Einleitung
Verortung dieser Arbeit im Kontext des postkolonialen Diskurses
Im Rahmen dieser Examensarbeit habe ich mich mit den gesellschaftlichen Diskursen befasst, in denen Rassismus als ein Strukturmerkmal funktioniert. Meine Bearbeitung dieses Themas bezieht sich auf den Westen bzw. die Konstruktion des Westens. Aktuelle Relevanz ist gegeben durch die jüngere Darstellung des Orients und des Westens in Medien und Politik gerade seit dem 11. September 2001. Dabei ist für mich von besonderem Interesse, in welchem Rahmen ‚rassistische’ Diskurse stattfinden, was sie nützlich macht und aufrecht erhält. In diesem Zusammenhang beschäftige ich mich auch mit der Frage nach Identität, da ich die Beschaffenheit von Identität als untrennbar verbunden mit Abgrenzungs- und Identifikationsprozessen sehe.
Ich stütze mich in dieser Arbeit hauptsächlich auf Quellen aus dem anglo-amerikanischen Raum, jedoch auch auf europäische Texte aus England und Deutschland. In englischer Sprache gibt es eine anregende Fülle von Literatur zum postkolonialen Diskurs.
Mit dieser Arbeit möchte ich einen groben Umriss der geschichtlichen Zusammenhänge geben, in denen das Bild des Westens und seiner Antagonisten - des Ostens und Afrikas, der „Dritten Welt“ - als solches erwuchs und beleuchten, wie und weshalb rassistische Strukturen Teil des Fundaments der westlichen philosophischen / politischen Ordnung darstellen und dieses sichern, und ferner, wie sich innerhalb oder auch jenseits dessen Identitäten entwickeln und bedingen können.
Parallel dazu möchte ich die Ansätze einiger TheoretikerInnen, die sich mit postkolonialer Theorie beschäftigen, darstellen, um mir persönlich wichtige Anregungen und Sichtweisen vorzustellen.
Der scheinbar fundamentale Widerspruch zwischen Begriffen wie dem des Westens als reine, hohle Konstruktion und denselben Begriffen, die gleichwohl soziale Interaktion bestimmen, ist ein Kernpunkt dieser Arbeit.
Um die heutige Situation von Migranten, sowie die Beziehungen von indigenen und „zugewanderten“ Völkern und Individuen in der jetzigen Zeit annähernd nachvollziehen und die eigene Position ausmachen zu können, ist es als wichtig, sich der herrschenden Diskurse bewusst zu werden und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Gesellschaftliche Diskurse bedingen die Perspektive aller Handelnden. Auch die Art der Unterscheidung, die zwischen dem Umfeld und dem Ich als Subjekt gemacht wird, hängt ab von gesellschaftlichen Diskursen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1. Verortung dieser Arbeit im Kontext des postkolonialen Diskurses
1.2. Inhaltlicher Aufbau
2. Rassistische Diskurse
2.1. Sprache und Diskurs
2.2. Das Konstrukt eines homogenen Westens
2.3. Prozesse der Reproduktion von Rassismen – „keeping western culture white“
2.4. Multikulturalismus als Lebensstil und rassistisches Strukturmerkmal
2.5. Hybridität
2.6. Dualismus als westliches Prinzip
2.7. Zur Möglichkeit eines Diskurses jenseits westlich geprägter Struktur
3. Rassismen und der Bedarf an Identifikation
3.1. Zur Funktion von Rassismen: die Konstruktion des Begriffs der Rasse
3.2. Rassistische Praktiken – eine Beschreibung sozialer Prozesse
3.3. Rasse / Ethnie / Nation : Parallelen dreier Begriffe
3.4. Der Sinn von Identität
3.5. Das Prinzip des „Anderen“ – Identitätskonstruktion mittels Abgrenzung
3.6. Ethnizität als Erfindung des Westens: Nationen als Ideologie der Moderne
4. Theoretische Ausgangspunkte
4.1. Das Verständnis von kultureller Differenz bei Ien Ang und Mark Terkessidis
4.2. Ethnizität und kulturelle Identität bei Stuart Hall :
4.3. Identität und der Status des „Anderen“ bei May Ayim
5. Ausblick
5.1. Der Beitrag des postkolonialen Diskurses zur Schaffung eines neuen Verständnisses von Identität
6. Bibliographie
1. Einleitung
1.1. Verortung dieser Arbeit im Kontext des postkolonialen Diskurses
Im Rahmen dieser Examensarbeit habe ich mich mit den gesellschaftlichen Diskursen befasst, in denen Rassismus als ein Strukturmerkmal funktioniert. Meine Bearbeitung dieses Themas bezieht sich auf den Westen bzw. die Konstruktion des Westens. Aktuelle Relevanz ist gegeben durch die jüngere Darstellung des Orients und des Westens in Medien und Politik gerade seit dem 11. September 2001. Dabei ist für mich von besonderem Interesse, in welchem Rahmen ‚rassistische’ Diskurse stattfinden, was sie nützlich macht und aufrecht erhält. In diesem Zusammenhang beschäftige ich mich auch mit der Frage nach Identität, da ich die Beschaffenheit von Identität als untrennbar verbunden mit Abgrenzungs- und Identifikationsprozessen sehe.
Ich stütze mich in dieser Arbeit hauptsächlich auf Quellen aus dem anglo-amerikanischen Raum, jedoch auch auf europäische Texte aus England und Deutschland. In englischer Sprache gibt es eine anregende Fülle von Literatur zum postkolonialen Diskurs.
Mit dieser Arbeit möchte ich einen groben Umriss der geschichtlichen Zusammenhänge geben, in denen das Bild des Westens und seiner Antagonisten - des Ostens und Afrikas, der „Dritten Welt“ - als solches erwuchs und beleuchten, wie und weshalb rassistische Strukturen Teil des Fundaments der westlichen philosophischen / politischen Ordnung darstellen und dieses sichern, und ferner, wie sich innerhalb oder auch jenseits dessen Identitäten entwickeln und bedingen können.
