Computerspiel-Geschichten? Analyse narrativer Strategien zur strukturellen Kopplung von Spiel und Erzählung


Mémoire de Maîtrise, 2006

145 Pages, Note: 1,3


Extrait


Inhalt

1. Einleitung

2. Erzählung, Spiel, Computerspiel
2.1 Erzählung
2.1.1 Aristoteles: Primat der Handlungsführung
2.1.2 Gérard Genette: Die Ebenen der Erzählung
2.2 Spiel und Computerspiel
2.2.1 Roger Caillois: Die Regeln des Spiels
2.2.2 Espen Aarseth: Der „ergodische“ Text
2.2.3 Die Ludologen: Kritik am Dogma des Narrativismus
2.2.4 Die Narratologen: Spielen als Prozess zwischen Interaktivität und Narrativität

3. Entwicklung eines Beschreibungsmodells für Analysezwecke
3.1 Der Prozess des Spielens
3.2 Der Diskurs des Spielens
3.3 Vorstellung einer Analysemethode

4. Analyse struktureller Kopplungen
4.1 Kopplungen 0. und 1. Ordnung: Repräsentation, Setting, Figur
4.2 Strukturelle Kopplungen 1. und 2. Ordnung: Konflikt, Ziel, Retardation
4.3 Der Weg ist das Ziel: Labyrinth, Mäander, Rhizom

5. Fallstudie Adventure-Game: Gabriel Knight II: The Beast within
5.1 Die Detektivformel: Erzählanalyse von Gabriel Knight II
5.2 Sequenzanalyse: Das detective tale als Rätsel-Spiel
5.3 Zeitkonstruktionen in Gabriel Knight II: investigation und crime story

6. Schlussbemerkung

7. Bibliographie

1. Einleitung

In der Praxis blicken Computerspiel[1] und Erzählung auf eine lange gemeinsame Vergangenheit zurück. Bereits das erste kommerzielle Computerspiel Zork (USA 1980, Infocom) beschrieb sich selbst als Roman, in dem der Leser an einem aufregenden Abenteuer nicht nur Teil hatte, sondern es selbst bestritt. Insofern ordnen die Hersteller und Nutzer von Computerspielen ihren Gegenstand in einem positivistischen Selbstverständnis in die Genealogie etablierter narrativer Medien wie dem Film ein und verstehen deren Strukturmomente im Spiel lediglich um den Aspekt der Interaktivität erweitert.[2]

Tatsächlich jedoch ist sich die „Wissenschaft [...] noch nicht darüber einig, ob Computerspiele den Erzählungen zuzurechnen sind.“ (Neitzel 2003, 18) Als die Literaturwissenschaft Anfang der 90er allmählich das Computerspiel als Untersuchungsgegenstand entdeckt, privilegiert sie zunächst narrative und dramaturgische Gesichtspunkte für ihre Analysen und lässt Aspekte des Spieles außen vor. „Interactive Storytelling“ wird hier als Erweiterung des traditionellen (aristotelischen) Geschichtenerzählens verstanden, das aber nach neuen Konzepten der Rezeption und Partizipation am Text verlangt. So wird der „Leser“ wahlweise als eine Art „Schau-Spieler“ modelliert, der eine Rolle innerhalb der Geschichte auskleidet,[3] oder er wird in den Rang des Autors erhoben und schreibt als solcher am Text selbst mit.[4]

Gegen diese Auffassung formiert sich die Schule der „Ludologen“, die mit den „Game Studies“ eine akademische Disziplin einfordern, welche die Spezifik von Spielen im Allgemeinen und Computerspielen im Besonderen anerkennt und einen eigens auf den Gegenstand zugeschnittenen Begriffsapparat zur Verfügung stellt, der nicht dem „theoretical imperialism“ (Pearce 2004, 144) narratologischer Traditionen anheim falle.[5] Spiel und Erzählung bilden dort zwei unterschiedliche Kategorien, welche einander bestenfalls flankieren, aber nicht in der Lage sind, einen gemeinsamen Modus zu erzeugen. Paradigmatisch für die ludologischen Untersuchungen sind neben Espen Aarseths Studien zu interaktiven Texten vor allem die spieltheoretischen Arbeiten von Johan Huizinga und Roger Caillois. Jenem methodologischen Dogma entspringt sodann eine bisweilen äußerst polemisch formulierte Skepsis gegenüber sämtlichen Annäherungsversuchen des Computerspiels an narrative Ausdrucksformen.

Auch eher als konservativ einzustufende Vertreter der narratologischen Philologie, namentlich Klaus Walter und Frank Furtwängler, stützen ihre Überlegungen auf die kategoriale Abgrenzung von Spiel und Erzählung: „[W]enn erzählt wird, kann nicht gespielt werden, und wenn gespielt wird, kann nicht erzählt werden.“ (Walter 2001,1) Während jedoch die Ludologen wiederholt die Unvereinbarkeit der beiden Strukturen betonen, untersuchen jene – erheblich weniger normativ – auf welche Art und Weise Spiel und Erzählung, trotz der auch von ihnen festgestellten Inkommensurabilität, im Computerspiel in einem symbiotisch-hybriden Zustand zusammengeführt werden.

Andere wiederum, wie etwa Espen Aarseth, versuchen daher, die etablierten Beschreibungsmodelle so zu modifizieren, dass sie auch auf neuartige Phänomene wie Hypertext-Literatur, MUDs oder eben Computerspiele angewandt werden können. Britta Neitzel (2000, 128-132) beispielsweise beruft sich auf Genettes strukturalistische Erzähltheorie, um den Prozess des Spielens als gemeinsames Produkt von Programm und Spieler, der dort als „implizierter Autor“ vorkommt, zu denken. Extreme Ansätze dieser Art, wie der von Torben Grodal (2003), geben schließlich traditionelle Vorstellungen darüber, was unter einem „Spiel“ oder einer „Erzählung“ zu verstehen ist, ganz auf und vereinen beide Strukturen (und nicht nur diese, sondern in letzter Konsequenz sämtliches Handeln) in einem ästhetisch-phänomenologischen Konzept zu einer gemeinsamen Kategorie.

Abseits dieses akademischen Diskurses verfolgt das Computerspiel seit jeher unterschiedlichste Strategien, um narrative Elemente aller Vorbehalte zum Trotz in seine Strukturen zu implementieren. Bereits recht früh ist diesbezüglich der Topos der Vorgeschichte zu beobachten, die im zugehörigen Handbuch oder einem illustrativen Intro entwickelt wird. Das Spiel wird dadurch in einen inhaltlichen Sinnzusammenhang eingebettet, der die Materialien des Spieles (Figuren und Spielfeld) ikonographisch lesbar und seine abstrakten Regeln intuitiv begreifbar macht, die Erzählung allerdings nicht dem Spiel einschreibt, sondern sie ihm bestenfalls überstülpt.[6] Auf diese Weise manifestiert sich die festgestellte Divergenz bis heute: Die Vielzahl narrativer Verfahren, die in aktuellen Spielen zu finden sind, wie Dialogsequenzen, so genannte Cut-Scenes und scripted events, sind zwar in der Lage, die rudimentäre Illusion einer Erzählung zu erzeugen, verfahren aber unabhängig von der Spielstruktur und sind weiterhin von dieser unterscheidbar.

Diese Beobachtungen führen mich zum Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit: Ich nehme an, dass Spiel und Erzählung zwei unterschiedliche Phänomene darstellen, die über jeweils spezifische Eigenschaften und Merkmale verfügen, welche keine einheitliche Kategorie zulassen. Ihre Elemente und Operationen sind jedoch in einen gemeinsamen Prozess eingebunden und produzieren auf Ebene der audio-visuellen Oberfläche einen gemeinsamen Diskurs, der sie gewissermaßen „verschmelzen“ lässt. Dennoch sind die beiden Strukturen jederzeit voneinander abstrahierbar. Die vorherrschende Frage meiner Analyse wird daher sein, welche Methoden und Strategien Spiele bei der Integration narrativer Verfahren in ihre Prozesse anwenden und vor allem: warum sie dies tun. Im Gegensatz zu den Ludologen bin ich nicht der Meinung, dass jene Andockmechanismen lediglich austauschbare Oberflächeneffekte hervorrufen, sondern dass Erzählungen konventionalisierte Referenzsysteme zur Verfügung stellen, die spezifische Funktionen für das Aufrechterhalten der Interaktion mit dem Spiel ausüben können. Um diese funktionale Verknüpfungsleistung zu erbringen, ist es notwendig, dass sich Spiel und Erzählung gegenseitig Möglichkeiten zur „strukturellen Kopplung“ anbieten. Diese Kopplungsstellen sind immer dann zu vermuten, wenn das Konstruieren, Verstehen und Interpretieren der Fabel durch den Spieler einen Umgang mit den Elementen des Spiels überhaupt erst möglich macht. Diesen Phänomenen gilt das vornehmliche Interesse meiner Arbeit.

Mein Vorgehen wird folgendermaßen aussehen:

Zunächst möchte ich verschiedene Stationen der strukturalen und formalistischen Erzähltheorie von Aristoteles, über Genette bis hin zu aktuellen Modellen des interaktiven Erzählens betrachten, sie nach notwendigen (Abgrenzungs-)Kriterien für die Kategorie der Erzählung absuchen und mögliche Anschlusspunkte für Game-Strukturen diskutieren. Die methodologische Überlegung dahinter ist, dass die Diskussion der Probleme, mit denen die Erzähltheorie bei der Übertragung ihrer Begriffe auf Aspekte des Spiels konfrontiert ist, entscheidende Hinweise auf die im Spiel angewandten und von mir gesuchten Strategien liefert, da vermutet wird, dass sich mögliche Kopplungsstrategien genau an der Reibungsstelle dieser Divergenz „einhaken“.

Entsprechend sollen im Anschluss daran Theorien des Spiels betrachtet und dabei zum einen auf ihre Anwendbarkeit auf Computerspiele hin geprüft werden, zum anderen gilt es, sie durch Aufzeigen möglicher Analogien zu den zuvor diskutierten narrativen Termini für die spätere Analyse fruchtbar zu machen. Eine erste These diesbezüglich lautet, dass konkrete strukturelle Kopplungstypen auch entsprechende narrative Strategien einfordern, welche sich aus der Beschaffenheit des Spiels im Allgemeinen und des Spielgenres im Besonderen ableiten.

Da die unterschiedlichen Zugänge zum Computerspiel und seinem Verhältnis zur Erzählung so zahlreich sind und die Debatten darüber zum Teil sehr hitzig geführt werden, scheint es mir unabdingbar, im Anschluss daran ein Beschreibungsmodell zu entwickeln, das in der Lage ist, Phänomene des Spiels und der Erzählung im Computerspiel zu isolieren und zu beschreiben und den gemeinsamen Prozess, an dem sie beteiligt sind, darzustellen. Hierfür berufe ich mich zum einen auf Bordwells neoformalistischen Ansatz, der die narrativen Aspekte beschreiben soll und diese an kognitive Verarbeitungsprozesse rückbindet, und zum anderen auf Aarseths Untersuchung zu „ergodischen“ Texten, um diesen um ein kybernetisches Modell zu erweitern und ihn so auch auf die interaktiven und dynamischen Operationen des Spielens anwendbar zu machen. Ziel des gesuchten Modells ist es selbstverständlich, eine Definition struktureller Kopplungen dergestalt zu erarbeiten, dass sie die Spezifik dieser Verbindung hervorhebt und ihre Funktion unterstreicht.

