„Was die Sittlichkeit betrifft“ – so beginnt der Teil der Kellerschen Novelle, der in der endgültigen Fassung gestrichen wurde. Bezug nehmend auf den Selbstmord des Liebespaares leitet der Erzähler mit diesen vier Worten eine „moralisierende[n] Reflexion“ ein, die den Sittenverfall in den „gebildeten Ständen“ (605) und die Bereitschaft des „niedern Volke[s]“ (605) zum „Sterben[s] für eine Herzenssache“ (605) thematisiert.
Das Zitat im Titel der vorliegenden Arbeit deutet auf den Schwerpunkt in der weitgehend textanalytischen Untersuchung der Liebesbeziehung, die Gottfried Keller in „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ erzählt, hin. Es soll herausgearbeitet werden, welche Schwerpunkte in Bezug auf Fragen der Moralität und des gesellschaftlichen Wertesystems durch den Erzähler gesetzt werden. Somit möchte die folgende Analyse zuerst auf den moralischen Verfall der Väter der beiden Liebenden eingehen und danach die „praktische“ Sittlichkeit des Liebespaares, sowie die Gründe für das - sich bereits früh abzeichnende - tragische Ende ihrer Liebesbeziehung beleuchten. Abschließend soll die Problematik der unterschiedlichen Schlussfassungen behandelt werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Sittlich-moralischer Niedergang der Väter im Vorfeld der Liebesbeziehung
3. Die „praktische“ Sittlichkeit der beiden Liebenden
4. Herkunft und gegenwärtige Situation führen wegen des moralischen Verantwortungsbewusstseins der Liebenden in den Freitod
5. Zur Problematik der unterschiedlichen Schlussfassungen
Literaturverzeichnis
Primärliteratur:
Sekundärliteratur:
1. Einleitung
„Was die Sittlichkeit betrifft“[1] – so beginnt der Teil der Kellerschen Novelle, der in der endgültigen Fassung gestrichen wurde. Bezug nehmend auf den Selbstmord des Liebespaares leitet der Erzähler mit diesen vier Worten eine „moralisierende[n] Reflexion“[2] ein, die den Sittenverfall in den „gebildeten Ständen“ (605) und die Bereitschaft des „niedern Volke[s]“ (605) zum „Sterben[s] für eine Herzenssache“ (605) thematisiert.
Das Zitat im Titel der vorliegenden Arbeit deutet auf den Schwerpunkt in der weitgehend textanalytischen Untersuchung der Liebesbeziehung, die Gottfried Keller in „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ erzählt, hin. Es soll herausgearbeitet werden, welche Schwerpunkte in Bezug auf Fragen der Moralität und des gesellschaftlichen Wertesystems durch den Erzähler gesetzt werden. Somit möchte die folgende Analyse zuerst auf den moralischen Verfall der Väter der beiden Liebenden eingehen und danach die „praktische“ Sittlichkeit des Liebespaares, sowie die Gründe für das – sich bereits früh abzeichnende – tragische Ende ihrer Liebesbeziehung beleuchten. Abschließend soll die Problematik der unterschiedlichen Schlussfassungen behandelt werden.
2. Sittlich-moralischer Niedergang der Väter im Vorfeld der
Liebesbeziehung
Manz, der Vater von Sali, und Marti, der Vater von Vrenchen, werden am Anfang der Novelle als Männer dargestellt, die „auf den ersten Blick den sichern, gutbesorgten Bauersmann“ (65) verkünden. Doch die Idylle, in der sich das Leben der Bauern abzuspielen scheint, wird durch viele verschiedene, versteckte Vorausdeutungen zur „scheinbaren Idylle“[3]. Auch im angeführten Zitat wird das durch die Einschränkung „auf den ersten Blick“ deutlich. Ihre moralische Integrität, die bei solch einer – scheinbar vollkommen geordneten – Lebenssituation auf der Hand zu liegen scheint, wird durch die Diskrepanz zwischen ihrem äußeren Erscheinungsbild auf der einen Seite und ihrem Reden und Handeln auf der anderen Seite relativiert. Belege hierfür finden sich, wenn man ihre „Pseudomoralität“ im Licht ihres unrechtmäßigen Handelns, das mit dem Pflügen der ersten Furche in den herrenlosen Acker beginnt, betrachtet.[4] Dieses unkorrekte Verhalten, das sie beim jeweils anderen stillschweigend duldeten, wird mit dem Tag der Versteigerung des herrenlosen Ackers, der schließlich Manz zufällt, zum Kern ihres Konfliktes.[5] Hätten sie nämlich rechtlich-moralisch aufrichtig gehandelt und auf die unrechtmäßige Aneignung verzichtet, wäre der Streit, in dessen Verlauf sie sich beide durch hartnäckiges Prozessieren zugrunde richten,[6] überflüssig gewesen.