Parallel dazu möchte ich die Ansätze einiger TheoretikerInnen, die sich mit postkolonialer Theorie beschäftigen, darstellen, um mir persönlich wichtige Anregungen und Sichtweisen vorzustellen.
Der scheinbar fundamentale Widerspruch zwischen Begriffen wie dem des Westens als reine, hohle Konstruktion und denselben Begriffen, die gleichwohl soziale Interaktion bestimmen, ist ein Kernpunkt dieser Arbeit.
Um die heutige Situation von Migranten, sowie die Beziehungen von indigenen und „zugewanderten“ Völkern und Individuen in der jetzigen Zeit annähernd nachvollziehen und die eigene Position ausmachen zu können, ist es als wichtig, sich der herrschenden Diskurse bewusst zu werden und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Gesellschaftliche Diskurse bedingen die Perspektive aller Handelnden. Auch die Art der Unterscheidung, die zwischen dem Umfeld und dem Ich als Subjekt gemacht wird, hängt ab von gesellschaftlichen Diskursen.
Eine so einschneidende Epoche des Wandels wie der europäische Imperialismus ist von grossem Einfluss auf die jeweiligen Diskurse und wurde durch sie erst hervorgebracht. Ich denke, es ist hilfreich, diese Vorgänge in neuen Zusammenhängen zu beleuchten und sprachliche Begriffe zu hinterfragen.
Nationalismus als Phänomen der Neuzeit ist beispielsweise keine Selbstverständlichkeit und lässt sich nur im Zusammenhang mit der Zuschreibung von Ethnizität erklären. Ob das Aufkommen von Ideologien innerhalb eines bestimmten Wertekanons häufig oder selten ist, lässt sich nur aus dem Zusammenhang heraus nachvollziehen.
Postkoloniale Theorie ist in meinem Verständnis kein Teilbereich, sondern ein Forschungsfeld, das grundlegend neue Betrachtungsweisen vorschlägt. Es bewegt sich bestenfalls jenseits des bisherigen Blickwinkels von Opfern auf der einen und Tätern auf der anderen Seite, jenseits der Dualismen von Passivität und Aktivität, die sich gegenseitig ausschliessen und nur in jeweils absoluter Form möglich sind. Jedoch reihte es sich in das dualistische Denken ein, anzunehmen, es gäbe „den Postkolonialismus“ als einen Kanon, der einen Slogan, einen Weg und ein Ziel hat. Postkolonialismus als monolithisches solches gibt es nicht, vielmehr fasst der Begriff eine Vielzahl von Ansichten, Aufsätzen und Theorien zusammen, die sich auch widersprechen können.
Die Existenz von Postkolonialismus als Theoriekörper zeigt die fortdauernde Auseinandersetzung von Kultur und Identität in einem Zeitalter veränderter Kulturformation und Globalisierung an.
Indem kritische Arbeiten der postkolonialen Theorie Zuschreibungen von Handlungsaktivität nicht pauschal bei der einen oder anderen Seite suchen, bzw. sagen, dass es die eine und die andere Seite gar nicht gibt, schaffen sie Neuland jenseits der bisherigen grundlegenden Betrachtungsweise. Ambivalenz ist eine zentrale Vokabel im postkolonialen Diskurs, die sich z.B. in der Bedeutungsumformung des Begriffes der Hybridität widerspiegelt. Negative und positive Stigmatisierung wird aufgebrochen und so eine Bewegung innerhalb des sozialen Geschehens erkannt.
Die Thematik rassistischer Strukturen und des Postkolonialismus stellte sich mir als äusserst komplex dar, einmal da sie grosse historische, politische und psychologische Dimensionen hat, die sich über weite Zeit- und Kulturräume erstrecken, und sich diese Dimensionen in jedem Winkel des täglichen Lebens wiederfinden. Darüberhinaus auch deshalb, weil es wie zuvor erwähnt, „den“ Postkolonialismus nicht gibt, sondern eine Vielfalt von Ansätzen, Meinungen und Aufsätzen. Besonders die Auseinandersetzung mit Rassismen stellt eine grosse Herausforderung dar. „ Kaum ein anderes Feld wissenschaftlicher Arbeit ist komplizierter, verwirrender und belasteter als das des Rassismus.“ stellt Mark Terkessidis fest. Dieser Ansicht teile ich nach Fertigstellung dieser Arbeit ebenfalls. (Terkessidis, S. 255) Auseinandersetzungen mit Rassismus setzen das Beziehen einer Position voraus, gleichzeitig macht die Belastung des Themas es schwer, nicht in binären Denkmustern zu verharren. Auch die Tatsache, dass Rassismus jede Art von Handeln in einem gesellschaftlichen Kontext betrifft, macht eine Auseinandersetzung damit aus einer Position darin äusserst schwierig. Sie verlangt kritische Selbstbetrachtung und einen Blick, der den eigenen Faden dennoch nicht verliert.
Mehr noch als diese Komponenten ist es aber die Möglichkeit völlig neuer Sicht- und Herangehensweisen, die eine grosse Herausforderung postkolonialer Theorie ist. Diese 1Möglichkeit scheint mir jedoch gerade in der wissenschaftlichen Analyse der postkolonialen Theorie am herausforderndsten, gerade weil es sich um eine Theorie handelt, die sich noch nicht an den Umsetzungsschwierigkeiten der Praxis abgeschliffen hat.
In „anderen“ Kategorien und aus „anderer“ Perspektive als der bisherigen zu sehen und zu schreiben ist eine Chance, die Welt durch post-koloniale Sicht neu zu konstruieren – jedoch innerhalb der alten Mittel europäischer Sprache und der schriftlichen Wiedergabe sowie innerhalb einer konventionellen akademischen Form - ich bin mir dessen bewusst und habe mich bemüht, nicht jedes zweite Wort in Anführungszeichen zu setzen. Aus alten Bausteinen neues zusammenzusetzen und innerhalb dessen die Bausteine zu verändern ist eine vielschichtige Angelegenheit. Es ist nicht nur eine Sache des Territoriums, sondern des Bewusstseins, wie das „koloniale Subjekt“ hier wie dort konstruiert wird.