In einem ersten Analysekapitel möchte ich dann, basierend auf den im Theorieteil angestellten Überlegungen, konkrete Phänomene betrachten, die Verbindungen zwischen Spiel- und Erzählstruktur herstellen. Im Vordergrund dieser Analyse steht die Frage, ob es sich bei dem beobachteten Phänomen tatsächlich um eine strukturelle Kopplung, eine allgemeine Analogie oder doch nur Redundanz handelt. In diesen Bereich fallen Parallelen auf der Darstellungsebene, wie die zwischen Spielfigur und Protagonist oder Spielfeld und Diegese, formale Analogien wie das Ziel, das Hindernis oder das Rätsel, und schließlich strukturelle Ähnlichkeiten wie das Reise-Motiv, das Labyrinth oder die Episode.

Das letzte Kapitel soll sich dann der Analyse eines einzelnen Spiels und den darin enthaltenen Erzählstrategien widmen. Hierfür habe ich das Spiel Gabriel Knight II: The Beast within (USA 1996, Sierra)[7] ausgesucht – einerseits weil es sich hierbei um einen Vertreter des Adventuregenres handelt, dem gemeinhin die auffälligsten erzählerischen Tendenzen nachgesagt werden, andererseits weil es auf ein Erzählmuster zurückgreift, das meiner Ansicht nach besonders viel versprechende Andockstellen für strukturelle Kopplungen bereit hält: der parallelen Plotstruktur, wie sie u.a. im Detektivroman zu finden ist.

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass es mir in dieser Arbeit nicht um das Erstellen eines vollständigen Kataloges narrativer Strategien oder struktureller Kopplungsmöglichkeiten geht – falls dies überhaupt möglich ist. Viel eher möchte ich bestimmte Szenarien durchdenken, in denen Spiel und Erzählung einander nicht „behindern“, wie es häufig Meinung der Ludologen ist,[8] sondern sich gegenseitig bedingen. Die Untersuchung kann daher auch modellhaft als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen dienen und unter Umständen Hinweise auf neuartige Strategien geben, die noch wenig untersucht und erprobt sind.

2. Erzählung, Spiel, Computerspiel

Seit jeher bedienen sich die Hersteller von Computerspielen bei erzählerischen Mitteln. So entsteht bisweilen der Eindruck, die Grenzen zwischen den beiden Kategorien Spiel und Erzählung könnten fließend sein oder die eine sei eine Unterkategorie der anderen. Die vorliegende Arbeit geht jedoch von der Annahme aus, dass Spiel und Erzählung zwei unterschiedliche Strukturen darstellen, die im Computerspiel zwar aufeinandertreffen, aber weiterhin voneinander abstrahierbar sind. Diese Annahme soll im Folgenden belegt und begründet werden. Zu diesem Zweck werde ich verschiedene Positionen der Erzähltheorie sowie der Spieltheorie vorstellen und sie nach Charakteristika und Merkmalen ihrer jeweiligen Untersuchungsgegenstände befragen. Hierbei gilt es zunächst, die beiden Kategorien scharf voneinander abzugrenzen, um so die spätere Analyse struktureller Kopplungen zu gewährleisten, und sie ferner nach möglichen Analogien abzusuchen, an denen narrative Strategien ansetzen können. Darüber hinaus sollen aber auch mögliche Modellerweiterungen in Betracht gezogen werden, um zu prüfen, ob nicht doch durch eine einfache Modifikation der theoretischen Systeme eine gemeinsame Kategorie hergestellt werden könnte.

Offen bleiben muss zunächst die Frage, ob ein solches Vorgehen tatsächlich hinreichende oder notwendige Bedingungen für eine Abgrenzung zu liefern vermag oder ob es nur charakteristische Eigenschaften zutage fördert. Es wird aber vermutet, dass die jeweiligen Theorien ausreichend sind, um präzise Grenzziehungen vorzunehmen und mögliche Analogien zu skizzieren. Darüber hinaus sollen die Ausführungen einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand – insbesondere die noch jungen „Game Studies“ und ihre Problemstellungen – verschaffen und die hierbei gewonnenen Erkenntnisse als Grundlage für die spätere Modellentwicklung fruchtbar gemacht werden.

2.1 Erzählung

Bevor sich die Untersuchung dem Computerspiel im Speziellen zuwendet, soll zunächst geklärt werden, auf welche Weise die Narratologie Aspekte der Erzählung konzeptualisiert und Versuche unternimmt, diese auf das Computerspiel anzuwenden. Die Ausführungen dienen einerseits dazu, narrative Muster zu definieren und von Strukturelementen des Spiels abzugrenzen, andererseits erbringen sie eine theoretische Vorarbeit, um später bei der Modellentwicklung auch Elemente und Phänomene des Computerspiels mit erzähltheoretischen Begriffen beschreiben und zu diesen ins Verhältnis setzen zu können. Dabei ist die Frage berechtigt, ob die primär am Vorbild der Sprache modellierten Begriffe grundsätzlich auf audio-visuelle Medien wie das Computerspiel übertragbar sind und inwiefern ihre Anwendung sich als sinnvoll erweist. Implizit steht daher immer auch die relative Medienunabhängigkeit der jeweiligen Theorie auf dem Prüfstand.

Ausgeklammert werden hierbei phänomenologische Theoriemodelle, welche Spiel und Erzählung in einer gemeinsamen Kategorie zu vereinen suchen, indem sie die Geschichte von einem Erzählmedium abkoppeln und Narrativität als eine natürliche Strategie mentaler Sinnstiftung auffassen. Torben Grodal (2003, 129-132) beispielsweise entwickelt mit Rückgriff auf die psychologischen Studien zur Filmrezeption von Hugo Münsterberg (1996) einen Ansatz nach diesem Muster: Dabei wird unter einer „Geschichte“ weniger der Inhalt einer durch spezifische mediale Techniken gekennzeichneten Rede verstanden, sondern das aus kognitiven Prozessen resultierende Konstrukt jedweder Wahrnehmung durch eine reale oder hypothetische Person:

„The story experience need not have any verbal representation, as the ability to ‚hold’ the story in consciousness […] that is important for prolonged action patterns can take place on a nonverbal perception-emotion-motor-level.” (Grodal 2003, 132)

Grodal löst damit den Begriff der Story von dem der Erzählung ab. Seine Geschichten brauchen nicht länger erzählt, sie müssen nur noch rezipiert werden. Folglich analysiert er auch nicht mehr die Phänomene, Strategien und Techniken des Erzählens, wie sie sich in einem Text äußern, sondern er beschäftigt sich ausschließlich mit der Rezeption und deren Perzeptionen, Emotionen, Kognitionen und Aktionen. Dies mag für bestimmte Zwecke von Nutzen sein, und auch seine kognitionspsychologischen Ausführungen werden für die spätere Untersuchung viele wichtige Anregungen liefern, doch ist ein solcher Ansatz insgesamt für das hier verfolgte Ziel wenig brauchbar, weil er sich zu weit von den Modellen und Methoden der traditionellen Erzähltheorie entfernt und folglich auch nicht mehr zwischen Spiel und Erzählung unterscheidet.

Ich möchte hier an den herkömmlichen Vorstellungen dieser Kategorien weitestgehend festhalten. Es geht mir nicht darum zu zeigen, dass das Spiel eine Erzählung ist oder unter bestimmten Voraussetzungen als solche beschrieben werden könnte, sondern ich gehe davon aus, dass Spiele Geschichten erzählen können, indem sie narrative Verfahren in ihre Prozesse integrieren, und möchte der Frage nachgehen, welche Zwecke sie damit verfolgen und welche Strategien sie wählen, um beide Systeme in einem gemeinsamen Ablauf in Wechselwirkung treten zu lassen. Hierzu werden bisweilen Erweiterungen der traditionellen Begriffe notwendig sein, die allerdings den Anforderungen genügen sollen, einerseits mit den etablierten Modellen zu korrespondieren und diese andererseits für neuartige Phänomene zu wappnen.

2.1.1 Aristoteles: Primat der Handlungsführung

Die zentralen Unterscheidungen und Fragestellungen, wie sie die moderne Erzähltheorie formuliert, lassen sich bereits in Aristoteles’ (1982, 19) Konzeption der Tragödie nachweisen:[9] „Die Tragödie ist die Nachahmung [mímesis] einer guten und in sich geschlossenen Handlung“. Die Handlung (práxis) bildet damit für Aristoteles den Kern der Tragödie, dem alle anderen Bestandteile untergeordnet sind.[10] Sie stellt so zu sagen eine notwendige Bedingung dar: „Ferner könnte ohne Handlung keine Tragödie zustande kommen“. (ebd., 21)

Wichtiger noch als die Handlungen selbst, ist die Art und Weise, wie diese im jeweiligen Stück arrangiert und zu einer Komposition verbunden sind. Denn die Handlungen sind sich nicht Selbstzweck, vielmehr zielen sie immer auf ein sinnvolles Ganzes, das dramatisch ist und „eine einzige, ganze und in sich geschlossene Handlung mit Anfang, Mitte und Ende“ (ebd., 77) bildet. Diese Ordnungsleistung erbringt der Mythos: „Die Nachahmung von Handlung ist der Mythos. Ich verstehe unter Mythos die Zusammensetzung der Geschehnisse“. (ebd., 19)[11]

Auffallend an dieser Stelle ist, dass Spiele zwar die notwendige Bedingung für eine Erzählung[12] erfüllen – sie enthalten auch Handlungen – aber den wesentlichen qualitativen Teil entbehren: den Mythos. Zwar werden auch die Handlungen des Spiels in einer linearen Sequenz angeordnet, allerdings zielen diese nicht auf Abgeschlossenheit, sondern immer zumindest auf ein gewisses Maß an Offenheit. Entscheidend in dieser Hinsicht ist vor allem, dass der Rezipient selbst an der Anordnung dieser Sequenz teilhat, diese nach Belieben umstellen kann und damit gegen eine wesentliche Forderung Aristoteles’ (1982, 29) verstößt:

„Ferner müssen die Teile der Geschehnisse so zusammengefügt sein, dass sich das Ganze verändert oder durcheinander gerät, wenn irgendein Teil umgestellt oder weggenommen wird. Denn was ohne sichtbare Folgen vorhanden sein oder fehlen kann, ist gar kein Teil des Ganzen.“

Es wird noch zu untersuchen sein, inwiefern nicht auch Spiele dieser Forderung genügen (können). Schließlich besitzen auch sie einen Anfang und ein Ende, und viele Spiele geben analog dazu eine feste Handlungssequenz vor, die der Spieler nicht organisiert, sondern durch korrekte Eingaben lediglich aktualisiert.

