalten zwischen suchtmittelabhängigen Müttern und ihren Kindern und auf der anderen Seite die Möglichkeiten und Effizienz der o. g. Einrichtung im Hinblick auf die Einwirkung auf die Mutter-Kind-Beziehung zu ermitteln.
Der erste Abschnitt der Ausarbeitung „Informationen zu Sucht, Abhängigkeit und Drogen“ bezieht sich auf die Entstehung von Sucht und Abhängigkeit und gibt Informationen darüber, wie bestimmte Substanzen (Drogen) wirken.
Im zweiten Abschnitt „Entwicklungspsychologische Aspekte“ werden entwicklungspsychologische Erkenntnisse und Ergebnisse beschrieben und erläutert (Entwicklungsaufgaben, Bindungsverhalten und –arten u. a.). Da es sich bei den Kindern, die in der Mutter-Kind-Einrichtung leben, überwiegend um Säuglinge bzw. Kleinkinder handelt, werden hier nur die entwicklungspsychologischen Daten in dieser Altersstufe berücksichtigt.
Der dritte Abschnitt „Frauen, Kinder und Sucht“ bezieht sich auf die Kinder von drogenabhängigen Eltern, die Auswirkungen von psychotropen Substanzen auf das Kind (Schwangerschaft, nach der Geburt/Erziehung). Des Weiteren befasst sich dieser Abschnitt mit der Charakterisierung von Interaktionsmustern in Suchtfamilien durch Rollenmodelle und der Notwendigkeit für eine frauenspezifische Drogenarbeit.
Im weiteren Verlauf wird in Abschnitt 4 die „ Gemeinsame Wohnform für suchtmittelabhängige Mütter (Väter) und deren Kinder (Kinder- und Familienhilfe)“ des Suchthilfeverbundes Bornheim/Bonn vorgestellt (Mutter-Vater-Kind-Einrichtung): Rechtsgrundlage, Ziele, Leistungen u. a.
Abschnitt 5 „Untersuchungsverlauf, Untersuchungsergebnisse“ bezieht sich auf die Entwicklung und Durchführung der Erhebung und gibt im Detail die Ergebnisse der Befragungen – auch im Hinblick auf die Hypothese - wieder.
Basierend auf den Ergebnissen aus dem vorherigen Abschnitt werden in Abschnitt 6 mögliche Folgen für die Praxis aufgezeigt und erläutert: „Mögliche Konsequenzen für die Praxis“.
1 Basisinformationen zu Sucht, Abhängigkeit und Drogen
1.1 Definitionen und Kriterien
1.1.1 Drogen
Im heutigen alltäglichen Sprachgebrauch ist der Begriff „Droge/n“ negativ behaftet und ein Synonym für Rauschgifte, Juristen sprechen von Betäubungsmitteln. Der Begriff „Droge“ wird im Duden 7 – Herkunftswörterbuch - wie folgt definiert: „Das Wort wurde Ende des 16. Jh.s in der Bedeutung ‚(tierischer und pflanzlicher)’ Rohstoff aus gleichbed. frz. drogue entlehnt (...) Im 20. Jh. wird ‚Droge’ auch im Sinne von ‚medizinisches Präparat’ und ‚Rauschgift’ gebraucht.“
Diese Definition grenzt den Begriff nicht klar ab. Grundsätzlich kann man sagen, dass Drogen eine berauschende und zum Teil auch bewusstseinsverändernde Wirkung haben und ggf. zu einer veränderten Selbstwahrnehmung führen[4].
1.1.2 Sucht und Abhängigkeit
Sucht beschreibt das zwanghafte Verlangen nach einem bestimmten Mittel oder einer bestimmten Verhaltensweise. Sucht ist das Verlangen, dieses eine Mittel immer wieder zu sich zu nehmen (substanzgebunden) oder diese eine Verhaltensweise (substanzungebunden) immer wieder auszuführen, um ein bestimmtes Wohlgefühl zu erlangen und/oder Unlustgefühle zu vermeiden[5]. Werden die seelischen und auch sozialen Begleit- und Folgeerscheinungen mit berücksichtigt, dann spricht man von Abhängigkeit (Weltgesundheitsorganisation WHO 1965)[6].
Der Begriff Sucht hat eine Doppelbedeutung: Krankheit (z. B. Gelbsucht) und (im allgemeinen Sprachgebrauch) Laster, z. B. Habsucht. Es ist ein unscharfer Begriff, denn süchtig werden kann jeder[7]. Sucht beschränkt sich nicht nur auf den Umgang mit bestimmten Stoffen, jede Form von menschlichem Verhalten kann zur Sucht werden (z. B. sexuelle Perversionen). Aus diesem Grund wurde der Begriff Sucht von der WHO (s. erster Absatz) durch den Begriff der Abhängigkeit ersetzt.
Weitere Ausführungen hierzu sind im Abschnitt 1.3.2 „Vom Genuss zur Abhängigkeit“ dargestellt.
1.1.3 Diagnostische Kriterien für Substanzkonsum (ICD-10, DSM-IV)
Anerkannte psychische Störungen – so auch der Konsum von psychotropen Substanzen - sind in den Ordnungssystemen DSM-IV und ICD-10 erfasst[8]:
DSM steht für Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders und ist die Klassifikation der American Psychiatric Association (APA, 1994, Berufsverband amerikanischer Psychiater). Das DSM ist die Standardisierung der Kriterien für die Diagnose von sämtlichen psychischen Störungen.
ICD ist die Abkürzung für International Classification of Diseases und wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelt. Das ICD ist als Internationale Klassifikation von Erkrankungen weltweit für alle Gesundheitsberufe verbindlich und erleichtert als Standard die Kommunikation zwischen Kliniken und Ärzten.
Nach DSM-IV werden grundsätzlich zwei Kategorien von Substanzkonsum unterschieden:
- Substanzmissbrauch und
- Substanzabhängigkeit[9].
Substanzmissbrauch ist weniger stark als die Abhängigkeit und wird diagnostiziert, wenn – bezogen auf einen Zeitraum von 12 Monaten – eins der folgenden Merkmale als Folge von wiederholtem Drogenkonsum vorliegt:
- Versagen bei der Erfüllung von wichtigen Verpflichtungen (z.B. Fernbleiben vom Arbeitsplatz)
- Körperliche Gefährdung durch Substanzkonsum, z.B. Autofahren unter Drogeneinfluss
- Konfrontation mit dem Gesetz (Verkehrsdelikte u.a.)
- fortgesetzte soziale und/oder zwischenmenschliche Probleme
Substanzabhängigkeit liegt vor, wenn – bezogen auf einen Zeitraum von 12 Monaten – mindestens drei der folgenden Merkmale vorliegen:
- Toleranzentwicklung (Verlangen nach Dosissteigerung, um den gewünschten Effekt zu erzielen oder deutlich verminderte Wirkung bei gleicher Dosis)
- Entzugssymptome (negative physische und psychische Wirkung bei Konsumunterbrechung oder verminderter Menge)
- Substanzeinnahme in größeren Mengen oder länger als beabsichtigt
- Erfolglose Versuche, den Substanzkonsum zu verringern
- Großer Zeitaufwand für die Substanzbeschaffung oder die Erholung von der Substanzwirkung
- Unverminderter Substanzkonsum trotz Wissen über seelische und körperliche Probleme, die durch die Substanz hervorgerufen oder verstärkt werden können
- Einschränkung bzw. Aufgabe von sozialen und beruflichen Aktivitäten aufgrund des Konsums
Im Rahmen der psychischen Erkrankungen hat sich die Internationale Klassifikation ICD an die bewährte Klassifikation des DSM angenähert und wesentliche Teile übernommen[10]:
“Schädlicher Gebrauch“
Konsummuster psychotroper Substanzen, das zu Gesundheitsschädigung (körperlich oder psychisch) führt
Diagnostische Leitlinien
- Diagnose erfordert tatsächliche Schädigung des Konsumenten, negative soziale Folgen oder akute Intoxikationen bzw. „Kater“ genügen nicht
- Ist nicht zu diagnostizieren bei Abhängigkeitssyndrom ..., psychotischer Störung ... oder anderen alkoholbedingten Störungen
Abhängigkeitssyndrom
Gruppe körperlicher, verhaltens- und kognitiver Phänomene, bei denen der Konsum einer Substanz(klasse) Vorrang gegenüber anderen früheren präferierten Verhaltensweisen hat; starker, gelegentlich übermächtiger Wunsch nach Konsum psychotroper Substanzen; evtl. schnellerer Rückfall nach Abstinenzphase als bei Nichtabhängigkeit
Diagnostische Leitlinien:
gleichzeitiges Vorliegen von ≥ 3 Kriterien in den letzten Jahren:
- starker Wunsch/Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren
- verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich Beginn, Beendigung und Menge des Konsums
- körperliches Entzugssyndrom nach Beendigung/Reduktion
- Nachweis einer Toleranz
- fortschreitende Vernachlässigung anderer Interessen und zunehmender Zeitaufwand zugunsten des Konsums
- anhaltender Konsum trotz eindeutiger schädlicher Folgen“
1.2 Drogen und ihre Wirkung
1.2.1 Legale Drogen
1.2.1.1 Alkohol
Alkohol hat als Nahrungs-, Genuss- und Rauschmittel eine jahrtausendalte Tradition. Alkohol (Äthanol, Äthylalkohol) ist eine klare, farblose Flüssigkeit, die durch die Vergärung von Zucker entsteht[11]. Als Grundstoffe für die Gewinnung von Alkohol können alle zuckerhaltigen Nahrungsmittel verwendet werden (z. B. Weintrauben – Wein). Der Konsum von Alkohol kann eine psychische und physische Abhängigkeit erzeugen.
