Mein Dozent schreibt zur Arbeit: "Beide Gedichte analysieren und interpretieren Sie äußerst treffend und gründlich. Dabei setzen Sie Informationen über beide Autoren äußerst zweckmäßig ein, führen beider Poetik auf Grundlagen des dialektischen Materialismus zurück, verwerten also (zum Teil kritisch) die Sekundärliteratur und diskutieren auch den Parodiebegriff auf sehr originelle, wiederum zweckmäßige Weise. Sehr Gut!"
Inhaltsverzeichnis
1 Bertolt Brechts „Fragen eines lesenden Arbeiters“: Allgemeines, Formales, Strukturelles
2 Volker Brauns „Fragen eines Arbeiters während der Revolution“: Allgemeines, Formales, Strukturelles
3 Brecht in der Tradition der dialektischen Aufklärung
4 Braun in der Tradition Brechts
5 Handelt es sich um eine Parodie?
6 Abschlussbetrachtung
Bertolt Brecht: Fragen eines lesenden Arbeiters
Wer baute das siebentorige Theben?
In den Büchern stehen die Namen von Königen.
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?
Und das mehrmals zerstörte Babylon –
Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern
Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?
Wohin gingen an dem Abend, wo die chinesische Mauer fertig war
Die Maurer? Das große Rom
Ist voll von Triumphbögen. Wer errichtete sie? Über wen
Triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene Byzanz
Nur Paläste für seine Bewohner? Selbst in dem sagenhaften Atlantis
Brüllten in der Nacht, wo das Meer es verschlang,
Die Ersaufenden nach ihren Sklaven.
Der junge Alexander eroberte Indien.
Er allein?
Cäsar schlug die Gallier.
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?
Phillip von Spanien weinte, als seine Flotte
Untergegangen war. Weinte sonst niemand?
Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer
Siegte außer ihm?
Jede Seite ein Sieg.
Wer kochte den Siegesschmaus?
Alle zehn Jahre ein großer Mann.
Wer bezahlte die Spesen?
So viele Berichte.
So viele Fragen.
Volker Braun: Fragen eines Arbeiters während der Revolution
So viele Berichte.
So wenig Fragen.
Die Zeitungen melden unsere Macht.
Wie viele von uns
Nur weil sie nichts zu melden hatten
Halten noch immer den Mund versteckt
Wie ein Schamteil?
Die Sender funken der Welt unsern Kurs.
Wie, an den laufenden Maschinen, bleibt
Uns eine Wahl zwischen zwei Hebeln?-
Auf den Plätzen stehn unsere Namen.
Steht jeder auf dem Platz
Die neuen Beschlüsse
Zu verfügen? Manche verfügen sich nur
In die Fabriken. Auf den Thronen sitzen
Unsre Leute: fragt ihr uns
Oft genug? Warum
Reden wir nicht immer?
1 Bertolt Brechts „Fragen eines lesenden Arbeiters“: Allgemeines, Formales, Strukturelles
Bertolt Brecht schrieb das Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“ 1935 in Dänemark. Es steht am Anfang des dritten Kapitels der Svendsborger Gedichte. Die Überschrift gibt über die formalen Merkmale des Gedichts Auskunft, das zum großen Teil aus Fragen besteht.
Inhaltlich ist sie typisch für Brecht: Ein Angehöriger der unteren sozialen Schicht liest in den Büchern und versucht so autodidaktisch, sich zu bilden. Diesen Prozess, der unpersönlich und damit beispielhaft und vorbildlich bleibt, zeigt Brecht mit seinem Gedicht.
Das Gedicht ist in vier Strophen aufgeteilt. Es beginnt mit zwei langen Strophen mit dreizehn und acht Versen an die sich zwei kürzere mit vier und zwei Versen anschließen. Die Lektüre des Arbeiters wird in den ersten beiden Strophen deutlich. Er liest in einem gewöhnlichen Geschichtsbuch, in dem die Historie auf repräsentative Träger reduziert wird. Die erste Strophe besteht aus acht Fragen, die dreimal durch eine kurze Feststellung in Form von zwei selbständigen Aussagesätzen und einem Anakoluth ergänzt werden. Die Fragen und Aussagen beziehen sich ausnahmslos auf Bauwerke oder Städte. Die letzte Fragestellung bezieht sich wieder auf eine Stadt, und wie zuvor wird auch hier der in den Geschichtsbüchern vorhandenen Widerspruch zwischen den Repräsentanten der großen Kulturen und ihren Arbeitern von Brecht deutlich gemacht.