Zu beachten ist, dass Aristoteles nicht primär auf eine strukturelle Beschreibung der Tragödie abzielt, sondern ästhetisch-normative Syntheseregeln aufstellt, die festlegen, wie eine gute Tragödie im Idealfall beschaffen zu sein hat. Hierfür entwickelt er eine Reihe von sechs konstitutiven Elementen, den so genannten qualitativen Teilen, die er gleichsam in einer Hierarchie nach ihrer Gewichtung anordnet: Mythos, Charaktere, Erkenntnisfähigkeit, Sprache, Melodik und Inszenierung.[13] Die beiden Kategorien „Charaktere“ und „Erkenntnisfähigkeit“ beziehen sich auf die Figuren eines Stückes, welche als Träger der Handlung dieser untergeordnet sind:

„Folglich handeln die Personen nicht, um die Charaktere nachzuahmen, sondern um der Handlung willen beziehen sie Charaktere ein.“ (Aristoteles 1982, 21)

Die Figuren stellen somit eine weitere notwendige Bedingung dar. Wenn Aristoteles (ebd.) davon spricht, dass eine Tragödie zwar nicht ohne Handlung, „wohl aber ohne Charaktere“ denkbar sei, so darf dies nicht missverstanden werden: Im Gegensatz zum „character“ in der angelsächsischen Erzählforschung sind die Begriffe „Charakter“ (êthê) und „Person“ in der Poetik nicht gleichzusetzen. Ähnlich wie im Deutschen betont Aristoteles’ mit diesem Ausdruck immer auch eine moralische Dimension, welche wesentlich für die Tragödie und das Epos ist.[14] Die Erkenntnisfähigkeit (diánoia) gewährleistet darüber hinaus eine gewisse Glaubwürdigkeit für die Figur: Sie wird definiert als das „Vermögen, das Sachgemäße und Angemessene auszusprechen.“ (ebd., 23) Die Erkenntnisfähigkeit stellt unter anderem sicher, dass sich die Person ihres gesellschaftlichen Standes gemäß verhält und dieses Verhalten vom Zuschauer als angemessen erkannt und beurteilt wird.

Die Kategorie der Figur wird für gewöhnlich als Angelpunkt für eine Anwendung aristotelischer Begrifflichkeiten auf das Computerspiel angesehen. Als eine der ersten setzt sich Brenda Laurel in ihrem Buch „Computers as Theatre“ mit dem Potenzial auseinander, welches der Computer zum Erstellen interaktiver Dramen anbietet. Zu diesem Zweck erweitert sie das Modell der Poetik um das Konzept des enactment. Der Spieler findet sich hiernach nicht in einer ausschließlich rezipierenden Position wieder, sondern in einer mimetischen: Er selbst übernimmt die Rolle einer Figur innerhalb der Geschichte.

Laurel schließt damit an die auf Platon (2004, 506ff.) zurückgehende Unterscheidung zwischen Diegesis und Mimesis in der „Politeia“ an, die sich in der angelsächsischen Theorie unter dem Begriffspaar recounting / enacting wiederfindet. Aristoteles (1982, 9) berief sich darauf in erster Linie zur Abgrenzung von Tragödie und Epos: Beide ahmen sie Geschehnisse nach; das Epos jedoch berichtet von ihnen, die Tragödie hingegen lässt die Personen selbst als Handelnde auftreten. Anhand dessen kann eine recht grobe und eher salopp zu verstehende Unterscheidung zwischen Spiel und Erzählung getroffen werden: Eine Erzählung wird erzählt (recounted), ein Spiel gespielt – genauer: geschauspiel(er)t (enacted).

Dieser Unterschied spielt daher für Aristoteles auch nur auf der Ebene der Darstellung eine Rolle: Jene wird von den drei weiteren qualitativen Teilen Sprache, Melodik und Inszenierung gebildet und ist für die weitere Untersuchung von geringerem Interesse. Es sei allerdings angemerkt, dass die Poetik damit über ein System des Stils verfügt, das ihre Anwendung auch auf andere Erzählformen und -medien möglich macht.

Während Laurel vor allem an den Möglichkeiten des Computers zur Entwicklung interaktiver Dramen interessiert ist und Computerspiele nur am Rande behandelt, entwickelt Michael Mateas einen neo-aristotelischen Ansatz, der einerseits strukturelle Begriffe zur Erfassung narrativer Aspekte in Computerspielen zur Verfügung stellen soll und andererseits als Hilfestellung dienen kann, um interaktive Geschichten nach den Vorgaben der Poetik zu erstellen. Er ersetzt hierfür Aristoteles’ Primat der Handlung durch ein Primat der agency: Der Begriff „agency“ lehnt sich an Murrays ästhetische Konzeption des Cyberdramas an und bezeichnet „the feeling of empowerment that comes from being able to take actions in the world whose effects relate to the player’s intention.“ (Mateas 2004, 21)[15] Eine Betrachtung der sechs qualitativen Teile bei Aristoteles führt Mateas zu dem Schluss, dass diese aus zwei Hierarchierichtungen zu denken sind: der von Aristoteles vertretenen Autorenperspektive und der umgekehrten Richtung – einer Rezipientenperspektive. Letztere ist so aufzufassen, dass der Zuschauer zunächst die Materialien der Inszenierung wahrnimmt und sodann Ebene um Ebene höher vordringt bis zum Verstehen und letztendlichen Interpretieren der Fabel. Er nennt die beiden Perspektiven formal cause (Autorenperspektive) und material cause (Perspektive des Zuschauers).

Im Falle des Computerspiels ist der Nutzer jedoch nicht auf die Perspektive des Zuschauers festgelegt. Stattdessen verortet Mateas (ebd., 24) ihn auf der Ebene der Charaktere[16] und spricht ihm qua agency die Fähigkeit zu, auch auf die höher gelegene Ebene der Handlung Einfluss zu nehmen. Der Spieler agiert demzufolge im Spiel als eine dramatische Figur und hat somit auch Anteil am Mythos. Dies hat zur Folge, dass die Leserichtung in Computerspielen zumindest zeitweilig vertauscht zu sein scheint:[17] Während der traditionelle Künstler seine vision du monde in die Materialien der Inszenierung projiziert und der Zuschauer in umgekehrter Richtung diese lediglich wahrnimmt, um daran wieder empor zu steigen bis zur ursprünglichen Idee, konzipiert der Spieleautor eine Welt und einen Möglichkeitsraum, in dem der Spieler seine persönliche Fassung der Fabel bewahrheitet.

Für Mateas’ Modell bedeutet dies, dass zwei neue Kausalketten in das Modell eingefügt werden müssen: zum einen die Nutzerintention (user intention), denn die Handlungen des Spielers werden nun ihrerseits zur formalen Ursache (formal cause) der Inszenierung – er nimmt in diesem Sinne eine Art Autorenperspektive ein. Der Zuschauer ersetzt allerdings nicht den Mythos: Vielmehr wird sein Handlungsspektrum von unten durch das Material der Inszenierung (material for action) abgesteckt und angeleitet. Die niederen aristotelischen Qualitäten und ihre Requisiten, Bühnenbilder und Stilmittel bilden plötzlich das Rohmaterial, das vom Autoren des Stückes bereit gestellt wird, um dem Spieler Möglichkeiten und Beschränkungen des Handelns zu eröffnen.

Abschließend können wir festhalten, dass die Poetik mit den Bestandteilen „Figuren“ und „Handlung“ zwei notwendige Bedingungen für Erzählungen nennt, die auch für Computerspiele von Bedeutung sind. Wie Marie-Laure Ryan (2001) anmerkt, dient eine solche Begriffsübertragung jedoch nur als unzureichende oder gar missverständliche Metapher, da zum einen die Handlungen nicht von den Figuren des Stücks, sondern vom „Zuschauer“ selbst ausgeführt würden und zum anderen weil die wichtigste Qualität, der Mythos, in ihnen kaum noch vorkommt:[18]

„[D]ie Geschehnisse und der Mythos [sind] das Ziel der Tragödie; das Ziel aber ist das Wichtigste von allem.“ (Aristoteles 1982, 21)

Ob diese Elemente somit als Analogieebenen geeignet sind, ist daher zunächst weiterhin fraglich.

Als wesentlicher Unterschied zwischen Spiel und Erzählung kann vorerst festgehalten werden, dass in einer Erzählung die Sequenzierung und damit die Kontrolle über den Text und seine Elemente durch einen Autoren oder eine analoge Instanz zu den zentralen Merkmalen gehört, während im Spiel ein Teil dieser Kontrolle an den Spieler abgegeben ist. Dieser sieht sich zudem nicht nur in einer rezipierenden Position, sondern darüber hinaus als ein Charakter innerhalb der Diegese.[19]

Des weiteren muss angemerkt werden, dass die Poetik keine strukturale Theorie ist und daher nur grobe Anhaltspunkte für die Untersuchung liefern kann, die im weiteren Verlauf ergänzt und vertieft werden müssen.

An der Diskussion von Mateas’ neo-aristotelischem Modell war zu sehen, dass eine narrative Analyse von Computerspielen nur unter einer erheblichen Aufwertung des Rezipienten erfolgen kann. Auch wenn Mateas’ Ansatz hierfür noch zu wenig elaboriert ist, liefert er bereits wichtige Hinweise darauf, wie ein adäquates Modell aussehen könnte. Wichtig in diesem Zusammenhang ist die festgestellte Verdoppelung der Leserichtung, denn der Spieler sieht sich im Falle des Computerspiels in einer schizophrenen Position: Er ist jemand, der die Handlung des Geschehens aus einer Außenperspektive heraus interpretiert und gleichzeitig sein Wissen über die Materialien des Spiels appliziert, um seiner Rolle als Protagonist der Geschichte gerecht zu werden und das Spiel zum erfolgreichen Abschluss zu bringen. Um diese unterschiedlichen kognitiven Prozesse in ein gemeinsames Schema zu bringen, wird in Kapitel 3 auf den Neoformalismus zur Modellentwicklung zurückgegriffen, da dieser über ein ausgearbeitetes Zuschauermodell nach dem hier verlangten Muster verfügt.

2.1.2 Gérard Genette: Die Ebenen der Erzählung

Auch wenn die einzelnen Positionen der Erzählforschung und vor allem ihre Terminologien teilweise recht verschieden sein mögen, so herrscht dennoch in den meisten von ihnen weitestgehend Konsens über die grundsätzlichen Ebenen und Bestandteile einer Erzählung. In ihren Grundzügen waren diese bereits bei Aristoteles angedacht: Kern der Erzählung sind jeweils Geschehnisse, Handlungen oder Handlungsabfolgen, die von Personen oder personifizierten Wesen ausgeführt werden und innerhalb der Erzählung in chronologische und kausale Ordnung gebracht werden, bevor sie sich in einer konkreten Aufführung realisieren oder ein Erzähler von ihnen berichtet.[20]

Explizit findet sich ein solches Modell erstmals bei den russischen Formalisten. Wegbereitend in dieser Hinsicht ist Vladimir Propps (1928) Untersuchung russischer Zaubermärchen, die er nach kleinsten allgemeinen Erzähleinheiten absucht und auf diese Weise bestimmte Handlungsmotive und Figurentypen isoliert, aus denen sich jede Erzählung zusammensetzen lässt. Wie Aristoteles ist der Formalismus somit sowohl an der – in Ansätzen strukturalen – Analyse interessiert, als auch an der Gewinnung spezifischer Syntheseregeln.[21] Viktor Šklovskij (1925, 162) schließlich setzt an die Stelle des Mythos zwei neue Begriffe: Fabel und Sujet. Die Fabel beinhaltet die Gesamtmenge der Motive in einem „normierten“ chronologischen und kausalen Ablauf. Das Sujet dagegen entspricht deren jeweiliger Realisation im konkreten Werk. Die Diskrepanz zwischen Fabel und Sujet nennt er die „Verfremdung“: Ihr gilt sein hauptsächliches Augenmerk, da er dahinter die eigentliche Leistung des Künstlers erkennt.[22]

An diese Überlegungen knüpft die französische Erzählforschung der 60er Jahre an: Tzvetan Todorov, der 1972 den Ausdruck „Narratologie“ prägt, unterscheidet analog zu dem Begriffspaar Fabel/Sujet zwischen der Geschichte (histoire) und dem Diskurs (discours) einer Erzählung. Waren die Formalisten noch sehr dem einzelnen Werk und dessen Ausarbeitung verhaftet, so vollzieht Todorov (1966) endgültig den Schritt vom Konkreten zur Struktur. Seine „histoire“ erfährt gegenüber der „Fabel“ eine erhebliche Verallgemeinerung: Sie existiert nun als vom Text abstrahierbare Menge der Ereignisse,[23] ohne dass dabei allerdings eine ideale logisch-kausale Ordnung angenommen wird. Jene entsteht erst vermittels des discours als Konstruktion des Rezipienten. Todorov interessiert aber am discours nicht nur die bloße Anordnung der Ereignisse im Text, sondern vor allem auch die Position eines Erzählers in Bezug auf das Erzählte. Der Fokus seiner Analyse verschiebt sich daher von den Mechanismen der Komposition bei den Formalisten hin zu Fragen nach der Struktur und der Präsentation.