Diese Arbeit stellt eine Skizze dar, die an die Aktualität und Komplexität mehrerer miteinander verbundene Themenbereiche erinnern möchte – jedoch ist sie eine im Vergleich zur Bandbreite der „Einzel“themen allgemein gehaltene Arbeit.
Ich schreibe diese Arbeit aus einer Position innerhalb dessen, was sie beforscht. Mein Interesse ist es daher, mich auf einen kleinen Teilbereich zu beschränken. Zu dem gewählten Thema wären weitere Ausführungen möglich gewesen, z.B. ein Vergleich zwischen weiteren TheoretikerInnen des Postkolonialismus oder aber eine Vertiefung der Frage nach dem Sinn von Identität. Die Bearbeitung dieser Fragen hätte jedoch den Rahmen dieses Textes als Examensarbeit weit überschritten.
1.2. Inhaltlicher Aufbau
Im ersten Teil meiner Arbeit gebe ich eine kurze Übersicht über die behandelten Einzelaspekte und ihre Verortung im Kontext.
Die Begrifflichkeit der Konstrukte soll erläutert werden und ich werde darstellen, aus welchen Annahmen heraus der heute so geläufige Westen als geographische und kulturelle Gemeinschaft von Ländern ein Kunstprodukt ist. Ich möchte skizzieren, wo sich der Westen selbst verorten lässt und was die Existenz einer in Westen und Antagonisten aufgeteilten Welt bedingt.
Den Beginn des zweiten Teils der Arbeit stellt eine kurze Abhandlung über Sprache als Vermittlungselement und Medium von Macht. Sprache als Basis für die Aufrechterhaltung von Machtverhältnissen sowie als identitätsstiftendes und –erhaltendes Mittel ist ein wichtiges Element von Identitätsbildung und sozialer Strukturen.
Dem Exkurs über die Sprache folgend werde ich beschreiben, inwiefern der Begriff Westen sozial konstruiert ist und das Konstrukt sowie seinen geschichtlichen Kontext erläutern. Ich werde darstellen, aufgrund welcher Annahmen der so geläufige westliche Kulturkreis als geografische und kulturelle Gemeinschaft ein kontextabhängiges Gebilde ist. Dabei gehe ich näher ein auf den Blick des ‚Eigenen’ auf das ‚Andere’, auf die Fragen kultureller Homogenität und Heterogenität.
Im folgenden Abschnitt werde ich auf Strukturen eingehen, die dem Westen homogenen Anschein geben sollen (‚keeping western culture white’) und werde die Funktionen von Zuschreibungen und Stigmatisierungen erläutern. Im Zuge dessen gehe ich kurz ein auf kollektive Erinnerung und selektive Geschichtsschreibung. Die fortwährende Reproduktion von Machtverhältnissen durch bestimmte soziale und politische Beziehungsmuster ist Thema dieses Kapitels und leitet über zu der Frage, inwiefern ein Multikulturalismus sich innerhalb rassistischer Diskurse bewegt.
Der Unterschied von multikulturalistischem Ansatz zum Konzept der Hybridität ist Thema des nächsten Abschnitts. In diesem Zusammenhang werde ich einen Bezug herstellen zum Begriff der Diaspora. Abschließend diskutiere ich binäre Strukturen als konstitutives Element der westlichen Idee und die Möglichkeit, jenseits dieser Strukturen zu handeln, d.h. aus einer Position innerhalb des westlichen Raumes einen Handlungsspielraum jenseits dessen zu erreichen.
Im dritten Teil der Arbeit werde ich den Begriff der Identität und ihrer Konstruktion im Hinblick auf rassistische Diskurse behandeln. Im Anschluß daran richtet sich das Augenmerk auf den Begriff der Ethnizität, der in starkem Zusammenhang mit dem kollektiven Identitätsbegriff steht und kontrastiere ihn mit dem Sinn und der Funktion weitere Begriffe wie Nation, Rasse und Ethnie.
Den vierten Teil widme ich der kurzen Vorstellung einiger Ansätze von Ien Ang, May Ayim, Stuart Hall und Mark Terkessidis. Ich werde ihr Verständnis von zentralen Begriffen darstellen, so dass ein Überblick über die Vielfalt des postkolonialen Diskurses möglich wird.
Abschliessend werde ich beforschen, inwieweit postkolonialistische Betrachtungsweise bisher das Verständnis von Identität neumodelliert haben und die Frage nach der Notwendigkeit von Identität stellen. Kann der Identitätsbegriff als Produkt einer ideologischen Konstruktion Bestand haben ? Im letzten Abschnitt verbinde ich bisher einzeln erläuterte Aspekte und gebe einen Ausblick auf Veränderungen, die angeregt werden durch den postkolonialen Diskurs.
2. Rassistische Diskurse
2.1. Sprache und Diskurs
Welche Rolle spielt die Sprache in der Verständigung über ein Bewusstsein ? Da Sprache das grundlegende Mittel der Verständigung darstellt, auf dem jede Theoriebildung und –analyse fusst, möchte ich zunächst auf sie eingehen.