Die Wirkung von Alkohol ist abhängig von der Menge, der Alkoholkonzentration und der individuellen körperlichen und seelischen Verfassung der konsumierenden Person: anregend, stimmungssteigernd, Abbau von Ängsten und Hemmungen, erhöhte Kommunikationsbereitschaft; Gereiztheit, Aggression, Gewalt; Wahrnehmungsstörungen, verminderte Aufmerksamkeit und Sprach- und Koordinationsfähigkeit.
Chronischer Alkoholkonsum kann zu körperlichen, psychischen und sozialen Folgestörungen führen: Zell- und Organschädigungen (Leber, Herz, Muskulatur), erhöhtes Krebsrisiko (Mund, Speiseröhre), Krampfanfälle durch Veränderungen im Nervensystem, Bewusstseinsstörung; Stimmungsschwankungen, Angstzustände, Depressionen; Beziehungen gehen auseinander, Arbeitsplatzverlust, soziale Konflikte. Besonders betroffen von den sozialen Folgen des Alkoholkonsums sind die Kinder von alkoholkranken Personen. Wird Alkohol während der Schwangerschaft konsumiert, kann es zu schweren Schädigungen des ungeborenen Kindes kommen. Hierzu finden sich weitere Ausarbeitungen im Abschnitt 4.
1.2.1.2 Medikamente
Es werden folgende Arzneimittelgruppen unterschieden[12]:
- Beruhigungs- und Schlafmittel (Tranquilizer, Sedativa)
- Anregungs- und Aufputschmittel (Weckamine)
- Schmerzmittel
Schlaf- und Beruhigungsmittel werden meist bei innerer Unruhe oder bei krankhaften Erregungszuständen eingenommen[13]. Sie wirken angstlösend und beruhigend und dienen oft der Stressbewältigung. Durch die Einnahme von Tranquilizern kann es zu leichtsinnigen Verhaltensweisen (z. B. im Straßenverkehr) kommen.
Schlaf- und Beruhigungsmittel führen in kurzer Zeit zu einer seelischen Abhängigkeit. Beim Absetzen des Mittels kommt es zu Entzugserscheinungen wie z. B. Kopfschmerzen, Gereiztheit, Unruhe und Angst. Mit erneuter Einnahme des Medikamentes gehen die Beschwerden zurück, eine Dosissteigerung ist meist nicht erforderlich. Darüber hinaus können Schlaf- und Beruhigungsmittel vom Körper nur langsam abgebaut werden, es dauert ca. drei Wochen ab der letzten Einnahme, bis das Medikament nicht mehr im Körper nachgewiesen werden kann. Das führt dazu, dass z. B. bei täglicher Einnahme eine neue Dosis zur Restdosis vom Vortag hinzukommt und der Arzneimittelspiegel immer weiter steigt.
In vielen Fällen kommt es zu einer Kombinationseinnahme mit Anregungs- und Aufputschmitteln[14]: Nach einem künstlich erzeugten Schlaf mit Tabletten ist der Organismus am nächsten Morgen oft müde und schlapp, viele greifen dann zu den so genannten Weckaminen, um wieder in Schwung zu kommen – am Abend nimmt man dann wieder ein Schlaf- oder Beruhigungsmittel, um zur Ruhe zu kommen (Teufelskreis, Weckamin-Schlafmittel-Sucht).
Die Einnahme von Aufputschmitteln führt zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit, einem verminderten Schlafbedürfnis, einem gehemmten Appetit und zu einer Steigerung des Selbstwertgefühls.
Schmerzmittel senken das Schmerzempfinden (Basis: Opiate, s. auch Abschnitt 1.2.2.1 Heroin). „Der gelegentliche Einsatz von Schmerzmitteln ist ungefährlich. Bedenklich ist der ständige Gebrauch dieser Medikamente. Es ist bekannt, dass Menschen mit seelischen Problemen oder erheblicher Stressbelastung auch geringe Schmerzen als besonders intensiv empfinden. Der Griff zur Tablette schafft schnelle Abhilfe. Nach längerem, regelmäßigem Gebrauch entsteht eine seelische Abhängigkeit. Eine körperliche Abhängigkeit – wie bei einigen Rauschgiften – existiert bei den Schmerzmitteln ohne Zusatzstoffe nicht. Aber bei Verzicht auf die Einnahme nach längerem Missbrauch entwickeln sich bei den meisten Patienten sehr starke Kopfschmerzen. Die Versuchung, wieder neu anzufangen, ist dann sehr groß.“[15]
1.2.2 Illegale Drogen
1.2.2.1 Heroin
Heroin wird über chemische Prozesse aus dem Rohopium (Milchsaft) des Schlafmohns (Papaver somniferum L.) gewonnen[16]. Es handelt sich um ein Pulver, das betäubend und euphorisierend zugleich wirkt. Heroin gehört zur Gruppe der Opiate und Opioide und ist ein Derivat des Morphins. Es erzeugt sowohl eine psychische als auch eine physische Abhängigkeit und kann intravenös injiziert oder auf Folie geraucht werden.
Heroin hat eine beruhigende und entspannende Wirkung, das Schmerzempfinden wird gemindert. Gleichzeitig wirkt es bewusstseinsmindernd und stark euphorisierend. Die geistige Aktivität wird gedämpft und Angstgefühle beseitigt. Die konsumierende Person fühlt sich glücklich und zufrieden, Belastungen des Alltags und Konflikte werden nicht mehr als solche wahrgenommen.
Regelmäßig anhaltender Konsum von Heroin führt zu starken körperlichen und sozialen Folgestörungen: körperlicher Verfall, Schädigung von inneren Organen (Leber, Magen, Darm), Gebissveränderungen (Karies, Zahnausfall durch das verminderte Schmerzempfinden), Erkrankung der Atemorgane (insbesondere Lunge), lokale Infektionen durch den intravenösen Gebrauch; Veränderungen in der Persönlichkeit (Beschaffungskriminalität, Prostitution), Verwahrlosung.
Die Auswirkungen von Heroin auf das Umfeld, besonders im Hinblick auf die Kinder von opiatabhängigen Eltern, werden im Abschnitt 4 weiter erläutert.
1.2.2.2 Kokain
Kokain ist ein kristallartiges Pulver und wird aus den Blättern des Coca-Strauches (Erythroxylon coca, Südamerika) gewonnen wird[17]. Es kann geschnupft, injiziert oder auch geraucht werden. Kokainkonsum verursacht eine starke psychische Abhängigkeit.
„Kokain wirkt in pharmakologischer Hinsicht auf dreierlei Weise: Es stimuliert sehr stark die Psyche, hat einen wirksamen lokal betäubenden Effekt und verengt die Blutgefäße.“ (Deutsche Hauptstelle für Suchtgefahren, Broschüre Kokain)
Kokain ist bekannt als Leistungsdroge und wirkt auf das zentrale Nervensystem. Nach der Einnahme kommt es zu einer Leistungssteigerung, die körperliche Belastbarkeit wird erhöht. Kokain dämpft das Hungergefühl und vermindert das Schlafgefühl, euphorische Gefühle werden ausgelöst. Darüber hinaus bewirkt der Konsum eine Lust- und Potenzsteigerung.
Die durch Kokain hervorgerufenen Rauschzustände verlaufen in der Regel in drei Phasen ab: a) Euphorisches Stadium (gesteigerter Antrieb, erhöhtes Selbstbewusstsein), b) Rauschstadium (Halluzinationen, paranoide Stimmung), c) Depressives Stadium (Antriebslosigkeit, Erschöpfung, Angstzustände).
Regelmäßiger Kokainkonsum kann mittel- bis langfristig schwere körperliche, psychische und soziale Veränderungen zur Folge haben: Schwächung der körperlichen Widerstandskraft, Gewichtsverlust, Schädigung von Blutgefäßen und inneren Organen; Verstimmungen, Schlafstörungen, Angst, Depressionen, Antriebs- und Konzentrationsstörungen, erhöhte Reizbarkeit, Aggressivität; Persönlichkeitsveränderungen (antisoziales Verhalten, innere Unruhe).
Der Konsum von Kokain während der Schwangerschaft kann beim Fötus zu Reifungs- und Wachstumsstörungen (Fehlentwicklungen von Gehirn und inneren Organen) führen oder sogar eine Früh- oder Totgeburt zur Folge haben.