Gérard Genette (1998) fächert den Bereich des discours wiederum in zwei Komponenten auf, indem er zwischen dem Diskurs als dem narrativen Text und der Narration als dem Akt des Erzählens unterscheidet. Diese Differenzierung beseitigt ein Problem, das die Erzähltheorie seit Aristoteles mit sich herumschleppt, nämlich dass die Komposition des Textes und die Handlungen, auf die der Text referiert, unter denselben Begriff gefasst werden.

Auch bei Genette finden sich auf einer Ebene die Ereignisse, die von den handelnden Personen ausgeführt werden und von denen der narrative Diskurs berichtet. Diese Ebene, welche semiotisch ausgedrückt „das Signifikat oder den narrativen Inhalt“ (ebd., 16) darstellt, bezeichnet er – analog zu Todorov – als „Geschichte“ (histoire).

Dem entsprechend stellt der narrative Diskurs (discours) „den Signifikanten, die Aussage, den narrativen Text“ (ebd.) dar. Genette selbst bleibt in seinen Ausführungen rein sprachlichen Erzählsituationen verhaftet. Gelegentliche Verweise auf Begriffe der kinematographischen Ästhetiken legen jedoch nahe, dass er auch nichtsprachliche Erzähltechniken in seine Überlegungen mit einschließt und einen audio-visuell realisierten Diskurs zumindest hypothetisch für möglich hält.[24]

Als dritte Ebene behandelt Genette die „Narration“ als den realen oder fiktiven produzierenden Akt, welcher den Diskurs hervorbringt. Der Begriff der Narration umfasst dabei speziell die Instanz des Erzählers, die Perspektive, die dem Rezipienten auf das Geschehen offeriert wird, und die Regulierung der Information, was Genette den „Modus“ nennt.

Der Diskurs jedoch bildet die einzige Ebene, die dem Leser und Theoretiker direkt zugänglich ist: „Geschichte und Narration existieren für uns also nur vermittelt durch die Erzählung.“ (ebd., 17) Ziel der Analyse müsse es demzufolge sein, das Verhältnis zwischen der Erzählung (récit) und den beiden anderen Ebenen zu untersuchen und so Aussagen etwa über die zeitliche Konstruktion des Erzählten oder die verschiedenen Fokalisierungstypen zu treffen.

Eine weitere Präzisierung erfährt die Ebene der Geschichte bei Seymour Chatman (1978, 19) – gemäß der angelsächsischen Terminologie wird von ihm allerdings der Begriff „Story“ verwendet. Die bisher als wesentliche Bestandteile der Geschichte identifizierten Kategorien „Figuren“ und „Handlungen“ werden von ihm verallgemeinernd eingereiht in zwei neue Gruppen: den Ereignissen (events) und Gegenständen (existents) der diegetischen Welt. Jede für sich wird noch einmal in zwei Elemente unterteilt: die existents in Figuren (characters) und Setting; die Ereignisse in Handlungen (actions) und Geschehnisse (happenings).

Dass sämtliche dieser vier Bestandteile von Geschichten – Figuren, Setting, Handlungen und Geschehnisse – auch in Computerspielen anzutreffen sind, mag auf den ersten Blick als starkes Argument dafür erscheinen, dass Spiele auch Geschichten seien oder zumindest welche zu erzählen imstande sind. Doch darf nicht übersehen werden, dass sämtliche Phänomene der realen Welt aus Figuren, Setting und Ereignissen gebildet werden.[25] Um „Geschichte“ zu werden, müssen die events und existents zunächst narrative Prozesse durchlaufen, um schlussendlich eine Erzählung zu konstituieren. Anders ausgedrückt: Eine Geschichte muss erzählt werden, um Geschichte sein zu können.

Wesentlich für Genettes Konzeption der Erzählung ist daher eine zeitliche und/oder räumliche Trennung zwischen dem Erzählen und dem Erzählten. Christian Metz (zitiert nach Genette 1998, 21) fasst daher die Erzählung als Übersetzungsoperation zwischen zwei Zeitsequenzen auf:

„Zur Erzählung gehört eine doppelte temporale Sequenz. [...] [E]ine der Funktionen der Erzählung [...] besteht [darin], eine Zeit in eine andere Zeit umzumünzen“.

Dies stellen auch Kahrmann et al. (1977, 23ff.) fest, welche die Erzählung als Produkt eines Kommunikationsprozesses beschreiben. „Erzählung“ wird hier als Objekt – als mündlicher oder schriftlich fixierter Text – einer Redesituation aufgefasst, bei der notwendigerweise das Geschehen der Rede vorausgeht.[26] Zu beachten ist, dass selbst bei einer Gleichzeitigkeit von Geschehen und Bericht (etwa bei Sportübertragungen) das Kriterium der räumlichen Trennung stets erfüllt oder – im Falle fiktiver Texte – die Redesituation nur fingiert ist, d.h. die vorherige Erzählrede wurde in eine gleichzeitige Situation „eingebettet“.[27]

Was bedeutet dies nun aber für das Computerspiel? Evident ist, dass sich das Geschehen – und damit die potenzielle „Erzählung“[28] eines Spiels – erst im Akt des Spielens konstituiert. Der Spieler handelt, er gibt einen Befehl und infolgedessen handelt die Spielfigur – der Spieler handelt als Figur der „Geschichte“. Neitzel (2000, 152) schlägt daher vor, für Computerspiele den Ausdruck „gleichzeitige Narration“ zu verwenden. Die dispositive Anordnung von Computer und Spieler kann so als Analogie zur Redesituation aufgefasst werden, indem der Computer die Rolle des Erzählers einnimmt, welcher als vermittelnde Instanz den Aktionen von Spieler und Figur zwischengeschaltet ist und in dieser Stellung die Eingaben des Spielers zunächst interpretiert, diese mit seinen einprogrammierten Vorgaben abgleicht und das Ergebnis auf einer Ebene der audio-visuellen Oberfläche in Form eines Diskurs ausgibt. Auf diese Weise ist eine gewisse Trennung zwischen Handeln und Erzählen wieder hergestellt, wobei der Spieler in den Prozess des Erzählens mit eingebunden ist. Das Problem wäre in einem solchen Modell dahingehend reduziert, dass der Spieler nur metaphorisch innerhalb einer Geschichte handelt, er folglich keine Handlungen ausführt, sondern Handlungsanweisungen – Befehle – erteilt, welche nur kraft der Programmierung des Computers zum Signifikat werden. Es stellt sich allerdings die Frage, ob nicht in einem solchen Modell die Begriffe des Erzählers und Autoren auf eine Weise transzendiert werden, die sie für weitere Betrachtungen unbrauchbar machen: Denn auch wenn der Computer als ein Erzähler modelliert wird, so ist noch wenig darüber ausgesagt, nach welch neuen Kriterien und Funktionen dieser operiert und in welchem Ausmaß er noch mit seinen traditionellen Charakteristika korrespondiert. Es ist zu vermuten, dass die Unterschiede diesbezüglich nicht zu klein ausfallen.

In der Narratologie besteht daher stets eine strikte Trennung zwischen dem Produzenten und dem Rezipienten eines narrativen Textes. Genette identifiziert diesbezüglich mehrere Ebenen: Als wirklich existierende Akteure des Erzählvorgangs stellt er den realen Autor und realen Leser einander gegenüber. Diese sind jedoch nicht identisch mit dem Erzähler und dem Adressaten einer Erzählung. Beides sind Phänomene des Diskurses, die als solche, insbesondere die Instanz des Erzählers, analysiert werden können. Dazwischen geschaltet sind der implizierte Leser und der implizierte Autor,[29] was auf den Umstand zurückzuführen ist, dass der Autor seinen realen Leser im Falle der literarischen Erzählung nicht kennt und deshalb darauf angewiesen ist, diesen implizit zu denken.[30] Das vollständige Schema sieht somit folgendermaßen aus:[31]

[Realer Autor [implizierter Autor [Erzähler [Erzählung] Adressat] implizierter Leser] realer Leser]

In diesem Muster besitzt der Autor die vollständige Kontrolle über den Diskurs. Er produziert den Text. Der Leser steht auf der anderen Seite als Rezipient. Für das Computerspiel ist ein solches Schema nur bedingt anwendbar: Zwar gibt es auch hier einen Produzenten und einen Konsumenten, doch ist das Produkt, das zwischen den beiden verhandelt wird, keine Erzählung, sondern ein Programm. Ein „Diskurs“ – wenn überhaupt – ist dort nur als Möglichkeit angedacht, da er sich in seiner Konkretion erst im Akt des Spielens manifestiert. Auf diese Weise nimmt der Spieler erheblichen Einfluss auf die Diskursproduktion, da ihm mit Einschränkung die Auswahl der Ereignisse und ihre zeitliche Organisation zukommt. Dies hat zur Folge, dass dem Spieler eine Position zuteil wird, die traditionell dem Autoren vorbehalten ist. Insbesondere im Zusammenhang mit der postmodernen Literatur und Hypertexten scheint eine solche Konzeptualisierung vorherrschend zu sein, doch ist fraglich, ob sie in der Form aufrecht erhalten werden kann. Denn letzten Endes kann der Spieler nur das organisieren, was ihm das Programm vorgibt.

Dies legt nahe, dass jeder „Diskurs“ in Graden wiederum durch bestimmte Vorgaben der Produzentenseite determiniert ist. Er entsteht in einer komplexen Wechselwirkung zwischen den Eingaben des Spielers und den im Programm festgesetzten Regeln. Möchte man daher dem Spieler weiterhin Autorschaft zuerkennen, müsste die Ebene des Autors aufgespaltet und unter dem Produzenten des Spieles und dem Spieler selbst verteilt werden. Murray (2001, 153) schlägt hierfür die Begriffe „originating authorship“ und „derivative authorship“ vor:

„In electronic narrative the procedural author is like a choreographer who supplies the rhythms, the context, and the set of steps that will be performed. The interactor, whether as navigator, protagonist, explorer, or builder, makes use of this repertoir of possible steps and rhythms to improvise a particular dance among the many, many possible dances the author has enabled.”