Sprache ist eine Sammlung von Zeichen, welche Mittler sind zwischen einer Präsenz, über die sich unmittelbar nicht verständigen lässt und Subjekten, die die Wahrnehmung dieser Präsenz mitteilen wollen. Diese Mitteilung kann nur geschehen über Trennung, über eine Aufteilung in Subjekt und Objekt. Das Bindeglied zwischen Subjekt und Objekt bzw. das Element ihrer Trennung ist die Sprache. Verbale Sprache ist ein Mittel der wörtlichen Auseinander-Setzung. Ein Bewusstsein zu 'haben', bedeutet, zu Unterscheidungen fähig zu sein. Dazu ist es nötig, sich als Subjekt getrennt von einem Objekt zu sehen, sich ausserhalb der Präsenz zu stellen. Mit diesem Sich-ausserhalb stellen meine ich nicht die Einnahme einer vermeintlich objektiven Position, sondern eine Versubjektivierung, die eine Verständigung über Wahrnehmung erst möglich macht und mithilfe derer das Erkennen der eigenen Position innerhalb des Geschehens möglich ist. In diesem Sinne handelt es sich um eine Trennung vom Unmittelbaren, um jene Unmittelbarkeit zu erkennen; es handelt sich nicht um einen Ausschluss durch Einbeziehung, sondern um eine Einbeziehung durch Ausschluss. Diese Trennung oder der Ausschluss wird vollzogen mittels Sprache. Das Bedürfnis der Mitteilung geht der Sprache jedoch immer voraus und begründet diese:
"Language is necessary in order for speech to be intelligible and to produce all of its effects; but the latter is necessary in order for language to be established; historically, the fact of speech always comes first."[1]
Sprache ist demnach ein Mittel, das durch das Bedürfnis zur Mitteilung existiert – in welcher Form und auf welche Weise diese Mitteilung geschieht, ist damit nicht gesagt. Jedoch ist Sprache ein gemeinschaftlich geschaffenes Produkt und der Ausdruck so nicht frei von Einzelpersonen wählbar. Sich mittels Sprache verständlich zu machen beinhaltet die Bedingung, sich dem sprachlichen Ausdruck, seinen konstruierten Implikationen und Regeln anzupassen, sprachlich, und so auch gedanklich:
"..the subject ( in its identity with itself, or eventually in its consciousness of its identity with itself, ...) is inscribed in language, is a 'function' of language, becomes a speaking subject only by making its speech conform... to the system of the rules of language as a system of differences ..."[2]
Sprache vereint so in sich das Paradoxon, 'individuelles' Bewusstsein ausdrücken zu wollen, jedoch nur unter der Bedingung, sich kollektiver Sichtweise, die den sprachlichen Ausdruck formt, anzuschliessen. Verstanden werden können nur Worte, deren Bedeutung allgemein bereits bekannt ist. Daraus ergibt sich eine begrenzte Zahl von Sinnzusammenhängen. Der Ausschluss von der Präsenz wird vorgenommen, um einen Zusammenschluss von Bewusstsein zu erreichen. Sprache erfüllt so eine Doppelfunktion: sie ermöglicht Mitteilung über Bewusstsein - sie ermöglicht den kontinuierlichen Prozess der Identitätsbildung -, und sie formt zugleich dieses Bewusstsein. Diese dialektische Eigenschaft findet sich auch im Zusammenhang mit dem Charakter von Identität. Identitätsbildung als Prozess konstituiert sich im kontinuierlichen Austausch mit 'äusseren' Gegebenheiten und Abläufen, die das 'eigene' Verständnis der Welt bedingen und von dieser Basis aus es widerum formen. Sprache kann so als Mittel gesehen werden, das den Prozess der Identitätsbildung entscheidend bedingt.
Kultur und Imperialismus sind, so Edward Said, untrennbar miteinander verbunden. Zwar bedeutet das Vorhandensein von Kultur nicht gleichsam das Vorhandensein von Imperialismus, jedoch lässt sich umgekehrt sagen, dass der Imperialismus früherer Tage durch Kultur verkörpert, ausgedrückt und weitergetragen wird. Der europäische Imperialismus des achtzehnten Jahrhunderts wurde mittels europäischer Kultur verbreitet und weitergetragen. Kulturelle Gepflogenheiten wurden aufoktroyiert, angenommen, vorgelebt, geteilt. Ein Basiselement von Kultur ist die Sprache als Mittel zur Verständigung. Sprache bestimmt die Art und Weise, in der Informationen aufgenommen werden. Sie produziert und formt Begrifflichkeiten. Sprache ist mitnichten ein neutrales Medium, sie steckt den grundsätzlichen Rahmen ab, in dem sich Aktionen und Reaktionen bewegen, wie Goyvaerts anschaulich darstellt:
„...there is an intricate relationship between language, culture and perception. Culture is not a chaotic tangle of individual opinions because language itself imposes certain structures of perception. As members of a culture and speakers of a language, we learn implicit classifications (including kin relations and social obligations) and consider those classifications to be accurate renderings of the world. Since the linguistic categories vary, different cultures also exhibit a distinctive consensus about the nature of existence.“[3]
Dies mag leicht nachvollziehbar klingen - jedoch: welche Folgerungen ergeben sich daraus, welche Implikationen hat dies ?
In seinem Aufsatz „ Language and Identity “ 2 spricht der von Griechenland nach Schweden emigrierte Theodor Kallifatides von dem Prozess der Selbstentfremdung und Irritation im Zusammenhang mit dem Leben in einem anderen Land mit anderer Sprache. Er sagt, jede Sprache habe eine eigene, spezielle Persönlichkeit und Identität. Ausgehend davon könne man schliessen, dass die „Identität“ der Sprache die personelle, menschliche Identität mitbedingt. Der Prozess, in dem sich persönliche Identitätsvorstellungen bewegen, setzte sich somit zusammen mittels des Charakters von Sprache. Identität, so komplex sie auch zu definieren sein mag, kann u.a. verstanden werden als eine Ideen- und Konzeptsammlung eines Individuums, die sich in einem konstanten Prozess der Bewegung befindet und sich unter dem Einfluss einer neuen Sprache stark verändern bzw. kollabieren kann. Das Bewusstsein einer Person ist abhängig von den Mitteln mit denen und durch die es geschaffen und erhalten wird. Ansichten und Werte, die eng mit dem verbunden sind, was ich hier die Vorstellung von „persönlicher Identität“ nennen möchte, können unter dem Vakuum der Entfremdung zerfallen. Dies wird oft als "Bruch" wahrgenommen. An jenen "Bruchstellen" der Identität wird das zugrundeliegende Selbstbild und seine bisher vermutete Kontinuität besonders deutlich erkennbar. Eine unbekannte Sprache kann zu Identitätskonflikten führen, weil sie einen anders gearteten Rahmen darstellt, in den die Form des bisherigen Selbstverständnisses nicht hineinpasst. Die Dekonstruktion eines Selbstbildes oder auch kollektiver Vorstellungen bieten die Chance zur Veränderung, zur Anpassung an eine neue Realität. Sprache dient als Werkzeug, mit dem Identitäten konstruiert werden können, (kollektive) Selbstbilder verwirklicht und weitergetragen werden können: mittels Geschichten, Legenden, Beschreibungen und Erinnerung, ob mündlich oder schriftlich. Sprache stellt ein einflußreiches Machtmittel dar.