1.3 Entwicklung von Sucht und Abhängigkeit
1.3.1 Suchtentwicklung
Die Entwicklung von Sucht bzw. Drogenabhängigkeit lässt sich nicht auf eine Ursache zurückführen, es ist ein Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren[18]. Je nachdem, ob die vorliegenden Faktoren positiv oder negativ ausgeprägt sind (z. B. starkes und schwaches Selbstwertgefühl), können sie Schutz vor bzw. Risiko für eine Suchtentwicklung sein.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Faktoren der Suchtentwicklung nach Wille 1994
Die Suchtentwicklung ist nach R. Wille (1994) durch folgende Stadien gekennzeichnet (s. hierzu auch Abschnitt 2.3.3 „Vom Genuss zur Abhängigkeit“):
1. Euphorisches Anfangsstadium
Person: Entlastung von Problemen, Entspannung/Betäubung, gesteigertes Selbstwertgefühl, Euphorie, Bewusstseinserweiterung, Konfliktvermeidung
Umwelt: Gemeinschaftsgefühl, Zugang zu einer Drogen-Clique, Anerkennung, Statusgewinn
Droge: leichte Verfügbarkeit, Unterschätzung der negativen Drogen-wirkungen, Konsum auf Abende und Freizeit beschränkt
2. Kritisches Gewöhnungsstadium
Person: Verleugnung von Problemen und Projektion nach außen (Externalisierung), Konzentrationsstörungen, Schmerz bzw. Frustrationstoleranz nimmt ab
Umwelt: Konflikte in Schule und Beruf durch verminderte Leistungsfähigkeit, Kontaktkonzentration auf andere Drogenkonsumenten, Probleme in drogenfreien Beziehungen, finanzielle Schwierigkeiten
Droge: nachlassende Drogenwirkung durch Gewöhnung, Dosissteigerung, Konsum auch am Tag, Kombination mit anderen Rauschmitteln; Kontrolle über Suchtmittelkonsum (Menge und Zeitpunkt) ist noch vorhanden
3. Sucht- bzw. Abhängigkeitsstadium
Person: Entzugssymptome bestimmen das Verhalten, Persönlichkeitsveränderungen (erhöhte Reizbarkeit, Stimmungsschwankungen), Abnahme der körperlichen Leistung, Begleiterkrankungen, Abnahme der geistigen Leistungsfähigkeit (Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeit)
Umwelt: Entfremdung von Angehörigen und Freunden, soziale Isolation, Kriminalität (Beschaffung, Prostitution)
Droge: Toleranzentwicklung (Dosissteigerung), Kontrollverlust über die Einnahme des Suchtmittels (Menge und Zeitpunkt)
4. Chronisches Abbaustadium
Person: fortschreitender körperlicher bzw. geistiger Abbau (Leberzirrhose, Magengeschwüre bzw. Gedächtnisverlust, Konzentrationsmangel), Persönlichkeitsabbau (fehlender Antrieb, extreme Stimmungs-schwankungen)
Umwelt: zunehmender sozialer und beruflicher Abstieg (Erwerbsunfähig-keit, Verarmung), negative Rückmeldung aus dem Umfeld (Verachtung)
Droge: Drogenverträglichkeit nimmt ab aufgrund von Organschäden, Polytoxikomanie (Mehrfachkonsum, -abhängigkeit)
1.3.2 Vom Genuss zur Abhängigkeit
Der Weg vom unauffälligen Gebrauch über Missbrauch bis hin zur Abhängigkeit kann mehrere Jahre dauern[19]:
1. Gebrauch
Das Verhalten der konsumierenden Person ist unauffällig und vernünftig, die Substanz wird zum bewussten Genuss eingesetzt und der Konsum kann jederzeit beendet werden. Wird der Genuss zur Gewohnheit, dann kann der Gebrauch schleichend in den Missbrauch übergehen.
2. Missbrauch
Beim Missbrauch wird die Substanz von der konsumierenden Person eingesetzt, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Es wird mehr konsumiert, als man vertragen kann. Die Selbstkontrolle, die Einnahme zu reduzieren oder zu beenden, entfällt und Versuche, abstinent zu leben, scheitern. Das Suchtmittel nimmt mehr und mehr Besitz vom Denken, Fühlen und Handeln der konsumierenden Person ein. Missbrauch mündet oft in Abhängigkeit.
3. Abhängigkeit
„Vom Missbrauch zur Abhängigkeit kann es Jahre dauern. Der Betroffene merkt oft viel zu spät, dass er abhängig ist. Er hat ein unwiderstehliches Verlangen nach dem Suchtmittel. Er kann nicht mehr über das Suchtmittel verfügen, weil er die Kontrolle darüber verloren hat. Die Abhängigkeit kann seelisch und körperlich sein. Sie ist krankhaft und in der Regel behandlungsbedürftig, weil sich der Abhängige meist nicht selbst daraus befreien kann. Suchtmittelabhängigkeit verursacht als Folge eine Vielzahl von Schäden im körperlichen, seelischen und geistigen Bereich. Hinzu kommen die sozialen Schäden für den Abhängigen und oft Folgeerkrankungen.
Seelische Abhängigkeit. Der Abhängige hat ein nicht mehr zu bremsendes Verlangen, das Suchtmittel zu konsumieren, um eine bestimmte Wirkung (z. B. stimmungshebend, stimulierend, dämpfend) zu erzeugen.
Körperliche Abhängigkeit. Körperliche Abhängigkeit erkennt man daran, dass Entzugserscheinungen auftreten, wenn das Mittel nicht mehr in ausreichender Dosis im Körper vorhanden ist. Es kommt in erster Linie zu Störungen im vegetativen Nervensystem, die gekennzeichnet sind von Schwitzen, Tremor (Muskelzittern), Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Durchfällen.“ [20]
1.4 Der Weg aus der Sucht
Die Einsicht „Ich bin süchtig. Ich will so nicht weitermachen. Ich brauche Hilfe.“ ist der erste Schritt, um sich aus der Abhängigkeit von (legalen oder illegalen) Suchtmitteln zu lösen. Jetzt kann sich die drogenkonsumierende Person an eine Beratungsstelle wenden und sich (fachliche) Unterstützung suchen und Hilfe in Anspruch nehmen[21].
Der Weg aus der Sucht bzw. Abhängigkeit ist in mehrere Phasen gegliedert und beginnt mit der Therapievorbereitung, mit Gesprächen in einer Drogenberatungsstelle (Einzel- oder Gruppengespräche) oder in einer Selbsthilfegruppe[22]. Nach mehreren Tagen oder Wochen – wenn die abhängige Person dazu bereit ist – beginnt die stationäre Entgiftung in einem Krankenhaus oder in einer Fachklinik für Suchtmittelkranke. Dem Körper wird mit Unterstützung von Medikamenten das Gift entzogen, körperliche Folgeerscheinungen des Drogenkonsums werden behandelt und es wird auf die mehrmonatige Entwöhnung (Therapie) hingearbeitet (Dauer der Entgiftung: ca. ein bis drei Wochen). Im Rahmen der stationären Entwöhnung werden die psychischen Störungen behandelt (Einzel- und Gruppentherapie) und es werden alternative Verhaltensweisen zum Drogenkonsum vermittelt. Die sich an die Entwöhnung anschließende Nachsorge dient der Krisenbewältigung und der Vorbereitung auf den (suchtmittelfreien) Alltag („soziale (Wieder-) Anpassung“[23] ). Die Nachsorge kann teilstationär oder ambulant durch z. B. therapeutische Wohngemeinschaften oder auch Drogenberatungsstellen erfolgen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Phasen der Behandlung Abhängiger und ausgewählte Charakteristika
(Quelle: Langfeldt 1996, S. 347, Auszug)
2 Entwicklungspsychologische Aspekte
2.1 Entwicklungsaufgaben nach Havighurst und Erikson
Der amerikanische Soziologe und Erziehungswissenschaftler Robert Havighurst entwickelte Mitte des 20. Jahrhunderts das Konzept der Entwicklungsaufgaben[24]. Havighurst ging davon aus, dass jeder Mensch in den verschiedenen Lebensabschnitten bestimmte Lebensaufgaben zu bewältigen hat, die so genannten Entwicklungsaufgaben. Dieses Konzept wurde im Laufe der nächsten Jahrzehnte neben anderen Sozialwissenschaftlern insbesondere von Erik Erikson ausdifferenziert und weiterentwickelt (1973): Der Mensch entwickelt sich ein Leben lang, von der Geburt bis ins hohe Alter.
Der Lebenslauf eines Menschen wird nach dem Konzept der Entwicklungsaufgaben von Erikson in insgesamt acht Stufen unterteilt, wobei im Rahmen dieser Ausarbeitung nur die ersten drei Entwicklungsstufen vom ersten bis zum sechsten Lebensjahr im Folgenden näher betrachtet werden, da der Fokus im Abschnitt 5 zur Evaluation der Entwicklung der Mutter-Kind-Beziehung auf dem Kleinkindalter 1 bis 6 Jahre liegt:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Entwicklungsaufgaben nach Havighurst und Erikson, Stufe 1 bis 3
Das Konzept der Entwicklungsaufgaben ist auch für die moderne Entwicklungspsychologie immer noch von großer Bedeutung, auch wenn sich die Inhalte im Laufe der Zeit verändert haben: „Heute wird unter Entwicklungsaufgabe eine Aufgabe verstanden, die zu einem bestimmten Zeitpunkt der Entwicklung als gesellschaftlich vorgegebene Norm an den Einzelnen herangetragen wird. Sie wird von ihm als Zielvorstellung oder Erwartung übernommen, sobald er über die biologischen, psychischen und sozialen Voraussetzungen zur Bewältigung der Aufgabe verfügt.“[25]
Zu den so genannten normativen Entwicklungsaufgaben im Kleinkindalter gehören z. B.