Allerdings ist diese Metapher für die hier verfolgten Zwecke noch zu vage und unzureichend. Denn zum einen wird der Begriff der Erzählung in dieser Auffassung nicht nur allein auf das Spiel hin ausgedehnt, sondern prinzipiell auf sämtliche denkbaren Handlungen in einem vorher festgeschriebenen Kontext – beispielsweise auf das Ausführen von Arbeitsanweisungen oder Kochrezepten. Zum anderen legt der Begriff „Autorschaft“ nahe, dass der Spieler die „vielen möglichen Pfade“ aus einer allwissenden Autorenperspektive heraus in einer bestimmten Absicht zusammenfügt. Hierzu wäre es nicht nur notwendig, sich völlige Kenntnis über sämtliche Plotbestandteile zu verschaffen, sondern zusätzlich ihre möglichen Konsequenzen und Permutationen zu durchdenken. Daher ist der Spieler in der Praxis weniger ein Autor, der die einzelnen Pfade gemäß bestimmter Vorgaben zusammensetzt, sondern – um im Bild zu bleiben – eher ein Wanderer, der drauflos schlendert und guckt, ob er auch dort ankommt, wo er ursprünglich hinwollte.[32]

Ryan (2001) kritisiert daher generell die Auffassung von einem Spieler, der als ein Autor den Diskurs anordnet, und bezeichnet diese Vorstellung als einen typischen Interaktivitäts-Mythos: Sie nennt ihn den „Mythos des Aleph“. Denn wenn die Plotbausteine tatsächlich frei organisierbar sind, werden sie beliebig. Und wenn sie dies nicht sind, ist der Spieler weniger Autor als vielmehr eine Art Puzzlespieler, der lediglich zusammenfügt, was auch ohne sein Zutun zusammenpasst. Des weiteren zweifelt sie im selben Zug die Konzeptualisierung eines Spielers an, der in die Rolle einer diegetischen Figur schlüpft. Sie bezeichnet dies als den „Holodeck-Mythos“. Hierfür wäre zunächst ein Rezipientenmodell notwendig, das klärt, welche Art der Bindung zwischen dem Spieler und seiner Figur bestünde, d.h. ob der Spieler auf dem Holodeck mehr einem Schauspieler gleichkomme, der die Verhaltensmuster und Emotionen einer Figur simuliert und ausgestaltet, oder ob er mit einem Protagonisten zu vergleichen sei, welcher die Geschehnisse, aber auch Gefühle, so zu sagen „am eigenen Leib“ erfährt.

Neitzel (2000, 128ff.) entwickelt hierfür ein erweitertes, an Genette angelehntes Modell, das diesen Überlegungen gerecht wird. Hierzu bedient sie sich der von Genette vernachlässigten Kategorie des „implizierten Autors“. In Neitzels Modell entwirft der reale Autor das dem Spiel zugrunde liegende Programm. Dieses ist aber unter erzähltheoretischen Gesichtspunkten nicht direkt zugänglich und kann nur aus einer extratextuellen Perspektive heraus als Bezugspunkt dienen. Eine „Erzählung“ entsteht erst auf Ebene der audio-visuellen Oberfläche: Damit bleibt sie der Genetteschen Auffassung eines Diskurs als „Signifikant“ des narrativen Textes verhaftet. Im Gegensatz zum traditionellen Autoren besitzt jedoch der reale Autor im Computerspiel keine vollständige Kontrolle über die im spielerischen Diskurs manifestierten Geschehnisse. Stattdessen entsteht dieser durch einen Prozess, an dem zwei implizierte Autoren beteiligt sind: das Programm, das die Spielwelt, ihre Objekte, Regeln und bestimmte Handlungsmöglichkeiten festlegt, und der Spieler, welcher aus dem Handlungsangebot auswählt und den Diskurs in seiner endgültigen Realisation manifestiert. Auf diese Weise stellt Neitzel eine Analogie zwischen der Narration, die bei Genette als „Akt des Erzählens“ verstanden wird, und dem playing her, das als der „Akt des Spielens“ begriffen werden kann. Die Position des Spielers als realer oder implizierter Leser wird dadurch nicht angetastet. Zu beachten ist aber, dass er, wie gesehen, nicht als existent auf der Ebene der histoire vorkommt, sondern auf einer neu eingerichteten Ebene der Narration verortet wird. Die Figuren bleiben so eine rein intradiegetische Entität – es besteht kein Bedarf zu sagen, der Spieler „sei“ diese oder jene Figur. Stattdessen wählt er per Tastendruck aus einem Handlungsangebot aus und lässt so die Figur laufen, springen oder schießen. Gleichzeitig beobachtet er die Auswirkungen seiner Entscheidung als Diskurs auf dem Monitor.

Neitzels Modell ist äußerst hilfreich dabei, narratologische Aspekte in einem Spiel zu identifizieren. Besonders hervorzuheben ist, dass sie nicht nur formale Vergleiche zwischen den Bestandteilen der Story – also Figuren, Setting und Ereignissen – aufstellt, sondern vor allem Analogien zwischen dem Prozesshaften von Spiel und Erzählung zieht. Um für die vorliegende Untersuchung produktiv gemacht zu werden, müsste das Modell aber noch erheblich modifiziert werden, da es, wie gesehen, den Spielbegriff vollständig in die Kategorie der Erzählung transponiert.

Möchte man unter dem „Diskurs“ eines Spieles weiterhin das audio-visuelle Produkt verstanden wissen, das aus den wirkenden narrativen Prozessen hervorgeht, so ergibt sich das Problem, dass dieses im Gegensatz zur traditionellen Erzählung nicht mehr aus einer starren, vorher festgelegten und jederzeit reproduzierbaren Sequenz besteht. Vielmehr sieht sich die Analyse mit einer potenziell unendlich großen Menge möglicher „Diskurse“ konfrontiert, die sich individuell erst im Akt des Spielens manifestieren, und müsste somit sämtliche Elemente dieser Permutationen berücksichtigen. Jesper Juul (2001) erachtet es daher nicht als sinnvoll, für Spiele die Unterscheidung von Story und Diskurs aufrecht zu erhalten. Diese erfülle in der klassischen Erzählforschung primär die Funktion, bei der Analyse auf Differenzen in der zeitlichen Organisation hinzuweisen, also denjenigen Aspekten, die Genette als „Ordnung“, „Dauer“ und „Frequenz“ bezeichnet. Grodal (2003, 134) drückt dies folgendermaßen aus:

„[T]he distinction between story and discourse is of limited value, because one of the main practical uses of the story-discourse distinction has been as a tool for describing texts with a scrambled temporal order and to compare several versions of the ‚same’ story.“

Da es im Spiel aber solche Phänomene nicht gäbe, sei die Unterscheidung hinfällig. Im Gegensatz zur traditionellen Erzählung verlaufe das Geschehen im Spiel immer simultan zu seiner Repräsentation: „[T]he game constructs the story time as synchronous with narrative time and reading/viewing time: the story time is now.“ (Juul 2001, Herv.i.O.) Des weiteren seien die Bestandteile der Story – insbesondere Figuren und Setting – für das Spiel von untergeordneter Bedeutung, weil sie lediglich Oberflächenkonventionen darstellten und somit austauschbar wären. Eine Spielfigur etwa ist keine Person mit (beispielsweise psychologisch) definierten Eigenschaften, sondern ein Bündel von Handlungsoptionen inklusive einer Positionsmarkierung.[33]

Als vorteilhafter sieht er daher eine Unterscheidung zwischen Nutzerzeit (user time) und Ereigniszeit (event time) an:

„The dominant temporal relation in (computer) games is the one between user time (the actions of the player) and event time (the happenings of the game), whereas in narrative it’s between story time (the time of the events told) and discourse time (the time of the telling).” (Eskelinen 2001)

Basierend auf diesen Überlegungen und mit Rückgriff auf die Kybernetik modelliert Juul (2004, 132-133) das Spiel so als eine Zustandsmaschine (state machine): Dem zufolge kann ein Spiel als ein System begriffen werden, das sich anhand seines jeweils aktuellen Zustandes (game state) beschreiben lässt, d.h. anhand einer Konfiguration der Spielmaterialien, bestimmter Input- und Output-Funktionen und den damit verbundenen Operationen. Die Zeit des Spielens (play time) drückt sich sodann durch spezifische Änderungen in den jeweiligen Spielzuständen aus. Jene Zustandsänderungen setzt er ins Verhältnis zur Zeit des Spielers und bezeichnet diese Funktion als „Mapping“: „Mapping means that the player’s time and actions are projected into a game world.” (ebd., 134)

Diese Begriffsverschiebung hat zur Folge, dass Genettes Kategorien neu ausgerichtet werden müssen: Die „Frequenz“ beispielsweise als das wiederholte Wiedergeben des gleichen oder desselben Ereignisses kommt im Computerspiel in verzerrter Weise etwa beim Laden eines alten Spielstandes und dem erneuten Versuch vor, einen bestimmten Abschnitt zum erfolgreichen Abschluss zu bringen. Infolgedessen kann der Diskurs eines Spieles in zweierlei Hinsicht definiert werden: einerseits als die gesamte Menge sämtlicher produzierter Spielsitzungen, d.h. inklusive zahlreicher Versuche, ein und dieselbe Stelle zu „schaffen“, oder als das ideale Spiel einer letztlich zum siegreichen Ende geführten Sequenz:

„Save games are manipulations of game time. […] [M]y playing of Half-Life is a combination of a multitude of small play sessions that moved the protagonist from the game’s beginning to the end. A reconstruction of all the time used on the game would yield a giant tree with numerous forks (the save games), numerous dead ends, and only one path through.” (ebd., 137-138, Herv.i.O.)

Diese Figuration der „Überschreibung“ einer Sequenz durch erneutes Spielen vergleicht Kücklich (2002, 119) mit McHales (1987, 101) postmodernem Konzept der self-erasure:

„Events may be narrated and then explicitly recalled or rescinded […]. Or self-erasure may remain implicit, as when two or more […] mutually-exclusive states of affairs are projected by the same text, without any of these competing states of affairs being explicitly placed sous rature”. (Herv.i.O.)

Eine erzähltheoretische Analyse von Computerspielen sieht sich demnach mit dem Problem konfrontiert, dass für die Untersuchung kein fester und reproduzierbarer Diskurs zur Verfügung steht, sondern eine bis zu unendlich große Menge möglicher Diskurse, die einander jeweils ausschließen. Ich möchte dies im Folgenden das „Problem der Diskursproliferation“ nennen. Hiermit wird sich Kapitel 3.3 näher befassen.

Allerdings scheinen mir die beobachteten Sachverhalte den Einsatz eines völlig neuen Begriffsapparates noch nicht ausreichend zu rechtfertigen. Insbesondere die von Juul und Eskelinen zu Recht problematisierte Unterscheidung von Story- und Diskurs-Zeit wird durch ihren alternativen Ansatz nicht aufgelöst und durch ein adäquateres Modell ersetzt, sie wird lediglich negiert, was zur Folge hat, dass bestimmte Phänomene – etwa Flashbacks – auf einmal paradox erscheinen, weil sie mit dem Modell nicht mehr erklärbar sind. Jenkins (2004, 127) hierzu:

„Juul argues that flashbacks are impossible within games, because the game play always occurs in real-time. Yet, this is to confuse story and plot.”