Sprache bedeutet ein Mittel zur Macht. Durch Sprache kann Wahrheit generiert und Wissen vermittelt werden. Der enge Zusammenhang zwischen Macht und Wissen oder „Wahrheit“ macht Sprache zu einem so einflussreichen, konstitutiven Element der Machtausübung und Kontrolle.
„ The big thing is not always to take something which belongs to somebody else. The big thing is that it is called „theft“. But that was exactly what was missing in my life in those days: the moral impact of language.“[4]
Sprache bestimmt das Denken, da sie den Rahmen darstellt, der 'denkbar ist'.
Sie bestimmt das Bewusstsein. Denkt ein Mensch bildlich statt in Worten, so ist doch meist die Sprache jenes Medium, mit dem er seine Gedanken nach aussen transportiert und die alsbald die Gedanken formt. Sprache als Kommunikationsmittel hat einen grossen Einfluss auf die Art der Bilder, in denen gedacht wird und auf die Art der Assoziationen, die mit Worten verknüpft werden. Kollektive Identitäten wie z.B. das Konstrukt der Nation, definieren sich zum grossen Teil über eine einheitliche, gemeinsame Sprache. Die Wichtigkeit von Sprache als Machtmittel wird in Konfliktsituationen deutlich an der politischen Praxis des Verbots bestimmter Sprachen unter Androhung von Sanktionen. Frantz Fanon schreibt in diesem Zusammenhang:
„To speak means to be in a position to use a certain syntax, to grasp the morphology of this or that language, but it means above all to assume a culture, to support the weight of a civilisation.“[5]
Jede Sprache transportiert ein eigenes Weltbild, und das abhängig ist vom sprachlich zugelassenen Ausdruck. Es mag paradox klingen, einen eigenständigen Standpunkt in einer Sprache formulieren zu wollen, die einen solchen Standpunkt durch Nichtexistenz von bestimmten Worten nicht vorsieht. Sprache bietet einen Freiraum, indem sie erlaubt, Dinge in Worte zu fassen; gleichzeitig stellt sie eine Art Gefängnis dar, ausserhalb dessen sich der Ausdruck nicht bewegen kann, denn einen Ausdruck zu definieren bedeutet, damit eine andere Bedeutung auszuschliessen. Dieses Charakteristikum von Sprache lässt sich besonders gut verdeutlichen an der Tatsache, dass sich manche Begriffe nicht übersetzen lassen, da sie in einer anderen Sprache nicht existieren oder anders konnotiert sind. Ähnlich wie Fanon kommt auch Kallifatides zu dem Schluss:
“...learning a new language is understanding the society that uses it, becoming a part of it and somehow surrendering yourself to it.“[6]
Sprache kann verstanden werden als Instrument der Vereinnahmung und Identifikation. Sie kann als Machtinstrument benutzt werden – auch als eines imperialistischer Politik - und ermöglicht die Kommunikation zwischen Völkern. Im Falle von Englisch, unter westlichem Blickwinkel.
Eine einheitliche Sprache stellt eine wesentliche Bedingung für die Schaffung und das Fortbestehen von Staaten und das Identifikationsgefühl, das zur Bildung von Nationen vonnöten ist. Benedict Anderson widmet sich dem Phänomen "Nation" in seinem Buch "Imagined Communities" auch im Zusammenhang mit der Sprache. Eine einheitliche Schriftsprache, so Anderson, ist zwingend für die Vorstellung von Nationen, denn erst durch sie kann der „Mythos Nation“ verbreitet werden und in der Vorstellung Gestalt annehmen. Eine einheitliche Schriftsprache war das Medium, auf das die Druckmedien früherer Tage bauten und auch heute noch, im Zusammenhang mit Bildern, z.B. Fernsehen, bauen. Schriftsprache war das Mittel, mit dem in den Medien Zeitung und Buch das Gebilde "Nation" verkörpert werden konnte. Schriftsprache, so verdeutlicht Edward Said, ist gleichzeitig ein Mittel der Information wie auch der Repräsentation, da das, worüber geschrieben wird, notwendigerweise in den Objektstatus versetzt wird.