- Laufen lernen
- Symbolgebrauch, Sprechen lernen
- Lernen, selbständig Nahrung aufzunehmen
- Lernen, Körperausscheidungen zu kontrollieren
- Sich lösen aus der symbiotischen Beziehung zur Mutter (Abstillen, Entwöhnung)
- Aufbau von Bindungen zu anderen Bezugspersonen neben der Mutter
(z. B. zum Vater, zu den Geschwistern, zu den ErzieherInnen)
- Erwerben einer eigenen Geschlechtsrolle
- Erkennen von Zusammenhängen in der sozialen Umwelt
- Lernen, die eigenen Gefühle zu Eltern und Geschwistern in Beziehung zu setzen
Die erfolgreiche Bewältigung von (einzelnen) Entwicklungsaufgaben (engl. Coping) hängt zum einen insbesondere davon ab, wie reif ein Kind für die Aufgabe ist, also inwieweit die inneren Voraussetzungen vorliegen; weiterhin ist aber auch die Unterstützung von großer Bedeutung, die ein Kleinkind bei seinen Bewältigungsbemühungen von außen – von seiner Umwelt – erfährt (Bewältigungsressourcen).
2.2 Kognitive Entwicklung nach Piaget
Die kognitive Entwicklungstheorie nach dem schweizerischen Entwicklungspsychologen Jean Piaget (*1896, †1980) betont sehr stark die Wechselwirkung zwischen den Anlage- und Umweltfaktoren. Piaget geht in seiner Entwicklungstheorie davon aus, dass es sich um einen selbstkonstruktiven Prozess handelt: Der Prozess vollzieht sich in der Interaktion zwischen Subjekt (Säugling/Kind) und Umwelt, der so genannte kompetente Säugling.[26]
Nach Piaget entwickelt sich das Denken in Stufen bzw. Phasen. Dabei bildet jede einzelne Stufe ein Ganzes (mit Vorbereitungs- und Endphase) und bereitet den Weg für die nächste Stufe, auf der die verschiedenen Elemente der Vorstufe zu einem neuen Ganzen entwickelt werden. Das Überspringen einer Stufe ist dabei nicht möglich, allerdings können die einzelnen Phasen in unterschiedlicher Geschwindigkeit durchlaufen werden. Auf jeder Stufe entwickelt sich ein immer stabiler werdendes Gleichgewicht, so dass eine zunehmend kompetentere Auseinandersetzung mit der Umwelt möglich wird.
Die einzelnen kognitiven Entwicklungsstadien im Überblick:
1. Sensumotorisches Stadium (1. und 2. Lebensjahr)
2. Präoperatives Stadium (2. bis 7. Lebensjahr)
3. Stadium der konkreten Operation (7. bis 11. Lebensjahr)
4. Stadium der formalen Operation (11. oder 12. Lebensjahr)
Für die kleinkindliche Entwicklung sind nur die beiden ersten Stadien von Bedeutung, diese werden in den folgenden Abschnitten detaillierter erläutert.
2.2.1 Sensumotorisches Stadium (1. und 2. Lebensjahr)
Nach Piaget ist das sensumotorische Stadium die Vorstufe zum Denken (Vorläufer von kognitiven Strukturen). Das eindeutig reflexgesteuerte Verhalten eines neugeborenen Kindes entwickelt sich in sechs Entwicklungs-schritten zum zielgerichteten Verhalten eines zweijährigen Kleinkindes:
1. Lebensmonat à Reflexe verändern sich und passen sich an neue Reize an
2. bis 4. Lebensmonat à Primäre Zirkulärreaktionen treten auf: eigenes Körpergefühl
5. bis 8. Lebensmonat à Sekundäre Zirkulärreaktionen entwickeln sich: Umwelt-/Objektwahrnehmung
8. bis 12. Lebensmonat à Verhaltensweisen werden koordiniert und zielgerichtet eingesetzt
13. bis 18. Lebensmonat à Tertiäre Zirkulärreaktionen treten auf: Wiederholungen, Variationen
19. bis 24. Lebensmonat à Übergang zum Denken beginnt: Verhaltensübertragung, Handlungsketten
Im Laufe der ersten zwei Lebensjahre tritt an die Stelle der externen Exploration (lat. Erforschung) das interne Explorieren – das Denken. Kleinkinder experimentieren immer weniger nach dem Prinzip Versuch und Irrtum, sondern denken sich spontan neue Wege und Lösungen aus und gewinnen neue innere Vorstellungen, um eine Situation zu bewältigen.
2.2.2 Präoperatives Stadium (2. bis 7. Lebensjahr)
Mit Beginn des 3. Lebensjahres fängt nach Piaget das präoperative Stadium an, das etwa bis zum Schulalter dauert. Diese Phase ist dadurch gekennzeichnet, dass sich kognitive Schemata immer weiter ausdifferenzieren und sich in verschiedene Bereiche aufgliedern. Voraussetzung für diesen Entwicklungsprozess ist die Fähigkeit des Kindes, ein Objekt durch ein anderes – ein Symbol – zu ersetzen.
Dies soll anhand eines Beispieles näher erläutert werden: Zunächst ist in der Entwicklung des Kleinkindes ein Kreis ein Symbol für alle runden Objekte (Ball, Kugel). In der weiteren Entwicklung wird das Symbol immer häufiger durch ein Zeichen oder z. B. das Wort „rund“ ersetzt. Dieser sich immer weiter differenzierende Prozess führt dazu, dass das Kleinkind nicht mehr an das unmittelbar wahrgenommene Objekt und die Handlungen, die es damit ausführen kann, gebunden ist. Das Kind arbeitet jetzt mit der eigenen Vorstellung, die immer präziser wird: Ein Ball kann geworfen, aufgefangen oder gerollt werden.
Kleinkinder lernen im präoperativen Stadium, dass die Verbindung zwischen Objekt und Sprache (Wort) eher willkürlich ist, dass ein Objekt mit verschiedenen Begriffen benannt werden kann oder dass verschiedene Objekte mit dem gleichen Wort bezeichnet werden.
Das Kleinkind wird mit der wachsenden Zahl von Begriffen und Bedeutungen immer unabhängiger von der unmittelbaren Gegenwart: Das Kind denkt nach, es erinnert sich und nimmt Sachen vorweg. Diese sich entwickelnden geistigen Prozesse ermöglichen es dem Kind, sich schneller und flexibler auf neue Situationen einzustellen und eine Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herzustellen, auch wenn das Kind in dieser Lebensphase noch sehr stark an das eigene Denken und Fühlen gebunden ist.
2.3 Die Entwicklung von Beziehungen und Bindung nach Bowlby und Ainsworth
Säuglinge stehen von Anfang an mit anderen Menschen in Beziehung[27]. Diese Beziehungen wirken sich in der Folge auf das Leben und weitere Beziehungen aus: Erlebt z. B. ein Kind in der Familie belastende Beziehungen, dann nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass es Schwierigkeiten haben wird, Beziehungen außerhalb des häuslichen Bereiches zu entwickeln.
Im Vordergrund steht hier der Begriff der Bindung: „Bindung ist ein spezifisches, emotionales Band, das sich zwischen einer Person und einer anderen bildet. (...) Das Entstehen von Bindung spiegelt sich in einem Repertoire von Bindungsverhalten wider, das im Wesentlichen die Funktion hat, die Nähe zur Bindungsperson aufrechtzuerhalten. Beispiele von Bindungsverhalten sind bevorzugte Aufmerksamkeit, Berühren, Klammern, Rufen und Weinen in Abwesenheit der betreffenden Person bzw. Lächeln in ihrer Gegenwart.“[28]
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass sich das Phänomen des Bindungsverhaltens nicht nur auf Kleinkinder bezieht, sondern generell zwischen Individuen stattfindet. Im Rahmen dieser Ausarbeitung liegt der Fokus jedoch auf den Bindungsbeziehungen bei Kindern.
Die Erklärung und Entstehung von Bindung geht vorrangig auf den britischen Psychiater John Bowlby und die amerikanische Sozialentwicklungs-psychologin Mary Ainsworth zurück, deren Theorien und Konzepte im Folgenden näher beschrieben werden.
2.3.1 Bindung/Bindungsverhalten nach Bowlby
Bowlby interpretierte die Bindung als ein adaptives Verhaltenssystem, das sich entwickelt, um die Überlebenschancen des Kleinkindes zu maximieren[29]:
- Bindungsverhalten vergrößert die Nähe zu einer (möglichen) Betreuungsperson und ruft Reaktionen bei ihr hervor.