Wie die spätere Analyse zeigen wird, sind Flashbacks im Spiel allerdings nicht nur möglich, sondern eine außerordentlich effektive und häufig verwendete Erzählstrategie für interaktive Geschichten. Diese „Konfusion“ entsteht erst gar nicht, wenn für die Beziehung zwischen Geschehen und Spieler – wie oben – Genettes Begriff der „gleichzeitigen Narration“ verwendet wird, der die Simultanität des Geschehens betont, aber die Unterscheidung von Story und Plot aufrecht erhält.

Des weiteren sind die neu eingeführten Begriffe „Ereigniszeit“ und „Nutzerzeit“ überflüssig, weil sie in der (kinematographischen) Erzähltheorie bereits existieren: Bordwell (1985, 80ff.) verwendet hierfür ein dreigliedriges Schema bestehend aus fabula time, syuzhet time und screen time, das Juuls Modell bereits vollständig enthält und seine Nachteile aufwiegt. Selbst bei Genette (1998, 22) ist ein solches dreigliedriges Schema schon angedacht: Hier kommt die screen time unter dem Begriff „Pseudo-Zeit“ vor: Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass die reale Lesezeit nicht reproduzierbar ist und nur metaphorisch der Erzählzeit entspricht. Auch im Film fallen syuzhet time und screen time zumeist, aber nicht notwendigerweise, zusammen.

Auch wenn Juuls und Eskelinens Ansätze damit für die weitere Untersuchung von wenig heuristischem Nutzen sein dürften, sprechen sie wichtige Probleme bei der Übertragung erzähltheoretischer Begrifflichkeiten auf das Computerspiel an, so etwa auftretende Ungereimtheiten bei den Konzepten von Story, Diskurs und Narration. Zudem leisten sie einen wichtigen Beitrag bei der Einbeziehung des Spielers in den Prozess des Erzählens. Insbesondere jedoch das Problem der Diskursproliferation muss noch einer näheren Prüfung unterzogen und bei der späteren Modellentwicklung berücksichtigt werden.

Insgesamt scheint das strukturale Erzählmodell Genettes präzise und elaboriert genug, um wesentliche Kennzeichen von Erzählungen zu benennen und mit denjenigen von Computerspielen zu vergleichen. Wie schon an der Diskussion der aristotelischen Poetik zu sehen war, droht eine Verwechslungsgefahr der beiden Kategorien, weil ihnen beiden existents und events zugrunde liegen. Zimmerman (2004, 156,157) merkt jedoch hierzu an: „A narrative is not merely a series of events, but a personification of events through a medium such as language.” Ferner zeichneten sich jene Prozesse durch Akte der Selektion, Strukturierung und Wiederholung aus.

Konstitutiv für eine Abgrenzung von Spiel und Erzählung ist die jeweilige Rezeptionssituation: Für die Erzählung herrscht das Modell der traditionellen Redesituation vor – auch wenn das Medium Sprache dafür nicht, wie des öfteren fälschlicherweise behauptet, zwingend ist.[34] Hier besteht jederzeit eine eindeutige Trennung zwischen dem Autoren als dem Produzenten des Textes, dem Erzähler als dessen Markierung innerhalb des Textes und dem Adressaten bzw. dem extradiegetischen Leser des fixierten und unveränderbaren Diskurses.[35] Im Computerspiel sind diese Instanzen zwar in gewisser Analogie ebenso vorhanden, allerdings müssen ihre Rollen und Aufgaben innerhalb der „Gaming Situation“ (Eskelinen 2001) neu verteilt werden. Leser und Programm bilden dort zwei Akteure, die den Diskurs als ein gemeinsam verhandeltes Produkt im Akt des Spielens erst erzeugen.

Die Unvereinbarkeit von Spiel und Erzählung offenbart sich insbesondere an den – von der Erzähltheorie mittlerweile durchweg anerkannten – drei narrativen Ebenen: histoire, narration, discours – oder welche Bezeichnung sie auch immer im jeweiligen Theoriekontext gerade annehmen. Keine dieser Ebenen ist problemlos auf Phänomene des Computerspiels übertragbar. Dieser Umstand führte in der Theorie immer wieder zu – zum Teil wilden – Analogiemodellen, die den Spieler mal als Autoren, mal als Figur oder umgekehrt das Spiel als Erzählung betrachten wollten.

Wie aber auch zu sehen war, sind die narratologischen Denksysteme für das Computerspiel nicht vollständig abzulehnen, sondern können mit Bedacht so erweitert oder angewandt werden, dass jene auch unter narrativen Gesichtspunkten betrachtet werden können. Insbesondere Neitzels an Genette angelehntes Modell hat sich in dieser Hinsicht als produktiv erwiesen. Allerdings ist unter solchen Vorzeichen dem Einwand der Ludologen nachzugehen, ob dann nicht dem Spiel ein Begriffsapparat und damit einhergehende Fragestellungen übergestülpt werden, die an seinen spezifischen Eigenheiten vorbeigehen. Denn in letzter Konsequenz schreibt Neitzel das Computerspiel vollständig der Erzählung ein und behandelt es auf diese Weise lediglich als eine Art literarisches „Genre“.

Im Folgenden muss daher noch näher auf die spezifische „computer-game-ness of the game“ (Juul 1998) eingegangen werden und auf das Verhältnis, das es mit seinen erzählenden Facetten eingeht.

2.2 Spiel und Computerspiel

In der bisherigen Diskussion wurden anhand ausgewählter Stationen der Erzähltheorie einige charakteristische Eigenschaften und nach Möglichkeit notwendige Merkmale von Erzählungen festgestellt. Dabei wurden auch vorwegnehmend immer wieder Versuche in Betracht gezogen, die dargestellten Modelle auf Aspekte des Spiels bzw. des Computerspiels anzuwenden oder gar zu übertragen, ohne dass dabei jedoch die Kategorie „Spiel“ oder ihre wesentlichen Merkmale definiert gewesen wären. Dies soll im Folgenden geschehen.

Dabei soll besonders die Spezifik des Spiels im Verhältnis zum zuvor diskutierten Begriff der Erzählung herausgearbeitet werden. Gleichzeitig dienen die hierbei gewonnen Erkenntnisse als Grundlage für die spätere Modellentwicklung und Analyse narrativer Strategien. Zu diesem Zweck sollen zunächst allgemeine Unterscheidungskriterien anhand der geläufigsten spieltheoretischen Ansätze gewonnen werden. Anschließend werden diese am Computerspiel diskutiert, wofür sich insbesondere die Arbeiten der Ludologen eignen, da diese stets darauf bedacht sind, das Spiel von der Erzählung abgegrenzt zu wissen.

Vorweggeschickt sei, dass eine Bestimmung des Spiels unverhältnismäßig schwieriger als im Falle der Erzählung zu leisten ist. Dies zeigt sich bereits an der diversifizierten Verwendung des Wortes „Spiel“ oder „spielen“ in der deutschen Sprache: So sprechen wir etwa vom Schauspiel, von den Olympischen Spielen, vom Spiel der Blätter im Wind oder davon, ein Musikinstrument zu spielen. Um die Diskussion aufgrund dieser Unschärfe nicht zu weit auszudehnen, soll sie sich nur am Rande und wo es sinnvoll ist mit diesen Aspekten des Spiels im Allgemeinen befassen und jederzeit auf das Computerspiel im Speziellen zielen.

Doch auch der Begriff „Computerspiel“ ist nicht frei von Missverständnissen. So wird es in der Literatur häufig für notwendig befunden, aufgrund unterschiedlicher Hardwareplattformen zwischen „Computerspielen“, „Videospielen“ oder auch „Telespielen“ zu unterscheiden.[36] Eine Diskussion der verschiedenen Bezeichnungen führt in der Regel zu dem Fazit, dass sie nicht eindeutig voneinander abgegrenzt werden können.[37] Jürgen Fritz (2003a, 2) schlägt daher den Oberbegriff „Bildschirmspiele“ vor. Gemeinsame Kennzeichen dieser Spiele sind ein Bildschirm oder eine ähnliche Art der Anzeige zum Darstellen des Spielraumes und der Spielfiguren, sowie ein Interface zur Manipulation der Spielelemente. Der Einfachheit halber und aus persönlicher Vorliebe wird, wie auch bisher, einheitlich nur von „Computerspielen“ die Rede sein.

Des weiteren sei darauf hingewiesen, dass selbstverständlich eine sträfliche Verallgemeinerung vorliegt, wenn im Folgenden von der „Kategorie“ oder „Struktur des Spiels“ oder auch „des Computerspiels“ gesprochen wird. Insbesondere da sich diese Arbeit das Herausarbeiten struktureller Ähnlickeiten von Spiel und Erzählung auf die Fahnen geschrieben hat, müsste streng genommen die Struktur eines jeden einzelnen Spielgenres separat betrachtet werden. Dies soll im Folgenden nicht geschehen: Zum einen weil die Analyse allgemein genug gehalten wird, um die Ergebnisse auch auf andere oder ähnliche Genres übertragen zu können. Zum anderen weil sie dort – das sei vorweggenommen –, wo sie entsprechende Differenzierungen vornimmt und sich näher mit strukturellen Details individueller Genres beschäftigt, die Übertragbarkeit der angewandten Strategien nachweisen wird.

Eine Definition der einzelnen Computerspielgenres vorab halte ich daher nicht für sinnvoll. Wo es nötig ist, wird eine solche in die laufende Diskussion eingeschoben – ansonsten wird eine Kenntnis der gängigsten Bezeichnungen vorausgesetzt. Diese Entscheidung sei ferner damit begründet, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt allgemein gültige Genredefinitionen oder gar eine wissenschaftlich fundierte Genretheorie für das Computerspiel nicht existieren.[38]

2.2.1 Roger Caillois: Die Regeln des Spiels

Eine Unterscheidung, die im Deutschen aufgrund der fehlenden sprachlichen Differenzierung nicht offensichtlich ist und daher in den bisherigen Ausführungen nur implizit getroffen wurde, ist die im Englischen einsichtige zwischen dem Spiel (game) und dem Spielen (play). Das Spielen (play) betont das Prozesshafte, das sich im Anwenden und Ausführen der im Spiel (game) festgelegten Regeln ausdrückt. Das Spiel (game) wiederum betont das Strukturelle, das den Rahmen für spielerisches Handeln festlegt und sich im gameplay – also quasi einer von vielen möglichen Partien – manifestiert. Intuitiv einsichtig wird der Unterschied in der Formulierung: ein Spiel spielen.

Von Neumann/Morgenstern (zitiert nach Neitzel 2003, 19) unterscheiden daher zwischen einem Spiel (die Gesamtheit aller Regeln, die es beschreiben), einem Zug (einer Handlungsmöglichkeit), einer Partie (ein tatsächlich auf eine bestimmte Weise gespieltes Spiel) und einer Wahl (eine aktualisierte Handlung).