In der zweiten Strophe wird dreimal danach gefragt, wer den Sieg großer Feldherren wirklich errang und wen die Niederlagen schmerzten. Aus mehreren Gründen lässt sich der Ausschnitt, den Brecht aus der Geschichtsschreibung wählt, verallgemeinern: Die historischen Leistungen werden entweder von Personen oder von Bauwerken repräsentiert und umfassen sowohl die militärischen und zivilen Ereignisse der Geschichte. Der Anspruch der Allgemeingültigkeit wird dadurch verstärkt, dass keine chronologische Ordnung und auch keine Reihenfolge nach der Wichtigkeit des Geschehenen vorliegen. Die Ereignisse wirken deshalb wie willkürlich gewählt und stehen als pars pro toto.
Die Fragesätze sind in Brechts Gedicht Träger des Frag-Würdigen. Die Form unterstützt bei Brecht die intendierte Funktion des Gedichts, weil sie den Leser zum Nachdenken anregt. Es drängt sich die Frage auf, ob es sich bei den „Fragen eines lesenden Arbeiters“ überhaupt um ein Gedicht handelt. Es treten keine Reime auf und das daktylische Versmaß wird immer wieder unterbrochen, so dass beim Lesen ein gleichmäßiger Rhythmus verhindert wird, der sich jedoch in einigen Versen (z.B. 1, 12, 13) einstellt. Das mehrfach gebrauchte Enjambement als Spannungsbogen und das Stakkato vieler Sätze bringen wiederum einige lyrische Elemente in das Gedicht. Weil Brecht auf mehr rhetorische Mittel, Reime und ein durchgehendes Versmaß verzichtete, korrespondiert die Form mit dem Inhalt. Brecht wählt die prosaische Sprechweise des Arbeiters, der im Zentrum seines Gedichts steht. Besonders deutlich ist dies in Vers 7: Ein temporaler Nebensatz wird mit der Apposition „wo“ eingeleitet, die grammatikalisch richtig eigentlich einen lokalen Nebensatz einleiten müsste. Die Frage, ob Brecht dieser Fehler unterlief oder er ihn absichtlich als didaktisches Mittel einsetzte, ist nicht geklärt.
Den Antagonismen Geschichtsschreibung (Repräsentanten) / Arbeiter wird durch die Ausdrucksweise ein weiterer zugefügt. Brecht gibt die Berichte der Geschichtsbücher so wieder, wie sie üblich sind: Das „siebentorige Theben, das „goldstrahlende Lima“ und das „sagenhafte Atlantis“ sind Beispiele für eine idealisierende und klischeehafte Ausdrucksweise. Sie steht im Gegensatz zu der einfachen Ausdrucksweise, die Brecht neben die pathetische setzt. Der zentrale Gegensatz Herrschende / Arbeiter wird somit von der Wortwahl unterstrichen. Dadurch wirkt das Gedicht an einigen Stellen komisch und grotesk, wodurch die Illusion der Geschichtsschreibung aufgehoben wird, indem ein kleiner Ausschnitt der Wirklichkeit entgegengesetzt wird, der eigentlich unbedeutend ist, aber durch sein Maß an Realität die Verhältnisse erleuchtet. Brecht schreibt:
„Cäsar schlug die Gallier.
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?“ (V: 16 / 17)
Die Gegenüberstellung wirkt grotesk, weil die Vorstellung komisch ist, dass ein großer Feldherr wie Cäsar in einem Abhängigkeitsverhältnis zu seinem Koch stand. Diese Komik wird dadurch unterstützt, dass der pathetischen Ausdrucksweise in Vers 16 eine umgangssprachliche folgt. Ebenso, wie Cäsar dem Koch gegenübergestellt wird, werden andere semantische Gruppierungen gewählt, wie zum Beispiel „Könige“ / „Felsbrocken herbeischleppen“, „goldstrahlendes Lima“ / „Wohnung der Bauleute“ und „Sieg“ / „Siegesschmaus“. Die Gegensatzpaare haben auf den Leser eine desillusionierende Wirkung, durch die die Wirklichkeit deutlicher wird.
Die Korrespondenz von Form und Funktion ist der Grund, warum Reime fehlen. Das Gedicht kritisiert die Schönheit und entlarvt sie als Fassade. Der Glanz des Großen wird als Grund für das Elend der Kleinen beschrieben, und deshalb ist der Anspruch der sprachlichen Ästhetik an das Gedicht nicht angebracht.
Ebenso wie der sprachliche Ausdruck ist auch die Anzahl der Verse ein didaktisches Mittel, das zur Kernaussage führt. Die Anzahl der Verse pro Strophe nimmt an Umfang ab, die Konzentration der Aussage nimmt zu. Die statischen Denkmäler der Geschichte werden in den 13 Versen der ersten Strophe beschrieben. Es folgt eine Einengung der Form und im Druckbild bei den acht Versen der zweiten Strophe, die inhaltlich die dynamischen Persönlichkeiten behandelt. Den acht Versen folgen vier in der dritten Strophe. Der erste der vier Verse schlägt einen Bogen zum Titel und hebt die dort angedeutete Situation ins Gedächtnis. Die Frage, die nun folgt, verlangt als Antwort wie die vorigen die im Titel genannte Person des Arbeiters. Der vierte Vers der dritten Strophe gleicht einem Fazit: „Wer bezahlte die Spesen?“ (V: 25). Die Gedankenpyramide endet in der vierten Strophe, die nur noch aus zwei Versen besteht, scheinbar genauso, wie das Gedicht anfing:
„So viele Berichte.