- Bindungsverhalten erhöht die Chance für ein leidendes oder verletztes Kind, Hilfe zu bekommen.
- Bindungsverhalten trägt dazu bei, dass das Kind über eine sichere Basis verfügen kann (Verlässlichkeit in der sozialen Umgebung).
Zwischen Mutter und Kind entwickelt sich ein gemeinsames Interaktionssystem (gegenseitiges Beziehungssystem), wenn die Mutter auf die Signale des neugeborenen Kindes angemessen reagiert[30]. Säuglinge verfügen über eine Vielzahl von Verhaltensweisen gegenüber der Mutter (Bezugsperson), die Nähe, Kontakt und Bindung herstellen sollen. Bowlby unterscheidet in seinem Grundkonzept fünf Verhaltensweisen, die im Folgenden näher beschrieben werden:
Saugen
Die Saugreaktion ist die erste Möglichkeit für ein neugeborenes Kind, mit einem anderen Menschen, in der Regel die Mutter, in Kontakt zu treten. Saugen bedeutet zum einen, den Hunger zu stillen, auf der anderen Seite ist es ein Kommunikationsmittel. Das Saugverhalten verläuft nach Bowlby wie ein Dialog und ist eine Interaktionssituation zwischen Mutter und Kind: Saugen und Pause wechseln sich ab. Trinkt das Kind, so verhält sich die Mutter ruhig, in den Trinkpausen hält sie das Kind in den Armen, spricht mit ihm und streichelt es.
Anklammern
In den ersten zwei Lebensmonaten entwickelt der Säugling den Greifreflex, Auslöser ist das Berühren der Handinnenflächen. Eine abgeleitete Bedeutung des Greifreflexes ist das Festhalten an der Mutter. Hinzu kommt auch der Kriechreflex, das Abstemmen mit den Füßen, um am Körper der Mutter nach oben zu kommen, um die Brust zu erreichen. Beide Reflexe unterstreichen die Bedeutung des Haut- und Körperkontakts für den Aufbau von Bindungen.
Nachfolgen
Das Folgen der Mutter – sobald die Motorik dies zulässt - ist für ein junges Individuum wichtig für das eigene Überleben. Diese aktive Kontaktsuche ist ein zentraler Bestandteil für das kindliche Bindungsverhalten zur Mutter.
Schreien/Weinen
Auch Schreien und Weinen ist ein Kontaktsignal eines Kindes. Ein sensibles Eingehen der Mutter (Bezugsperson) auf das schreiende oder weinende Kind fördert die Entwicklung einer sicheren Bindung.[31]
Lächeln/Lachen
Das Lächeln ist nach Bowlby ebenfalls ein soziales Signal eines Kleinkindes. Meist ist der Anblick eines menschlichen Gesichtes der Auslöser, eng verbunden mit einem intensiven Blickkontakt. Der Blickkontakt spielt in der Mutter-Kind-Beziehung eine zentrale Rolle: Es entwickelt sich ein wechselseitiger Austausch.
2.3.2 Bindungsarten nach Ainsworth
Mary Ainsworth entwickelte für die Untersuchung von verschiedenen Arten von Bindung zwischen Kleinkindern und Eltern (Bezugspersonen) den Fremde-Situation-Test[32]. Dieser Test ist ein standardisiertes Verfahren, das in der Bindungsforschung angewendet wird, um die Reaktionen von neugeborenen Kindern bzw. Säuglingen auf die Trennung von ihrer Bezugsperson und ihre Reaktion auf fremde Personen zu testen:
Ein Kind wird zusammen mit einer Betreuungsperson (Mutter) in einen Beobachtungsraum gebracht. Wenn sich das Kind an die Situation gewöhnt hat, kommt eine dem Kind fremde Person in den Raum, die in Interaktion (Spiel) mit dem Kind tritt. Die Betreuungsperson (Mutter) verlässt dann das Zimmer, kurze Zeit später geht auch die fremde Person hinaus. Die fremde Person kommt zurück. Auch die Betreuungsperson (Mutter) betritt anschließend wieder den Raum und die fremde Person geht erneut hinaus.
Die Sozialentwicklungspsychologin M. Ainsworth konnte drei Haupttypen von Bindungsbeziehungen im Rahmen des Testes herausfiltern:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Bindungsarten nach Ainsworth, Fremde-Situation-Test
In den meisten Stichproben zeigen ca. 70% der Kleinkinder Beziehungen vom Typ B, etwa 20% Typ A und 10% Typ C.
Wie bereits erwähnt, haben bestehende Beziehungen Auswirkungen auf zukünftige Beziehungen. Weitere Untersuchungen zum Thema Bindungstyp haben folgendes gezeigt: „Bei Kindern, bei denen man während des zweiten Schuljahres Typ-B-Bindungen festgestellt hatte, fand man neben anderen Aspekten, dass sie während ihrer Vorschul- und Kindergartenjahre höhere Werte bezogen auf Maße der interpersonalen Kompetenz, der Selbstwirksamkeit, der kognitiven Entwicklung, beim Spielen mit Spielzeug, bei explorierenden Fertigkeiten und bei der Lernmotivation aufwiesen.“[33]
2.3.3 Phasen der Entwicklung der Mutter-Kind-Bindung nach Ainsworth
Ainsworth unterscheidet – in Anlehnung an Bowlby – vier Entwicklungsphasen der Mutter-Kind-Bindung:
1. „Die Prä-Attachement-Phase umfasst die ersten Wochen nach der Geburt. In dieser Zeit richtet das Kind seine Aufmerksamkeit auf jede Person, die sich ihm nähert, und zeigt ihr gegenüber Verhaltensmerkmale, die die Funktion besitzen, aktiv Kontakt aufzunehmen. Am Ende dieser Phase beginnt das Kind zwischen verschiedenen Personen, speziell zwischen seiner Mutter und anderen Menschen, zu unterscheiden.
2. In der Phase der beginnenden Bindung differenziert das Kind nicht nur zwischen bekannten und unbekannten Personen, sondern auch zwischen seinen vertrauten Bezugspersonen. Gleichzeitig erweitert sich das soziale Verhaltensrepertoire des Säuglings, das er je nach Kontaktperson unterschiedlich einsetzt.
3. Gegen Ende des ersten Lebensjahres wird das Kind noch aktiver in der Kontaktaufnahme mit den von ihm bevorzugten Personen. Dies wird ermöglicht durch Fortschritte in der motorischen und sprachlichen Entwicklung. Das Kind ist nun keineswegs mehr ausschließlich auf seine Bezugspersonen fixiert, sondern exploriert seine Umwelt und erlernt den Umgang mit Gegenständen.
4. Eine neue Phase der Interaktion zwischen Mutter und Kind ist erreicht, wenn das Kind seinen Egozentrismus überwindet, den Standpunkt seiner Mutter einnehmen kann und verstehen lernt, welche Gefühle und Motive ihr Handeln leiten. ...“[34]
2.4 Entwicklungsrisiken/Risikofaktoren
Bei den Entwicklungsrisiken unterscheidet man aus medizinisch-biologischer Sicht zwischen schädigenden Einflüssen, den so genannten Teratogenen (griechisch, teratogen: Missbildungen bewirkend), und genetisch bedingten Risikofaktoren (Defekte). Eine dritte Kategorie sind – aus entwicklungspsychologischer Sicht - die sozialen Risikofaktoren[35].
2.4.1 Teratogene
In der Forschung unterscheidet man zwischen exogenen und endogenen Teratogenen. Unter exogenen Teratogenen versteht man schädigende Einflüsse von außen, dazu gehören u. a. Strahlung und die Einnahme von Medikamenten, Alkohol, Nikotin oder anderen Drogen. Endogene Teratogene entstammen direkt dem Organismus der Mutter, hierzu zählen z. B. bakterielle Infekte, Blutarmut, Bluthochdruck oder HIV-Viren.
Das Maß der Auswirkung von Faktoren, die Fehlentwicklungen oder Missbildungen bewirken, hängt davon ab, wann diese auftreten: „Je früher in der Embryonalentwicklung Teratogene zur Wirkung kommen, desto schwerwiegender und umfassender können Fehlentwicklungen und Missbildungen sein. Schädigende Einflüsse, die im mittleren Schwangerschaftsdrittel erfolgen, führen häufig zu physiologischen Defekten, die sich teilweise auch auf psychische Funktionen auswirken können. Die Auswirkungen von Teratogenen im letzten Schwangerschaftsdrittel sind in der Regel vergleichsweise weniger gravierend; sie bewirken z. B. eine unzulängliche Versorgung des Fötus oder lösen eine Frühgeburt aus.“[36]
2.4.2 Genetisch bedingte Risikofaktoren
Gendefekte kommen relativ selten vor, genaue Zahlen hierzu liegen nicht vor. Genetisch bedingte Risikofaktoren, die zu Fehlentwicklungen des Fötus führen können, sind z. B. Diabetes, Down-Syndrom oder die Zystische Fibrose (Enzymdefekte).