Johan Huizingas „Homo ludens“, in dem er seine kulturhistorisch geprägte Spieltheorie formuliert, gilt diesbezüglich als das Schlüsselwerk zum Verständnis des Spielens. Das play wird hier definiert als:

„eine freie Handlung [...], die als ‚nicht so gemeint’ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird [...] und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft [...]“ (Huizinga 2001, 22)

Dem zur Seite steht das game als reglementierende Instanz, die zur Aufgabe hat, das play in gewissen Bahnen zu verankern:

„Spiele (games) sind improvisierte oder tradierte Vereinbarungs- und Regelgebilde, in deren Rahmen oder nach deren Norm man mittels Spieltätigkeiten jene Bewegungsabläufe erzeugt und gestaltet“. (Scheuerl 1975, 347)

Casti (1995, 142) bringt daher die Beziehung der beiden auf die einfache Formel:

„Spiel (game) = Spiel (play) + Regeln“.

Nach Eskelinen/Tronstad (2003, 204) machen sich die charakteristischen Eigenschaften des Spielens allesamt an einem Verständnis der „Andersartigkeit“ des Spieles im Verhältnis zum normalen Leben fest.[39] Diese kann sich einmal auf Regeln und Ziele beziehen: „[T]he player is subjected to rules and sets himself goals that do not apply to his ‚ordinary life.’“ Sie bezieht sich aber auch auf Raum und Zeit: Das Spielfeld grenzt einen räumlichen Bereich von seiner Umwelt aus, und die Spieldauer legt fest, wie lange diese Unterscheidung aufrecht erhalten bleibt. Des weiteren gehorchen Spiele – beispielsweise durch die Einteilung in Runden – ihrer eigenen Zeitlichkeit. Die dritte Form der Andersartigkeit bezieht sich auf die Imagination einer Spielwelt: „to make-believe, transforming the real time and place of play to an imagined time and place.“ (ebd.) Auch wenn Eskelinen/Tronstad nicht explizit darauf hinweisen, so wird bei Huizinga zudem noch auf eine Andersartigkeit von Spiel und Ernst hingewiesen, die sich darin ausdrückt, dass das Spiel keine relevanten Auswirkungen auf das normale Leben besitzt.[40]

Für die Untersuchung des Zusammenhangs von Spiel und Erzählung ist insbesondere noch Huizingas Forderung nach „freier Handlung“ zu betonen,[41] welche eine Indeterminiertheit des Geschehens voraussetzt und damit einen Widerspruch zum abgeschlossenen Charakter der Erzählung eingeht. Das Spiel oszilliert so ständig zwischen einem Gefühl der Freiheit und der Beschränkung durch das Regelwerk des Games, das die Handlungsmöglichkeiten einschränkt und so das Geschehen auf die Abgeschlossenheit einer denkbaren „Erzählung“ ausrichtet. Ob der Spieler diese Beschränkung allerdings als solche erfährt oder ob er sie akzeptiert bzw. gar nicht erst wahrnimmt, hängt im Falle des Computerspiels insbesondere auch von den illusionistischen Verfahren der Spiele ab:

„The pleasurable surrender of the mind to an imaginative world is often described, in Coleridge’s phrase, as ‘the willing suspension of disbelief.’ But this is too passive a formulation even for traditional media. When we enter a fictional world, we do not […] suspend disbelief so much as we actively create belief. Because of our desire to experience immersion, we focus our attention on the enveloping world and we use our intelligence to reinforce rather than to question the reality of the experience.” (Murray 2001, 110, Herv.i.O.)

Narrative Verfahren können somit als Strategie verstanden werden, die Beschränkungen der Spielregeln als selbstverständlich und gegeben hinzunehmen. McLuhan (1968, 258) sieht daher das Spielen als ständigen Prozess der gegenseitigen Anpassung: Der Spieler ist in diesem Sinne nie vollkommen „frei”, sondern wird gezwungen, sich und seine Handlungen der Struktur des Spieles anzugleichen: „Ein Spiel ist ein Automat, der erst funktionieren kann, wenn die Spieler sich bereit erklären, eine Zeitlang zu Marionetten zu werden.“ Wolfgang Iser (1991, 468) kommt daher zu dem Schluss, nicht nur das Spiel werde vom Spieler gespielt; der Spieler werde auch immer vom Spiel gespielt.

Dieser Gegensatz zwischen der Handlungsfreiheit und einer durch Regeln auferlegten Beschränkung derselben drückt sich auch in Caillois’ (2001, 13) Begriffspaar „Ludus“ und „Paidia“ aus, welches häufig auch zur Unterscheidung von Game und Play herangezogen wird:

„At one extreme an almost indivisible principle, common to diversion, turbulance, free improvisation, and carefree gaiety is dominant. It manifests a kind of uncontrolled fantasy that can be designated by the term paidia. At the opposite extreme, this frolicsome and impulsive exuberance is almost entirely absorbed or disciplined by a complementary, and in some respects inverse, tendency to its anarchic and capricious nature: there is a growing tendency to bind it with arbitrary, imperative, and purposely tediuos conventions […] I call this second component ludus.” (Herv.i.O.)

Das aus dem Griechischen stammende „Paidia“ wird im Deutschen mit „Kinderspiel“ übersetzt und bezeichnet als solches ein ziel- und regelloses, improvisiertes „Herumspielen“. Im Ludus hingegen werden die Handlungsmöglichkeiten durch selbst auferlegte Regeln angeleitet. Warren Motte (1995, 7) drückt dies auf den Punkt gebracht so aus:

„Paidia [is] characterized by fun, turbulence, free improvisation, and fantasy and ludus [by] constraint, arbitrary rules, effort, adroitness, ingenuity“.

Der Begriff „Paidia“ ist somit in der Lage, gerade solche einleitend erwähnten Phänomene (wie das „Spiel der Wellen“) abzudecken, die umgangssprachlich zwar als „Spiel“ bezeichnet werden, jedoch nicht der Vorstellung eines Spieles (Ludus) im engeren Sinne entsprechen.

Gonzalo Frasca (2003b, 230) dagegen hält Caillois’ Definition noch nicht für ausreichend, da er feststellt, dass auch Paidia-Spiele häufig über Regeln verfügen: „A child who pretends to be a soldier is following the rule of behaving like a soldier and not as a doctor.” Er schlägt als Alternative vor, dass Ludus-Spiele Regeln beinhalten sollen, die einen Gewinner und/oder einen Verlierer definieren. Das freie Spielen des Paidia hingegen fände ohne festgelegtes Ziel statt, ohne Siegsituation und ohne Niederlage.[42] Im Bereich der Computerspiele fänden sich Paidia-Spiele dieser Auffassung nach vor allem in Form der – insbesondere von den Ludologen favorisierten – Simulationsspiele, beispielsweise Sim City (USA 1989, Maxis), in dem der Spieler eine Stadt verwaltet, ohne dabei konkrete Zielvorgaben erfüllen zu müssen.

Eric Zimmerman (2004, 159-160) unterscheidet ferner drei Kategorien des Play: Die erste Kategorie nennt er „Game Play“ oder „formales Spielen“. Sie beinhaltet das Spielen von Brett-, Karten-, Sport- oder auch Computerspielen, also sämtliche Play-Aktivitäten, die sich auf das vereinbarte Regelsystem eines Games berufen. Die zweite Kategorie schließt solche „ludischen Aktivitäten“ ein, die nicht durch ein Game formalisiert sind, aber aufgrund gewisser Ähnlichkeiten umgangssprachlich „Spielen“ genannt werden: „dogs chasing each other, two college students tossing a frisbee back and forth“ (ebd., 159) usw. – er spricht daher auch von „informalem Spielen“. Unter die dritte Kategorie fasst er eine Form des „Verspieltseins“ („Being Playful, or Being in a Play State of Mind“), die auf alle erdenklichen Aktivitäten bezogen werden kann und sich darin zeigt, dass sie diesen den gewissen „Ernst“ nimmt.

Dem entsprechend unpräzise fällt im Folgenden seine Definition des Play aus: „Play is the free space of movement within a more rigid structure.“ (ebd.)[43] Der Begriff wird auf diese Weise zum einen auf eine solche Weise ausgedehnt, dass er nur schwer von anderen Aktivitäten abgegrenzt werden kann, zum anderen sind seine Kategorien so ungenau, dass sie kaum anwendbar sind.[44] Für die vorliegende Untersuchung ist dies aber nur bedingt relevant, da sie sich ausschließlich mit der ersten Kategorie beschäftigt. Für diese ist auffallend, dass Zimmerman das Play als einen Handlungsraum begreift, welcher auf eine Struktur bezogen wird. Das Game auf der anderen Seite verortet die Elemente jener Struktur in einem Symbolraum, der jederzeit als formales System vom Vorgang des Spielens abstrahierbar ist. Für die vorliegende Untersuchung stellt sich die Frage, ob das Play nicht auch auf andere Strukturen, etwa eine narrative, ausgerichtet werden kann.[45]

Entscheidend für eine Analyse des Computerspiels ist daher, die drei Kategorien Game, Play und Erzählung nicht zu verwechseln oder zu vermischen. Denn während das Game als formales System jederzeit vom Play abstrahierbar ist, ist dies für die „Erzählung“ – wie im vorigen Kapitel dargelegt – nicht so einfach, da sie erst im und durch den Akt des Spielens entsteht. Hinzu kommt, dass das erzählende Referenzsystem den Objekten des Symbolraums im Handlungsraum narrative Funktionen zuschreibt, die ihnen an sich nicht zukommen. Nach Walter (2001, 208) entsteht so eine Verwechslungsgefahr dadurch, „dass die audio-visuellen Oberflächen für beide Phänomene identisch sind. [...] Allerdings funktionieren SPIELstrukturen auch ohne diese audio-visuellen Oberflächen.“ (Herv.i.O.)

Jenes Darstellungssystem wird daher von Frasca (2003b, 232) in seiner Klassifikation der Spielregeln auf der ersten von insgesamt drei Ebenen verortet: „The first level is the one that simulation shares with narrative and deals with representation and events.“ Die zweite Ebene betrifft Manipulationsregeln, also die Art und Weise, wie der Spieler auf die Elemente des Spiels Einfluss zu nehmen in der Lage ist. Die dritte Ebene bleibt den Ludus-Spielen vorbehalten und definiert das Ziel, das der Spieler zum Gewinnen des Spiels erreichen muss. Frasca erwägt noch eine vierte Ebene, die so genannten Metaregeln, die festlegen, auf welche Weise die übrigen Regeln verändert werden können oder dürfen.