„...language itself is a highly organized and encoded system, which employs many devices to express, indicate, exchange messages and information, represent, and so forth. In any instance of at least written language, there is no such thing as a delivered presence, but a re-presence, or a representation. “[7]
In gleichem Masse, in dem die Wirkung von Sprache als Mittel zur Durchsetzung bestimmter Interessen von einer Gruppe gegen eine andere eingesetzt werden kann, besitzt die andere Gruppe die Möglichkeit, sich der Sprache bewusst zu werden und sie in eigenem Interesse zu benutzen. Der Akt des Sprechens bricht gesellschaftliche Unsichtbarkeit auf und ermöglicht einen Prozess der Aneignung einer 'eigenen' Sprache. Fremdbestimmung durch Sprache in einem für andere Subjekte nicht sensitiven Diskurs kann durch den Prozess sprachlicher Bewusstwerdung umgewandelt werden in einen Raum, der sich vom bereits existierenden unterscheidet. Die Schaffung neuer Diskurse ist nur durch Auseinandersetzung mit und Aneignung von Sprache möglich. Dies betont auch der Politikwissenschaftler Kien Nghi Ha im Kapitel "Artikulation und Aufwertung der Marginalität" seines Buches über "Ethnizität und Migration". (s. Ha, S. 115)
Die Bedingungen, unter denen Sprache funktioniert sind ein wichtiges Mittel zur Analyse und Dekonstruktion von Strukturen, die durch rassistische Diskurse geschaffen werden. Mittels Sprache werden Diskurse geschaffen und weitergetragen - nicht nur durch den direkten sprachlichen Ausdruck, sondern auch durch jenes, das nicht gesagt wird, jenes, das nicht gedacht wird und mangels sprachlicher Ausdrucksmöglichkeit nicht denkbar scheint. Sprache spiegelt das gedankliche Klima einer Gesellschaft. Sich der Möglichkeiten, die sich aus der Aneignung von Sprache ergeben, wie auch den Rahmenbedingungen, die sie schafft, bewusst zu sein, ist dafür in gleichem Masse wichtig. Dieser einführende Exkurs über die Grundbedingung der Sprache hilft vielleicht, zu verdeutlichen, wie weitreichend Konstrukte wie das des modernen "Westens" durch ihre Verwirklichung im Ausdruck sind. Im Folgenden möchte ich näher auf die Konstruktion des Westens und seiner "Anderen" eingehen.
2.2. Das Konstrukt eines homogenen Westens
Konstruktion bedeutet das Zusammensetzen von Einzelteilen zu etwas, das vorher nicht in der Form existierte. Die Gesamtsumme der Teile ergibt ein Gebilde, das vorher nicht bestand – etwas Neues. Eine Konstruktion ist somit nichts absolutes und objektives, sondern etwas aus dem Zusammenhang geschaffenes, etwas Subjektives, das nach wie vor in einem Zusammenhang steht. Die Erkenntnis, dass ein Konstrukt etwas aus einem Zusammenhang entstandenes ist, das mit seiner Entstehungsgeschichte eng verbunden ist, stellt eine grundlegende Voraussetzung für die Dekonstruktion dar. Sie ist ein Basiselement postkolonialer Kritik.
Eine Menge Dinge in der Welt, materielle wie nicht-materielle, sind willkürliche Konstrukte: zusammengesetzte Bilder und Ideengebäude, die dem menschlichen Denken entsprungen sind und dieses beeinflussen. Denn erst das Denken erschafft Konstrukte und wird während und nach der Konstruktion eines Ideengebäudes von ebenjenem beeinflusst. Das konstruierende Denken und das konstruierte Gedankengebäude stehen in einem fortwährenden Dialog. Sie sind gekennzeichnet durch Dialektik. Sie beeinflussen sich wechselseitig und verändern und modifizieren sich über die Zeit mehr oder weniger stark. Bestehen Konstrukte seit sehr langer Zeit, geschieht diese gegenseitige, fortlaufende Einflussnahme meist unbewusst – man hat den Eindruck, die Dinge sind, wie sie sind, weil sie „schon immer“ so waren. Konstrukte können eigendynamisch oder auch statisch erscheinen. Jedoch ändert sich der Kontext, in dem das Konstrukt steht wie auch das Gebilde selbst. Angenommen, ein Konstrukt besitzt die genannten Eigenschaften, dann kann es aktiv verändert werden. Es kann dekonstruiert und neu zusammengesetzt werden, es kann verschoben und von Seiten besehen werden, die bisher unsichtbar blieben.
Das Bild des vielzitierten Westens ist ein Konstrukt, ebenso wie jenes seiner Antagonisten, des „Ostens“ oder der „Dritten Welt“. Trotz seines konstruierten Charakters, der nicht aus sich selbst heraus existiert und im Kern „leer“ ist, hat dieses Ideengebilde seit mehreren Jahrhunderten konkrete reale Auswirkungen. Es entwickelte eine Eigendynamik. Konstrukte sind willkürlich geschaffen und theoretisch (mit viel Anstrengung) jederzeit dekonstruierbar, und doch sie sind in ihren Auswirkungen sehr real. Diese beiden Eigenschaften sind keine Gegensätze. Sie existieren grundsätzlich miteinander.
Die Bezeichnung des Westens als etwas konstruiertes soll seinen Charakter als Ideengebäude und Objekt einer Differenz herausstellen. Ich möchte darstellen, dass es „den Westen“ nur im Zusammenhang mit „etwas Anderem“ gibt, wie diese Konstruktion aussieht und dass sie geschaffen wurde und reproduziert wird.
Pauschalisierungen, vorläufige Zusammenfassungen, Provisorien und Verallgemeinerungen sind zur Darstellung eines komplexen Zusammenhanges in gewissem Masse nötig - jedoch ist bei der Arbeit mit ihnen wichtig, sich bewusst zu sein, dass es sich um Hilfsmodelle zur vereinfachten Darstellung einer Realität handelt, nicht um „die“ exakte Realität selbst, die einem Prozess fortlaufender Veränderung unterliegt. An diese ist immer nur eine Annäherung möglich. Sich dessen bewusst zu werden, kann dazu beitragen, die eigene Geschichte besser zu verstehen und die eigene, bewegliche Position innerhalb des komplexen Gefüges der Welt verorten zu können.
Der Begriff „Westen“ als Bezeichnung für einen bestimmten Kulturraum ist das Ergebnis einer groben Pauschalisierung. Gemeinhin wird unter „westlich“ eine bestimmte Art der Weltsicht und eine Ansammlung kultureller Praktiken verstanden.