2.4.3 Soziale Risikofaktoren
Während Teratogene und Gendefekte vorgeburtliche Risikofaktoren sind, gibt es nach der Entwicklungspsychologin Hellgard Rauh auch Faktoren, in die Kinder hineingeboren werden: Bildungsstand, Einkommen, Erziehungsstil, soziales Netzwerk u. a.. Die Entwicklung von Kindern kann beeinträchtigt werden, wenn die sozialen Faktoren eher ungünstig sind, z. B. niedriger Bildungsstand, geringes Einkommen.
2.4.4 Die Bedeutung von psychosozialen Risikofaktoren im Säuglings- und Kleinkindalter
Die Bedeutung von psychosozialen Risikofaktoren im Säuglings- und Kleinkindalter im Hinblick auf die Entwicklung der Kinder von der Geburt bis in das Erwachsenenalter wurde in verschiedenen Längsschnittstudien untersucht. Zu diesen Untersuchungen zählen u. a. die Mannheimer Längsschnittstudie, die Züricher Längsschnittstudie und auch die Rostocker und Regensburger/ Bielefelder Längsschnittstudien.[37]
Eine der umfangreichsten Längsschnittstudie zum Thema ist die Kauai-Studie. Methode und Ergebnisse der Studie werden hier kurz dargestellt:
„Bei 698 Kindern, die 1955 auf der Insel Kauai in Hawai [sic!] geboren wurden, untersuchte das Forschungsteam (Kinderärzte, Psychologen, Sozialarbeiter) den Einfluss biologischer und psychosozialer Risikofaktoren, kritischer Lebensereignisse und schützender Faktoren auf die Entwicklung der Kinder. Die ersten Daten zu dieser Untersuchung wurden schon in der vorgeburtlichen Entwicklungsperiode erhoben. Die Entwicklung der Kinder und ihre Lebensumstände wurden dann nach der Geburt im Alter von 1 Jahr, von 2, 10, 18, 32 und 40 Jahren erfasst.
Die Eltern dieser Kinder entstammten sehr unterschiedlichen ethnischen Gruppen (Hawaianer, Japaner, Filippinos, Portugiesen, Chinesen, Koreaner und eine kleine Gruppe Europäer). Mehr als die Hälfte lebte in chronischer Armut. Die meisten Väter waren halb- oder ungelernte Arbeiter und die Schulbildung der Mütter war kürzer als acht Jahre. Bei 30% der überlebenden Kinder dieser Studienpopulation häuften sich die Risikofaktoren. Ihre Familien lebten in dauernder Armut, bei der Geburt dieser Kinder gab es Komplikationen, die Eltern hatten erhebliche psychische Probleme, und in den Familien gab es ständig Streit.“[38]
In der Kauai-Studie wurden folgende Risiko- und Stressfaktoren, die sich negativ und hemmend auf die Entwicklung der beobachteten und untersuchten Kinder auswirken, ermittelt:
Vorrangige Risikofaktoren bei der Geburt:
- chronische Armut
- niedriger Bildungsstand der Mutter
- mittlere bis schwere Geburtskomplikationen
- genetische Anomalien
- psychische Störungen der Eltern
Vorrangige Stressfaktoren, welche die Kindheit und die Jugend belasten:
- längere Trennung von der primären Fürsorgeperson im ersten Lebensjahr
- Geburt eines jüngeren Bruder oder einer Schwester innerhalb der ersten zwei Lebensjahre
- chronische Krankheiten und psychische Störungen der Eltern
- chronische familiäre Zerrüttung
- Abwesenheit des Vaters
- Arbeitslosigkeit der Eltern
- Wohnungs- und Schulwechsel
- Scheidung der Eltern, Wiederheirat
- Abschied von oder Tod von Familienmitgliedern oder engen Freunden
- Einweisung in ein Erziehungsheim
Die verschiedenen Studien sind insgesamt zu ähnlichen Ergebnissen gekommen, die im Folgenden skizziert werden:
Kauai-Studie
„Zwei Drittel dieser Kinder, die im Alter von zwei Jahren schon vier oder mehr Risikofaktoren ausgesetzt waren, entwickelten dann auch schwere Lern- oder Verhaltensprobleme in der Schulzeit, wurden straffällig und hatten psychische Probleme im Jugendalter.“[39]
Mannheimer Studie
„Der entwicklungshemmende Einfluss belastender familiärer Umstände zeigte sich im Alter von acht Jahren in deutlich niedrigeren Intelligenzwerten als in der Vergleichsgruppe. Noch deutlicher waren die Unterschiede bei psychischen Auffälligkeiten expansiver und introversiver Art. Die motorische Entwicklung dieser Kinder war dagegen kaum beeinträchtigt. Die Beeinträchtigungen der schulischen Entwicklungen zeigten sich darin, dass Kinder aus diesen sozial belasteten Familien signifikant häufiger eine Förderschule besuchten (...), häufiger verspätet eingeschult wurden oder die erste Klasse wiederholt haben.“[40]
Züricher Längsschnittstudie
„Der sozioökonomische Status bestimmt die intellektuelle Entwicklung weit mehr als sämtliche derzeit erfassbaren pränatalen und perinatalen Risikofaktoren.“[41]
Rostocker und Regensburger/Bielefelder Studie
„Unter den Lebensbedingungen von Armut und sozialer Benachteiligung ist ein Kind vor allem dann gefährdet, wenn es Mangel an Nahrung, an Kalorien und Vitaminen bzw. Spurenelementen erleidet. Es können dann Krankheitserscheinungen auftreten, (...) es kann zu Gedeihstörungen (...) kommen; ... Vernachlässigung ist meist mit einer Ablehnung des Kindes, aus welchen Gründen auch immer, verbunden, damit für das Kind mit einem Mangel an emotionaler Nähe, Geborgenheit und der Möglichkeit von Interaktionen mit den Bezugspersonen. Dies hat Folgen für die körperliche Entwicklung (psychosozialer Kleinwuchs), besonders aber für die Ausbildung von motorischen und kognitiven Fähigkeiten, nicht zuletzt für das emotionale Reagieren und die Bildung der Persönlichkeit.“[42]
Insgesamt wird deutlich – auch wenn die Ergebnisse der Risikoforschung nur beschreibende Aussagen über Zusammenhänge zwischen Risikofaktoren und kindlicher Entwicklung sind und keine kausalen Schlussfolgerungen zulassen - dass das Auftreten von Risiko- und Stressfaktoren die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Störungen im Lebenslauf der Kinder auftreten. Die Kumulation mehrerer Risiken führt zu einem deutlichen Anstieg in der Wahrscheinlichkeit, dass Kinder psychisch auffällig werden und Störungen entwickeln.
Die Kauai-Studie zeigt aber auch, dass ein Drittel der untersuchten Kinder trotz der Risiken und Stressfaktoren, denen sie ausgesetzt waren, eine positive Entwicklung genommen haben; den Risikofaktoren standen schützende Faktoren gegenüber (Resilienz):
- Schutzfaktoren im Kind (Aktivität, Zärtlichkeit, Selbständigkeit, Problemlösungsfähigkeit, Kommunikationsfreudigkeit)
- Schutzfaktoren in der Familie (enge Bindung zu einer stabilen Person)
Zu dem folgenden Ergebnis kommen fast alle Studien: Der entscheidende Schutzfaktor ist eine stabile emotionale Beziehung des Kindes zu mindestens einem Elternteil oder einer anderen Bezugsperson.
„Chronische Armut, familiäre Disharmonie und selbst Eltern mit psychotischen Störungen konnten die positive Entwicklung dieser Kinder nicht stören oder hemmen, wenn sie die Chance hatten, „eine enge Bindung mit mindestens einer kompetenten und stabilen Person aufzubauen, die auf ihre Bedürfnisse eingestimmt war. Alle diese Kinder entwickelten ein grundlegendes Vertrauen.“ (zit. n. Werner 1997, 196)“[43]
3 Frauen, Kinder und Sucht
3.1 Kinder von suchtmittelkranken Eltern
Kinder, die suchtmittelkranke Eltern haben, können aufgrund von wissenschaftlichen Befunden als Risikogruppe für negative psychische und soziale Entwicklungen charakterisiert werden (z. B. Verhaltensstörungen und früher Substanzmittelgebrauch). Vor allem für Kinder von alkoholabhängigen Elter wurde ein bis zu sechsfach erhöhtes Risiko für den eigenen Suchtmittelkonsum festgestellt[44].
Die wenigen vorliegenden Forschungsarbeiten zum Thema „Kinder drogenabhängiger Eltern“ zeigen, dass der elterliche Drogengebrauch einen starken negativen Einfluss auf die psychosoziale Entwicklung der Kinder haben kann:
- Kindern von drogenabhängigen Eltern werden die notwendige körperliche Versorgung und Zuwendung vorenthalten.
- Sowohl die kognitive als auch die sozio-emotionale Entwicklung der Kinder wird verzögert, behindert oder dauerhaft zerstört.
- Kinder, deren Eltern drogenabhängig sind, werden insgesamt in einer Weise erzogen und beeinflusst, dass sie selbst zu Drogenkonsumenten/
-konsumentinnen werden können.