Der Niedergang der Väter ist so entscheidend, weil dadurch die Vorzeichen für die spätere Liebesbeziehung zwischen Sali und Vrenchen gesetzt werden. Das Verarmen seines Vaters führt dazu, dass Sali nichts „Rechtes lernte“ (82) und Vrenchen nichts als Aussteuer bekommen konnte, da auch ihr Vater allen Besitz verliert. So bleibt ihnen später nur die Option sich „als Soldat, Knecht oder Magd zu verdingen“[7] oder zusammen in den Tod zu gehen. „Jegliche ökonomische Existenzgrundlage“[8] für eine Ehe wird ihnen – abgesehen von der familiär-gesellschaftlichen Basis, auf der eine Beziehung stehen sollte – durch den erbitterten Streit ihrer Väter genommen. An dieser und anderen Tatsachen lässt sich feststellen, dass „der erste Teil der Erzählung die unbedingt notwendige Voraussetzung des zweiten“[9] ist.
Denn die, sich aus der Feindschaft der Väter ergebenden, katastrophalen Lebensumstände führen die beiden Liebenden in eine „totale soziale Ortlosigkeit“[10], die sich nach Schmitz’ Argumentation in der „Bewegung permanenten Wanderns“[11] am letzten Sonntag im Leben der Liebenden ausdrückt. Die Väter bringen durch ihren moralischen Niedergang, der den gesellschaftlich-existenziellen Ruin bedingt und sich in dem absurden, unnötigen Rechtsstreit um eine „Belanglosigkeit“[12] artikuliert, ihre Kinder in eine Lebenssituation, die sie in den gemeinsamen Freitod treibt.
Koebner bezeichnet die beiden Bauern insofern zu Recht als „Narren der Uneinsichtigkeit“[13], als sie gar nicht mehr wie solche handeln, die es gewohnt sind, die Furchen auf den weiten Feldern zu bemessen[14], sondern indem sie gleichsam kurzsichtig nur den zum Feind gewordenen Nachbarn als Schuldigen sehen.[15] Sie sind so verantwortungslos geworden, dass sie nicht mehr in der Lage sind, die Tragweite ihres „selbstzerstörerischen Wahn[s]“[16] abzuschätzen. Im jeweiligen Fehlverhalten der Bauern wird die „verborgene Bereitschaft zur Ungerechtigkeit“[17] sichtbar; diese Bereitschaft mündet bei Manz in der Hehlerei[18] und Vrenchens Vater endet als „Irrer im Spital“[19], gleichsam als Strafe für die Misshandlung seiner Tochter. Der gesellschaftliche, finanzielle und vor allem der moralische Abstieg der Väter hat seinen tiefsten Punkt erreicht. Salis Distanz zu seinem Vater, die aufgrund der Kriminalität Manzens sicherlich auch moralische Gründe hat, ist sogar so groß, dass er nicht einmal den einen Gulden, den ihm sein Vater für das sonntägliche Mittagessen geben möchte, annehmen will.[20]
3. Die „praktische“ Sittlichkeit der beiden Liebenden
Dass die Geschichte der Väter der Liebesbeziehung, auf die bereits der Titel referiert, als „notwendige Voraussetzung“[21] für ihren Verlauf vorangestellt werden musste, haben wir gesehen. Im zweiten Teil der Erzählung, der, obwohl er einen wesentlich kleineren Zeitraum schildert, einen deutlich größeren Umfang in der Novelle einnimmt,[22] wird die moralisch „rein[e] und tief[e]“[23] Liebe der Bauernkinder, die sich in der Intensität stetig steigert, geschildert. Diese Liebe wird soweit intensiviert, dass der „Liebespartner zum Totalitätsrepräsentanten“[24] wird, weil sich jeglicher Bezug zur gesellschaftlichen Außenwelt in der „Absolutheit“[25] der Liebe verliert.