Stuart Hall stellt in seinem Aufsatz „ Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht “[8] anschaulich dar, wie das Konzept des „Westens“ funktioniert. Hall zufolge ist dieses Konzept das Werkzeug, mit dem sich Gesellschaften in Kategorien klassifizieren lassen. Es stellt eine Grundlage dar für eine willkürliche Einteilung in westlich – nicht-westlich, in das „Eigene“ und das „Andere“. Es stellt eine Art Gerüst oder eine Struktur dar, an dem bzw. der sich das Denken orientieren kann. Mithilfe des Konzepts lassen sich Vorgänge und Handlungen erklären. Auch repräsentiert es verschiedene Gesellschaften – jene, die vom Westen als „nicht westlich“ betrachtet werden wie auch sich selbst. Das Konzept funktioniert als Bild, das in komprimierter Weise bestimmte Annahmen und Vorstellungen vermittelt, ohne dass sich mit einem Gegenstand detailliert auseinandergesetzt werden muss. Der Westen setzt sich in die Position des „Eigenen“, während die, die er interpretiert und repräsentiert die „Anderen“ werden. Die Idee des Westens fasst Vorstellungen zusammen und schafft Klischees, sie wirkt als Mittel, mit dem sich das „Andere“ abspalten und daraufhin vom „Eigenen“ auf bestimmte Weise schnell aneignen lässt. Darüberhinaus bietet sie einen Masstab, mit dem verschiedene Gesellschaften gemessen werden. Mit dem Westen als fixes Vergleichsmodell lassen sich Unterschiede erklären - und nicht nur erklären; sie lassen sich auch produzieren und zu bestimmten Zwecken als Werkzeuge verwenden. Der Begriff „Westen“ beinhaltet, dass er sich selbst in die „höchste“ Position setzt, auf die alles „andere“ Bezug nehmen muss. Das Konzept Westen produziert „ eine bestimmte Art von Wissen über einen Gegenstand und bestimmte Haltungen ihm gegenüber.“[9] Damit funktioniert es als Ideologie.
Der Entstehungsort der Idee des Westens ist nicht identisch mit dem der Idee Europas. Stuart Hall siedelt die Entstehung des Konstrukts Westen gegen Ende des 16. Jahrunderts an, in einer Periode, die bestimmt war von den Folgen der Auflösung des Feudalismus, dem Ende des als Mittelalter eingeordneten Zeitabschnitts und einer Reihe von ökonomischen wie sozialen und politischen Prozessen. Diese Prozesse waren u. a. die Loslösung von den Doktrinen der Kirche, die parallel verlief zur Expansion der Wissenschaft. Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts als Produkt von politischer Veränderung und neuer Wissenschaftlichkeit hatte grossen Anteil an den Inhalten, mit denen sich die Bedeutung „Westen“ formierte. Hall macht daran die Bedeutung des Westens als nicht nur geografische, sondern kulturelle bzw. ideologische Realität fest, die heute überall dort vorhanden ist, wo ähnliche Prozesse stattgefunden haben:
„Heutzutage kann von jeder Gesellschaft mit diesen Charakteristika gesagt werden, dass sie zum 'Westen'‘gehört, wo immer sie auch auf der Landkarte liegt. Die Bedeutung dieses Ausdrucks ist demzufolge praktisch identisch mit der des Wortes 'modern‘.“[10]
Die Idee des Westens ist entstanden in einer weltpolitischen Lage, die ihre Entstehung ermöglichte. In Europa wurde sie währenddessen als völlig eigenständiges Produkt angesehen, als ‚natürlicher Beweis‘ für die Annahme, dass die europäische Gesellschaft die fortschrittlichste aller Gesellschaften sei. Darin enthalten ist die Idee der Skalierbarkeit von Gesellschaften, die Annahme, dass ein wertender Vergleich gemacht werden könne. Dies bedeutet, die Existenz des Westens gleichzeitig als Begründung für seine Existenz anzuführen, was eine willkürlich in den Raum gestellte Kreisargumentation ist. Die Annahme, dass die Entstehung des Westens in Europa begründet ist, in keinem Zusammenhang zu weltpolitischen Vorgängen steht und nicht das Ergebnis einer bestimmten Konstellation ist, ist Teil der Hybris, die das Konzept Westen formte. Ein zentraler Punkt ist für mich folgender: der Westen hat selbst einen Ort und eine Zeit der Entstehung, er hat eine Position innerhalb der Geschichte, nicht ausserhalb ihrer. Er besitzt keine allgemeingültige Objektivität, sondern ist im Geschehen zu verorten, ist selbst subjektiv. Ein konstitutives Element des Konzepts Westen ist die Objektivität des „Eigenen“ und die Subjektivität aller „Anderen“. Die Trennung zwischen dem Eigenen und dem Anderen, und die vermeintliche Objektivität als Trennungselement aufzuheben ist ein wichtiger Bestandteil der Dekonstruktion.
Gesellschaftliche Entwicklungen, die zur Entstehung eines Bildes wie die des „Westens“ führen als exportiertes Kulturgut zu betrachten, liegt nahe. Hätten sich Gesellschaften in Asien oder Afrika in eine ähnliche Richtung entwickelt wie der Westen - ohne eine Infiltrierung durch Europa ? Existierte zuerst die Idee des Westens oder westliche Gesellschaften ? Dies lässt sich nicht sicher beantworten. Sicher ist jedoch, dass der „Westen“ gewaltsam expandierte.
Im Laufe der letzten 300 Jahre festigte sich das Bild eines ‚Westens’ mit bestimmten Eigenschaften - und das eines Ostens und Südens, die gekennzeichnet wurden durch die Inversion oder das Fehlen dieser Eigenschaften. Erst im Gegensatz zu „etwas anderem“ begann gleichzeitig der Westen als solcher zu existieren.