Kinder aus Suchtfamilien erfahren kaum familiäre Stabilität, Verlässlichkeit, Gewaltfreiheit und positive Zuwendung – wichtige Variable für eine gesunde psychische Entwicklung. Sie werden in zahlreiche Risiken hineingeboren, wie zum Beispiel:
- Arbeitslosigkeit, Armut
- Vernachlässigung
- alleinerziehende Elternteile (vorrangig Mütter)
- häufige Trennungserfahrungen
- wechselnde Fremdplatzierungen
- Kriminalisierung und Strafverfolgung der Eltern
- negative Auswirkungen des Beikonsums von anderen Substanzen
- mangelnde Erziehungskompetenzen der Eltern aufgrund von eigenen Mangelerfahrungen (z. B. Traumata)
- Gefahren der Vergiftung und Unfälle im elterlichen Haushalt
Diese Voraussetzungen findet man verstärkt in Familien vor, von denen mindestens ein Elternteil opiatabhängig ist.
Es ist (hypothetisch) davon auszugehen, dass das Aufwachsen bei zwei drogenabhängigen Elternteilen wesentlich riskanter ist als nur bei einem abhängigen Elternteil.
Dieser Aspekt wurde bereits in der Forschung zu Kindern mit alkoholabhängigen Eltern bestätigt, empirische Untersuchungen bei Eltern, die illegale Substanzen wie z. B. Heroin oder Kokain konsumieren, gibt es nicht bzw. es wurde bislang laut Klein empirisch nicht bestätigt.
Die folgende Übersicht stellt skizziert dar – unter Angabe der Original- bzw. Sekundärquellen – wie viele Drogenabhängige Kinder haben:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: Wie viele Drogenabhängige haben Kinder? Quelle: Klein 2003, S. 360
Die Daten können nur aus einzelnen Studien und Untersuchungen genommen werden, da laut Klein (2003) keine Übersichtsstudien zur Population von Drogenabhängigen vorliegen. Geschätzt gibt es in Deutschland etwa 40.000 bis 50.000 Kinder, deren Eltern drogenabhängig sind.
3.2 Drogen und Schwangerschaft – Wirkungen von Drogen auf das ungeborene Kind
In Deutschland sind nur relativ wenige Frauen schwanger, die suchtmittelabhängig sind[45]. Typisch für diese Schwangerschaften sind die späte Feststellung der Schwangerschaft, wenig Vorsorgeuntersuchungen, die ungünstigen sozialen Verhältnisse und die hohen Raten an Begleiterkrankungen. Weiterhin sind die Schwangerschaften bedroht durch Fehl-, Früh- und Mangelgeburten und durch das Entzugssyndrom nach der Geburt.
In den folgenden Abschnitten werden die Folgen der Nikotin-, Alkohol- und Drogensucht (Opiate, Stimulanzien, Halluzinogene) auf das ungeborene Kind nach Dr. Regina Rasenack kurz skizziert:
3.2.1 Tabak/Nikotin
Trotz der allgemein bekannten negativen Auswirkungen des Rauchens auf das ungeborene Kind sind etwa ein Drittel aller schwangeren Frauen Raucherinnen. Folgen des Tabakkonsums für das Kind während der Schwangerschaft sind: Atemstillstand durch Ablösung der Gebärmutter, Früh-, Fehl- und Mangelgeburten, Atemwegserkrankungen, Verengung der Blutgefäße bzw. Durchblutungsstörungen, Verhaltensstörungen (z. B. ADHS), das erhöhte Risiko des plötzlichen Kindstods (SIDS), reduziertes Geburtsgewicht.
3.2.2 Alkohol
In Deutschland ist jedes 300. Neugeborene alkoholgeschädigt, etwa 10% aller schwangeren Frauen trinken Alkohol (Alkoholmissbrauch). Der schädliche Einfluss von Alkohol auf die Entwicklung des Kindes wird über zwei Gruppen definiert:
- Fetales Alkoholsyndrom (FAS), Vollbild: Mangelentwicklung, Gesichtsfehlbildungen/-auffälligkeiten, bleibende Gehirnentwicklungsstörungen (geistige Behinderung), Verhaltensstörungen
- Fetale Alkoholeffekte (FAE), abgeschwächte Variante: vorwiegend funktionelle Störungen
Typisch für eine Alkoholembryopathie sind das reduzierte Gewicht, die reduzierte Körpergröße und ein reduzierter Kopfumfang.
Die Höhe des Risikos der Schädigungen für das Ungeborene hängt von dem Schweregrad der Alkoholabhängigkeit ab, die Häufigkeit des fetalen Alkoholsyndroms (FAS) bei alkoholabhängigen schwangeren Frauen wird in der Literatur mit 10% angegeben (nach: Abel 1995, 1999).
3.2.3 Illegale Drogen
Grundsätzlich typisch und sehr schädigend für die Entwicklung von Kindern sind die bei drogenabhängigen Schwangeren vorherrschenden chaotischen Lebensumstände mit schlechter Ernährung, ungünstiger Wohnsituation, Beschaffungsstress und –kriminalität, auch Prostitution und die späte Feststellung der Schwangerschaft mit wenig Vorsorgeuntersuchungen. Auch Infektionen wie Hepatitis B und C und (ganz selten) HIV, sowie die häufig bestehende Polytoxikomanie und psychiatrische Krankheiten haben einen negativen Einfluss auf un- bzw. neugeborene Kinder.
Die Abhängigkeit von Opiaten (Heroin, Morphin u. a.) ist in Deutschland generell und damit bei Schwangeren gering[46]. Heroin selbst besitzt keine Missbildungen erzeugendes Potential (Teratogene), allerdings kann ein Entzug während der Schwangerschaft zum intrauterinen Fruchttod führen. Weitere Probleme während der Schwangerschaft sind die Mangelentwicklung, das Risiko einer Frühgeburt und neurologische Spätschäden bei Mikrocephalie (abnorme kleine Größe des Kopfes aufgrund einer Fehlentwicklung des Gehirns).
Des weiteren ist nach der Geburt mit dem neonatalen Abstinenzsyndrom (NAS) zu rechnen, was bei etwa 70% der Neugeborenen von opiatabhängigen Schwangeren zu einem therapiebedürftigen Zustand führt (Atemnot, Zittern, Durchfall und Erbrechen, gegebenenfalls celebrale Krampfanfälle). Die Behandlung des Entzuges (über Medikamente) wird in der Regel stationär im Krankenhaus vorgenommen und überwacht.
Der Konsum von Stimulanzien (Kokain, Amphetamine) während der Schwangerschaft ist in Deutschland noch seltener als die Opiatabhängigkeit[47]. Stimulanzien verursachen grundsätzlich die Verengung der Blutgefäße, dadurch kommt es zu einer verminderten Durchblutung im ganzen Körper und damit auch in der Plazenta (Gebärmutter). Folgen sind das vermehrte Auftreten von Fehlgeburten und von intrauterinen Fruchttoden. Weiterhin besteht eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für Fehlbildungen (z. B. im Skelett-System). In den ersten Monaten nach der Geburt ist mit akuten toxischen Symptomen zu rechnen, das Auftreten des plötzlichen Kindstodes (SIDS) wird erhöht.
Die Auswirkungen des Halluzinogen-Konsums (Marihuana, LSD etc.) auf das ungeborene Kind gleichen denen der Tabakabhängigkeit. Auch wenn die Fehlbildungsrate durch die Einnahme von Halluzinogenen nicht erhöht ist, so kommt es bei den Kindern oft zu einer beeinträchtigten Sprach- und Gedächtnisleistung, darüber hinaus ist die perinatale Mortalität (= Tod zwischen dem Ende der Schwangerschaft bis kurz nach der Geburt) erhöht[48].
3.3 Süchtig geboren – Neugeborene von heroinabhängigen Müttern
„Im Leben einer heroinabhängigen Frau aber, die erfährt, dass sie schwanger ist, stimmt meist so gut wie nichts mit den gesellschaftlichen Erwartungen an eine werdende Mutter überein. Oft bemerkt sie die Schwangerschaft erst im vierten oder fünften Monat, weil sie, eine Folge des Opiatkonsums, seit längerer Zeit keinen regelmäßigen Zyklus mehr hatte und nicht damit gerechnet hat, schwanger zu werden. Sie hat sich dann in den entscheidenden ersten Monaten nicht auf die Schwangerschaft einstellen können, hat wahrscheinlich nicht gesund gelebt, sondern geraucht, getrunken, verschiedene Drogen genommen und sich schlecht ernährt. Sie hat möglicherweise keine Wohnung, kein Geld, keinen sorgenden Ehemann, und wenn es überhaupt einen Vater für das Kind gibt, so ist es eventuell einer, der auf der gesellschaftlichen Stufenleiter ebenfalls ganz unten steht, ein Junkie. Ihren Drogenkonsum und Lebensunterhalt muss sie vielleicht finanzieren, indem sie sich prostituiert. Sie hat oft keine nicht-drogenabhängigen Freundinnen und Freunde, keine Verwandten, zu denen eine Beziehung aufrechterhalten blieb. Sie ist oft selbst das Kind süchtiger Eltern, ein Kind, das im Heim oder bei einer Pflegefamilie aufwuchs. Es gibt kaum jemanden, der ihr zutraut, ein Kind großzuziehen. Und sie hat unter Umständen nie eine positive Beziehung zu ihrem Körper und ihrer Sexualität entwickeln können. Sehr viele drogenabhängige Frauen wurden in ihrer Kindheit sexuell missbraucht (...).