Doch gerade in der Ausgestaltung dieser Liebesbeziehung legt der Erzähler großen Wert darauf, die Sittlichkeit der Liebenden und somit ihre Liebe als solche als „beispielhaft“[26] darzustellen.
Der Erzähler benutzt während des sonntäglichen, letzten Ausflugs des jungen Paares die gastgebenden Wirtsleute, die sie wiederholt für ein rechtmäßiges Brautpaar halten,[27] um die Sittsamkeit der Braut (Vrenchen) und die Sorgfalt des Bräutigams (Sali) herauszustellen. Sali und Vrenchen benehmen sich fast automatisch so, wie es in der bürgerlichen Gesellschaft von einem „ehrbar[en]“ (120) Hochzeitspaar erwartet wird. Dort, wo keiner ihre Herkunft kennt und sie somit nicht unter dem unguten, moralischen Vorzeichen ihrer Eltern stehen, erscheint – allein auf der Grundlage ihres „sittsam[en]“ (122) Verhaltens – ein Zusammengehören „von Rechts wegen“ (119) beinahe möglich. Aber eben nur beinahe, wie im vierten Kapitel noch ausführlicher erläutert werden soll.
Auch schon vor dem letzten Tag, der den finalen Schlusspunkt ihrer Liebesbeziehung bringen sollte, zeigt sich in vielen Dingen die „praktische“ Sittlichkeit der jungen Menschen.
[...]
[1] Keller, Gottfried: Romeo und Julia auf dem Dorfe. In: Keller, G.: Die Leute von Seldwyla (hrsg. von Bernd Neumann). Stuttgart 1993. S.605
Alle weiteren Zitate werden in Klammern im fortlaufenden Text nachgewiesen.
[2] Selbmann, Rolf: Gottfried Keller. Romane und Erzählungen. Berlin 2001. S.62
[3] Schmitz, Michael: Um Liebe, Leben und Tod: zur Struktur und Problemreferenz von Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe. In: Wirkendes Wort 52 (2002). Heft 1. S.69
[4] Vgl. Keller, G.: Romeo und Julia auf dem Dorfe. S.67-69 u. S.72/73
[5] Vgl. Richter, Hans: Gottfried Kellers frühe Novellen. Berlin 1960. S.116/117
[6] Vgl. Keller, G.: Romeo und Julia auf dem Dorfe. S.77
[7] Koebner, Thomas: Gottfried Keller: Romeo und Julia auf dem Dorfe. Die Recherche nach den Ursachen eines Liebestods. In: Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts. Band 2. Stuttgart 1990. S.217
[8] Schmitz, M.: Um Liebe, Leben und Tod. S.71
[9] Richter, H.: Kellers frühe Novellen. S.122
[10] Schmitz, M.: Um Liebe, Leben und Tod. S.73
[11] Ebd.
[12] Kaiser, Gerhard: Gottfried Keller. Das gedichtete Leben. Frankfurt am Main 1981. S.298
[13] Koebner, T.: Recherche nach den Ursachen eines Liebestods. S.214
[14] Vgl. Keller, G.: Romeo und Julia auf dem Dorfe. S.65
[15] Vgl. Koebner, T.: Recherche nach den Ursachen eines Liebestods. S.213
[16] Ebd.
[17] Kaiser, G.: Das gedichtete Leben. S.298
[18] Vgl. Keller, G.: Romeo und Julia auf dem Dorfe. S.108
[19] Kaiser, G.: Das gedichtete Leben. S.298
[20] Vgl. Keller, G.: Romeo und Julia auf dem Dorfe. S.112
[21] Richter, H.: Kellers frühe Novellen. S. 122
[22] Die Zäsur ist nach Richter (S.121) nach dem Kampf der beiden Bauern auf der Brücke und der ersten Begegnung zwischen Sali und Vrenchen zu sehen (vgl. Keller, G.: Romeo und Julia auf dem Dorfe. S.91/92)
[23] Richter, H.: Kellers frühe Novellen. S.126
[24] Schmitz, M.: Um Liebe, Leben und Tod. S.74
[25] Kaiser, G.: Das gedichtete Leben. S.301
[26] Richter, H.: Kellers frühe Novellen. S.127
[27] Vgl. Keller, G.: Romeo und Julia auf dem Dorfe. S.119/120 und S.122/123
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