Die nötigen Gegengewichte zum Westen sind der Osten oder Orient, und Afrika, der Prototyp der Bezeichnung „Dritte Welt“. Vor dem Hintergrund dieser Antagonisten kann „der Westen“ sich als solcher begreifen, sich abgrenzen und sich definieren. Viele Menschen im Westen haben sich zwecks nationaler und individueller Selbstdefinition mit der Art und Weise des „Ostens“ befasst, haben einen Osten geschaffen, der aus der Perspektive des projizierenden Westens existierte und reagierte. Erst in dieser Sicht entwickelte sich für den Westen die heutige, täglich reproduzierte Ordnung der Welt.
Das Bild, das der Westen vom Osten erschuf, war keine Wiedergabe einer Realität, sondern ein Akt der Demonstration von Macht. Indem der Westen den Osten erfinden konnte, offenbarte sich seine Alleinherrschaft über Definition und Geschichtsschreibung, über Repräsentation und Dominanz. Mit der Erfindung des Ostens schuf der Westen gleichzeitig sich selbst. Je mehr das „Spiegelbild Osten“ verfeinert, ausgeschmückt und ‚realisiert‘ wurde, desto nachhaltiger manifestierte sich das Bild eines mächtigen Westens, das diesen „Anderen“ als Kontrastbild und, durch den reinen Akt der Erfindung und Definition, als Statussymbol erfand. Dabei ist ein Machtgefälle konstitutiv für den Vorgang der Zuschreibung:
„ The relationship between Occident and Orient is a relationship of power, of domination, of varying degrees of a complex hegemony...The Orient was Orientalized not only because it was discovered to be ‚Oriental‘ in all those ways considered commonplace by an average nineteenth-century-European, but also because it could b e – that is, submitted to being – made Oriental.“[11]
Wie Said betont, ist nicht das „wirkliche Wesen“ des Ostens konstitutiv für das Image, das der Westen ihm gab. Nicht die kulturellen Verhältnisse, sozialen Abläufe und Prozesse gaben den Ausschlag für das, was über den Osten gesagt wurde und wird, sondern die Macht desjenigen, der diesen Osten interpretiert. Hier sehe ich eine Analogie zu rassistischen Prozessen: nicht die Charakteristika einer Gruppe oder einzelner Individuen sind im rassistischen Diskurs massgeblich, sondern das Wissen, das über diese Gruppe / Individuen produziert wird. Der Fakt, dass überhaupt Wissen produziert werden kann, sagt etwas aus über die Existenz von Machtgefälle und Hegemonie.
Die Bilder und ‚Erkenntnisse‘, die produziert werden, beruhen aufgrund des Machtgefälles nicht auf der Realität des „Anderen“. Das „Andere“ wird nicht daran beteiligt, da nicht dessen reales Selbstverständnis für das „Eigene“ von Interesse ist, sondern die Produktion eines Gebildes, das für die Eigeninteressen und die Identifikation des „Eigenen“ nützlich ist. Das „Wissen über den Anderen“ sagt hiernach weniger über „den Anderen“ aus, als über den, der spricht und ebenjenes Wissen produziert. Die Existenz eines Orients und einer „DrittenWelt“ sind Indikatoren für die Existenz und Macht eines definierenden Gegengewichts, das des „Westens“. Im Falle der „Dritten Welt“ sind sie ein Indikator für die Existenz und Macht einer Gesellschaft, die ihren Massstab anlegt und darüber entscheidet, welche Chronologie von Erster, Zweiter und Dritter Welt gültig sein soll. Der kolonialistische Diskurs ist somit selbstreflexiv. Er produziert Spiegelbilder und Antithesen seiner Selbst. Dies bedeutet nicht, dass die vom Westen produzierten Stereotypien und Projektionen „unwahr“ sind. Sie wurden jedoch nicht aufgrund ihres Wahrheitsgehalts geschaffen. Sie wurden durch die Macht, eine Aussage machen zu können, zu „Wahrheit“ – zu dem, was weitergetragen und erinnert wurde und zu dem es keine Alternative gab. Die Verwirklichung des Westens durch Institutionen und Repräsentation radierte die Strukturen, an deren Stelle sie sich setzte aus, bzw. veränderte sie und setzte sich selbst in eine Position, auf die Bezug genommen werden musste.
Die Macht des Westens ist. vergleichbar mit der Macht der Kirche im Europa früherer Jahrhunderte: er ist real durch die formelhafte Gültigkeit seiner Ideen, die ihre Macht durch die Verknüpfung erhalten, die Stuart Hall prägnant darstellt:
„Die Verkettung von Wissen und Macht hat dieses Regime wahr gemacht, hat diesem Regime die Behauptung ermöglicht, die Wahrheit über die Identität für alle anderen auf dem Globus zu sagen.“[12]
Der Vergleich mit der Kirche liegt nah, da die Macht der Kirche zu Zeiten unanfechtbar schien. Das Monopol an Wissen ist gesichert durch die Monopolisierung von Macht, Zeichensystem und Sprache.
[...]
[1] 1959, Ferdinand de Saussure, Course in General Linguistics, S. 18 zitiert in: 1972, Jacques Derrida, Différance, in: Identity: a reader, S.89
[2] 1972, J.Derrida, Différance, in: Identity: a reader, S. 91
[3] 2000, Didier Goyvaerts: Conflict and Ethnicity in Central Africa, S. 164
[4] 1999: Theodor Kallifatides: Language and Identity, in: M. Fludernik, S.474
[5] 1952, Frantz Fanon: Black Skin, White Masks, zitiert in: Thompson / Tyagi, S. 43
[6] 1999, Theodor Kallifatides, Language and Identity, S. 474 in: Fludernik
[7] 1978, Edward Said: Orientalism. in: Padmini Mongia, S. 32
[8] 1994, Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität, S. 137
[9] 1994, Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität, S.139
[10] ebd., S. 138
[11] 1978, Edward Said: Orientalism, in: P.Mongia, S.23
[12] 1989, Stuart Hall, Ethnizität: Identität und Differenz, S. 87
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