Möglicherweise aber hat eine drogenabhängige Frau, die schwanger wird, auch nur einige dieser Probleme. Vielleicht ist es ihr bislang gelungen, ihre Sucht mit einer Berufstätigkeit zu vereinbaren, vielleicht hat sie sich ein bisschen Unabhängigkeit in Form einer eigenen Wohnung erhalten können, vielleicht hat sie auch einen Arzt, der sie mit Medikamenten „versorgt“, wenn das Heroin knapp wird, oder der ihr mit Hilfe eines Substitutionsmittels den Ausstieg aus dem Beschaffungsstress ermöglicht. (...)
Trotz alledem und obwohl drogenabhängige Frauen – mit oder ohne HIV-Infektion – ohne Schwierigkeiten eine medizinische Indikation für eine Abtreibung auch nach dem dritten Monat bekommen können, entscheiden sich viele für ein Kind. (...)
Schwangerschaften von heroinabhängigen Frauen enden überdurchschnittlich häufig ein bis zwei Monate vor dem errechneten Geburtstermin – und besonders oft dann, wenn sie unter schlechten sozialen und gesundheitlichen Bedingungen leben. So sind auch die Kinder heroinabhängiger Mütter bei der Geburt mit besonderen Risiken belastet. (...)
Oft sind es untergewichtige Winzlinge, die (...) im Brutkasten oder in einem durchsichtigen Kunststoffbett liegen, an Schläuche und Kabel angeschlossen, so dass ihre Mütter sie kaum anzurühren wagen. „Die Babys sind zittrig, grau und haben zum Teil Krämpfe, sie sind besonders unruhig; hinzu kommen kleine neurologische Auffälligkeiten, wie ein besonders hohes, schrilles Schreien“, so fasst die Kinderpsychologin Susanne Börner ihre Erfahrungen mit den Heroinbabys zusammen. (...)
Zwei bis drei Monate dauert nach den Erfahrungen von Dr. Bert Smit, Oberarzt auf der Neugeborenenstation des Academisch Medisch Centrum (AMC) Amsterdam, bis der körperliche Entzug eines Heroinbabys beendet ist und es nach Hause entlassen werden kann. Etwa achtzig Prozent der Neugeborenen von heroin- bzw. methadonabhängigen Müttern werden dort mit Medikamenten behandelt, weil sich Entzugserscheinungen zeigen, die heute in dem Begriff ‚Neonatales Abstinenz-Syndrom’ (NAS) zusammengefasst werden: unter anderem Untergewicht, übermäßige Reizbarkeit, Unruhe, übermäßiges Weinen, starkes Saugbedürfnis, Durchfall und Erbrechen. Rund ein Fünftel der Kinder zeigt praktisch keine Entzugssymptome, trotz eines starken Drogenkonsums der Mutter. (...)“[49]
Schlechte materielle Bedingungen (regelmäßiger Konsum von Drogen, chaotischer Lebensstil u. a.) können in der Schwangerschaft bei der Mutter zu medizinischen Komplikationen wie z. B. Unterernährung, Vitaminmangel und chronische Bronchitis führen. Weiterhin kann es zu Komplikationen kommen, die mit dem intravenösen Drogenkonsum und dem Teilen von Spritzbesteck in Verbindung stehen: Hepatitis, HIV/Aids, Venenentzündung, Wundbrand, Abszesse.[50]
3.4 Drogen und Erziehung – Auswirkungen des Drogenkonsums auf das Kind und die Familie
„Das einzig Zuverlässige ist die Unzuverlässigkeit. (...)“ – Dies ist die Überschrift des Grundsatzreferates von Ingrid Arenz-Greiving im Rahmen der Fachtagung des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung im Jahr 2003 zum Thema „Familiengeheimnisse – Wenn Eltern suchtkrank sind und die Kinder leiden“. Arenz-Greiving beschreibt in diesem Referat die Situation von Kindern in Alkoholikerfamilien. Die Inhalte werden zusammengefasst im Folgenden dargestellt.
Kinder von suchtkranken Eltern haben zahlreiche Geheimnisse zu hüten, da die Suchterkrankung noch immer eine stigmatisierte Krankheit ist. Niemand soll merken, was wirklich in der Familie los ist.
Eine Suchtfamilie erlebt oft Krisen: Häufig verliert der abhängige Elternteil die Arbeit, finanzielle Probleme stellen sich ein, die soziale Isolation wird immer größer, die Beziehung der Eltern untereinander und auch die Beziehung innerhalb der gesamten Familie verschlechtert sich.
In dem Maße, wie der abhängige Elternteil die Kontrolle über das eigene Leben verliert, gewinnt er Macht und Kontrolle über die Familie: Er steht im Mittelpunkt, erhält Zuwendung und Aufmerksamkeit und gibt Regeln vor, die die anderen Familienmitglieder einhalten und denen sie Folge leisten. Die Partnerschafts- und Eltern-Kind-Beziehungen bzw. die Interaktionen innerhalb des Familiengefüges sind gestört.
Typisch für eine Suchtfamilie ist das Verleugnen des Suchtproblems und der Beziehungsprobleme. Konflikte werden vermieden und das Verharmlosen der Situation und das Verlagern der Problemursachen nach außen scheinen oft die einzige Lösung zu sein, um mit der Situation umgehen zu können. Die Familie bewegt sich meist jahrelang zwischen Hoffnung auf der einen und Enttäuschung auf der anderen Seite.
[...]
[1] Klein 2003, S. 1
[2] Vgl. Klein 2003, S. 361, 366
[3] Diese Ansicht konnte ich Gesprächen in der Vergangenheit mit Freunden/Bekannten und Familie entnehmen, seit ich in der Suchthilfe tätig bin (Anm. d. Verf.).
[4] Vgl. www.forum-recht-online.de/2003/203/203bammann.htm
[5] Vgl. Aktion Suchtvorbeugung 2001
[6] Vgl. Aktion Suchtvorbeugung 2001; vgl. Schmidtbauer/vom Scheidt 1989, S. 493
[7] Vgl. Glöckl 2004, S. 1
[8] Vgl. Wittchen 1998, S. 32
[9] Vgl. Davison/Neal 2002, S. 403f.
[10] Soyka 1998, S. 12
[11] Vgl. Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren, Broschüre Alkohol
[12] Vgl. Schmidtbauer/von Scheidt 2003, S. 246
[13] Vgl. Aktion Suchtvorbeugung 2001
[14] Vgl. Schmidtbauer/von Scheidt 2003, S. 343
[15] Aktion Suchtvorbeugung 2001
[16] Vgl. Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren, Broschüre Heroin
[17] Vgl. Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren, Broschüre Kokain
[18] Vgl. Wille 1994, S. 14ff
[19] Vgl. Laaser 2004, S. 1
[20] Laaser 2004, S. 1 [(sic!)]
[21] Vgl. Aktion Suchtvorbeugung 2001
[22] Vgl. Langfeldt 1996, S. 347
[23] Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren, Broschüre „Ein Angebot an alle, ...“
[24] Vgl. Kasten 2005, S. 32ff.
[25] Kasten 2005, S. 34
[26] Vgl. Kasten 2005, S. 35ff.
[27] Vgl. Durkin 2002, S. 59
[28] Durkin 2002, S. 59
[29] Vgl. Durkin 2002, S. 60
[30] Vgl. Schmidt-Denter 2005, S. 13
[31] Weitere empirische Befunde zu dieser These zeigen, dass Schreien und Weinen mehrere Funktionen haben kann (vgl. Schmidt-Denter S. 14, 2005), die im Detail in dieser Ausarbeitung nicht behandelt werden.
[32] Vgl. Durkin 2002, S. 61
[33] Durkin 2002, S. 62
[34] Vgl. Schmidt-Denter 1996, S. 29f.
[35] Vgl. Kasten 2005, S. 65ff.
[36] Kasten 2005, S. 66
[37] Vgl. Klein 2002, S. 20ff.
[38] Klein 2002, S. 20
[39] Klein 2002, S. 20; zit. n. Werner 1999, 26
[40] Klein 2002, S. 21; nach: Laucht, Esser, Schmidt 1999
[41] Klein 2002, S. 21, zit. n. Largo 1995, 17
[42] Klein 2002, S. 21f., zit. n. Neuhäuser 2000, 44
[43] Klein 2002 [(sic!)]
[44] Vgl. Klein 2003, S. 359ff.
[45] Vgl. Rasenack 2003; Zahlen sind nicht bekannt
[46] Zahlen liegen nicht vor.
[47] Genaue Zahlen wurden nicht genannt.
[48] Zahlen sind nicht genannt (Anm. d. Verf.).
[49] Soer/Stratenwerth 1991, S. 53ff [(sic!)]
[50] Vgl. v. Soer/Stratenwerth 1991, S. 185f.
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