So viele Fragen.“ (V: 26 / 27)
Kurt Bräutigam schreibt dazu: „Isoliert man den ersten Vers des Gedichts, dem kein Bericht zugeordnet ist, so ergibt sich für die einzelnen Strophen (Versblöcke) ein Zeilenverhältnis von 12:8:4:2, ein Bauschema, das wie ein Trichter den Gedankenfluss auf den lapidaren Schluss hinlenkt. Der Kreis schließt sich, die Fragen bleiben offen.“ (1977, S.51). Damit hat Bräutigam nur bedingt Recht. Die Fragen bleiben nicht völlig offen und der Bogen zum Titel wird am Ende nur geschlagen, um die Antwort zu verdeutlichen. Durch die Fragen wird die Geschichtsschreibung als Illusion und die Geschichte als ungerecht kritisiert. Im Folgenden wird gezeigt, dass für Brecht die Frage, welche Lösung es aus diesen Antagonismen gibt, keineswegs offen blieb.
2 Volker Brauns „Fragen eines Arbeiters während der Revolution“: Allgemeines, Formales, Strukturelles
Das Gedicht „Fragen eines Arbeiters während der Revolution“ wurde von Volker Braun in der DDR geschrieben, 1970 veröffentlicht und behandelt die Rolle des Menschen im Sozialismus. In der dritten Auflage heißt es ironisch: „Fragen eines regierenden Arbeiters“. Das Gedicht knüpft offensichtlich direkt an Brechts Gedicht an. Der Bezug wird von Braun schon mit der Überschrift nahe gelegt. Die Beziehung der Überschriften charakterisiert sehr gut die der Gedichte: Eine Methode Brechts wird aufgegriffen und um den zeitspezifischen Aspekt erweitert. Auch in den ersten Zeilen ist die Analogie deutlich: Die erste Zeile ist identisch mit der vorletzten Zeile von Brechts Gedicht. Die zweite Zeile gleicht der letzten Brechts bis auf ein Wort. Braun ersetzt „viele“ durch „wenig“ und baut somit ein doppeltes Gegensatzpaar auf: Die zweite Zeile steht im Widerspruch zur ersten und zur letzten Brechts.
Die ersten beiden Zeilen gliedern das Gedicht. In der ersten Zeile heißt es: „So viele Berichte.“ Die zweite lautet: „So wenig Fragen.“. Ab der dritten Zeile folgen abwechselnd Aussagesätze, die die erwähnten Berichte näher beschreiben, und Fragesätze, die das in der zweiten Zeile angesprochene Defizit näher kennzeichnen. Diese Struktur wird bis zu den letzten vier Zeilen aufrecht gehalten. Dementsprechend arbeitet Braun konsequenter als Brecht mit Satzzeichen. Dreimal folgt auf einen Aussagesatz ein Fragesatz, der die zuvor gemachte Aussage in Frage stellt. Dabei baut Braun durch diese drei Paare nicht so starke Widersprüche auf, wie es Brecht in seinem Gedicht macht. Brecht zeigt die bestehenden Widersprüche zwischen Herrschenden und Beherrschten direkt und besonders pointiert auf. Braun geht es um einen ähnlichen Widerspruch, den er im Unterschied zu Brecht weniger klar äußert. Erst in der 15. Zeile des Gedichts werden die Herrschenden in Abgrenzung zu den Beherrschten genannt: „…fragt ihr uns...“. Und diese Abgrenzung geschieht nicht, ohne vorher klar zu stellen, dass die Herrschenden mit zu den Beherrschten gehören:
„Auf den Thronen sitzen
Unsre Leute. (V. 15 / 16).
Braun geht es also ebenso wie Brecht um das Verhältnis zwischen Herrschenden und Beherrschten. Er stellt im Gegensatz zu Brecht nicht die existierenden Herrschaftsverhältnisse grundsätzlich in Frage sondern nur die Art zwischen Herrschenden und Beherrschten. Die drei Aussagesätze, denen Fragesätze folgen, stehen zwischen der ersten und den eben zitierten Versen, und auf sie beziehen sie sich. Die Aussagesätze kennzeichnen das Verhältnis der Regierenden mit Bezug auf die Berichte:
„Die Zeitungen melden unsere Macht.“ (V. 3)
„Die Sender funken der Welt unsern Kurs.“ (V. 8)
„Auf den Plätzen stehn unsere Namen.“ (V. 11)
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