Auf den ersten Blick scheint eine Verbindung zwischen Spiel und Erzählung nur auf Ebene der Repräsentation denkbar. Wie noch zu sehen sein wird, finden strukturelle Kopplungen jedoch ausschließlich auf den anderen beiden Ebenen statt. Repräsentation ist keine hinreichende, sondern lediglich notwendige Bedingung dafür.[46]

Auch wenn der Spieler fast ununterbrochen die Regeln des Spiels anwendet und mit ihnen in Wechselwirkung tritt, sind sie ihm in der Praxis allerdings nicht immer direkt einsichtig. Aus diesem Grund fächert Klaus Walter (2001, 51) das Regelwerk auf in ein explizites und ein implizites Regelwerk. Das explizite Regelwerk entspricht der geläufigen Auffassung von „Spielregeln“ und enthält diejenigen Regeln, die der Spieler zu Beginn des Spiels lernt, akzeptiert und bewusst anwendet. Ein Großteil von ihnen kann üblicherweise in einem Handbuch nachgelesen oder in einem Tutorial angeeignet und eingeübt werden. In Computerspielen existiert aber immer auch ein implizites Regelwerk, das dem Spieler u.U. nur eingeschränkt bekannt ist und das beispielsweise die zugrundeliegende „Physik-Engine“ oder Abfrageroutinen beinhaltet. Das gesamte Genre der Adventurespiele basiert beispielsweise gerade auf der Tatsache, dass der Spieler die impliziten Regeln nicht kennt und diese Wissensdefizite als Rätsel wahrnimmt, die es zu bewältigen gilt, um das Spiel zu gewinnen und so die Wissenslücken zu füllen. Was dabei häufig übersehen wird, ist die Tatsache, dass nicht nur digitale, sondern fast sämtliche Arten von Spielen über implizite Regeln verfügen – etwa in Form der physikalischen Gesetze. Am Beispiel sportlicher Wettkämpfe ist zu sehen, dass der Umgang mit jenen impliziten Regeln und die Bewältigung derselben in vielerlei Fällen die eigentlichen Herausforderungen für den Spieler darstellen.

Darüber hinaus sind die Regeln eines Computerspiels immer in Form des Programmcodes festgehalten, der für den Spieler in der Regel weder einsichtig noch verständlich ist. Viele der (impliziten) Regeln können daher nur durch die Interaktion mit der Spielumgebung und ihrer Oberfläche erfahren werden. Julian Kücklich (2003) verwendet zur Beschreibung dieses Phänomens das Konzept der Viabilität, das er dem radikalen Konstruktivismus bei Ernst von Glasersfeld entnimmt:

„Viability […] means that a sensation is stabilized by perception, but whether something proves viable is by no means proof of its reality. In relation to games this means that a player does not necessarily gain access to the implicit rules of the game through playing, but that he or she will find a way to interact meaningful with the game, no matter what the actual rules encoded by its designers are.”

Sein Fazit ist, dass der Spieler einen Großteil der Regeln erst gar nicht bewusst erlernt. Stattdessen leitet er die Konsequenzen seines Handelns induktiv aus der Wahrnehmung ab und macht sich so einen Umgang mit der Spielwelt und ihren Elementen zu eigen. Die Repräsentation – und damit die Ebene, die Spiele mit Erzählungen gemein haben – schafft hierfür eine notwendige Grundlage. Im Laufe der Zeit wird der Spieler seine Anpassungsversuche optimieren und seine Fähigkeiten schließlich bis zur Perfektion entwickeln.

Dieses Streben nach Perfektion vergleicht Kücklich mit Umberto Ecos (1998, 67) Konzept des „Modell-Lesers“: Demzufolge ist der „ideale“ Leser einer, der einen gegebenen Text in exakter Weise gemäß der Intention des Autors aktualisiert. Dieser Gedanke ist in ähnlicher Weise auf viele Computerspiele übertragbar, zumindest auf solche, deren Ereignissequenz in eine ideal­typische Reihenfolge gebracht oder deren Zielvorgabe in einer optimierten Weise erfüllt werden kann. Allerdings muss der Spieler hierfür zunächst die Mechaniken des Spiels einüben und seine (in der Regel: Reaktions-)Fähigkeiten trainieren. Der „ideale Spieler“ ist daher nur asymptotisch denkbar; als ein Zustand, den jeder reale Spieler anstrebt.

Als Effekt dieses ständigen Lernprozesses beobachtet Grodal (2003, 148) eine kontinuierliche Steigerung der Immersion in drei Phasen: Zu Beginn ist der Spieler mit der Spielwelt nicht vertraut; jedes Ereignis ist neu für ihn, und jede Aufgabe stellt eine Herausforderung dar. Darum ist sein Verhalten in der Welt noch unbeholfen und seine Bindung ans Geschehen wird immer wieder durch Frustration unterbrochen. Um immer besser im Umgang mit dem Spiel zu werden, ist er gezwungen, es immer und immer wieder zu spielen. Infolgedessen verstärkt sich seine mentale Beziehung zur Spielwelt:

„The peak result of such a learning process may be trancelike immersion in the virtual world […]. But the end result […] is what the Russian Formalists called automation, and what psychologists might call desentization by habituation. The virtual world becomes predictable […]” (ebd., Herv.i.O.)

Im Gegensatz zu traditionellen Erzählungen, die in der Regel auf ein erstes Lesen ausgelegt sind, fordern Spiele ein mehrmaliges Rezipieren ein. Dies hat insbesondere Auswirkungen auf die Erfahrung narrativer Effekte wie suspense, surprise und curiosity:[47] Was etwa beim ersten Spielen noch überrascht, ist beim nächsten Mal antizipierbar. In der Phase der Automation schließlich ist der Handlungsablauf vollständig vorhersehbar. Es kann daher gemutmaßt werden, dass sich der Einsatz narrativer Taktiken im Spiel von traditionellen Erzählmedien insofern unterscheidet, da sie auf diese „Ästhetik der Wiederholung“ (ebd.) antworten müssen.

Jenes ständige Verbessern des eigenen Umgangs mit dem Spiel beschreibt bereits Caillois (2001, 13) als eines der zentralen Merkmale des Ludus: „[I]t requires an ever greater amount of effort, patience, skill, or ingenuity.“ Im Gegensatz zum Paidia geht es im Ludus stets darum, Hindernisse zu überwinden und die Fähigkeiten hierfür zu erwerben.

In etwas anderer Form kehrt dies auch in Caillois’ vier Grundkategorien des Spielens wieder. Mit den Begriffen agôn (Wettkampf), alea (Glücksspiel), mimicry (Maskerade) und ilinx (Rausch), versucht er, sämtliche Formen ludischer Aktivitäten abzudecken:

„All four indeed belong to the domain of play. One plays football, billiards, or chess (agôn); roulette or a lottery (alea); pirate, Nero, or Hamlet (mimicry); or one produces in oneself, by a rapid whirling or falling movement, a state of dizziness and disorder (ilinx).” (ebd., 12, Herv.i.O.)

Der Aspekt des Wettkampfes (agôn) spielt in den meisten Ludus-Spielen und insbesondere in Computerspielen eine entscheidende Rolle: Der Spieler befindet sich entweder im Wettstreit mit anderen Spielern, dem Computer oder sich selbst. Bernard Perron (2003, 243) weist allerdings darauf hin, dass bei Caillois mit agôn nur der erste Fall gemeint ist – der kompetitive Wett­bewerb zwischen zwei oder mehreren Teilnehmern. Der allgemeinere Fall – die Hindernisse und Herausforderungen des Spieles zu überwinden oder sich selbst, z.B. seinen Punktestand oder seine Rundenzeit, stets zu verbessern – ist in Form des Zieles als Grundkonstante im Ludus bereits angelegt.

Gleichwohl ist offensichtlich, dass die vier Kategorien Überschneidungen aufweisen und sich keineswegs gegenseitig ausschließen, sondern anteilig in jedem Spiel vorhanden sein können.[48] So gibt es eine Vielzahl von Ereignissen im Computerspiel, die vom Zufall (alea) abhängig sind, z.B. das „Auswürfeln“ eines Kampfes in Strategiespielen. Auch die Maskerade (mimicry) scheint eine zentrale Rolle zu spielen, da der Spieler in Form des Avatars die Rolle einer Figur innerhalb der Geschichte übernehmen kann.[49] Insbesondere jedoch der Rausch (ilinx) wird in der Literatur schon früh mit Computerspielen in Verbindung gebracht und drückt sich dort in der Metapher vom Flugtraum aus, mit dem die neuen Bewegungs- und Wahrnehmungsweisen der Spielwelten umschrieben werden:

„Das Flugerlebnis, das nicht nur von Flugsimulatoren vermittelt wird, sondern die typische Bewegungsform in den Computerbildflüssen ist, wird gelegentlich als technische Realisierung des Flugtraumes angesprochen. [...] Beim Flug hat der Träumer tatsächlich seinen Körper hinter sich gelassen [...]. Beim Eintauchen in die virtuelle Umgebung aus dem Computer hat das Auge die Führung. Es zieht den Körper mit. Besser: Es zieht am Körper, der im Hintergrund sein Gespür behauptet.“ (Schönhammer 2001, 78-79)

Da Caillois aber explizit und ausschließlich körperliche Erscheinungsarten des Rausches gelten lässt – und damit metaphorische Formulierungen wie den „Rausch der Geschwindigkeit“ ausklammert –, wird in der Theorie für diese Art des rauschhaften Zustands im Moment des Spielens häufig der Begriff des flow bei Mihali Czikszentmihalyi (1975) herangezogen. Nach Douglas/Hargadon (2004, 203) ist flow „a condition where self-consciousness disappears, perceptions of time become distorted, and concentration becomes so intense that the game or task at hand completely absorbs us.“ Neitzel (2000, 30) weist jedoch darauf hin, dass für Caillois ein Begriff wie der flow insofern überflüssig ist, da er als freudige bis exzessive Empfindung nicht nur ohnehin eine Grundkomponente des Spielens darstellt, sondern darüber hinaus erst den Anreiz zum Spielen überhaupt gibt.

Die bis dato erarbeiteten Kriterien dienten vor allem dem Zweck, verschiedene Phänomene und Aktivitäten für eine Definition des Spielens zu erwägen und diese von einer Vorstellung des Spiels im engeren Sinne abzugrenzen. Außer dass ein Spiel über Regeln verfügt, wurde aber noch wenig über die strukturellen Eigenschaften dieser Kategorie gesagt. Hierzu soll die Klassifikation von Avedon/Sutton-Smith (1971) herangezogen werden. Elliot M. Avedon nennt darin zehn Elemente zur Differenzierung einzelner Spielen: 1) Zweck, 2) Prozeduren, 3) Regeln, 4) Anzahl der Spieler, 5) Teilnehmerrollen, 6) Resultate, 7) erforderliche Fähigkeiten, 8) Interaktions­muster, 9) Umweltanforderungen, 10) erforderliche Utensilien.

Die meisten dieser Kriterien sind selbsterklärend und sollen nicht weiter diskutiert werden. Für die spätere Untersuchung ist jedoch speziell der Aspekt der „erforderlichen Fähigkeiten“ von Interesse: Avedon nennt diesbezüglich kognitive, sensomotorische und affektive Fähigkeiten. Kognitive Verabreitungsprozesse sind vermutlich in sämtlichen Computerspielen von Belang – außer vielleicht in reinen Geschicklichkeitsspielen, wenn das Stadium der Automation bereits eingesetzt hat. Sie gewährleisten das Verstehen und Anwenden der Regeln, das Entwickeln von Siegstrategien und das Navigieren im virtuellen Raum. Auch die neoformalistische Erzähltheorie beruft sich auf die Kognitionspsychologie, um Prozesse des Verstehens und Interpretierens von Geschichten zu beschreiben und zu erklären. Diese Verbindungslinie wird später die Grundlage für die Analyse struktureller Kopplungen bilden, da sich auf Ebene der Kognition Interdependenzen zwischen Spiel- und Erzählstruktur ergeben können.

Ähnliches gilt für die affektiven Fähigkeiten: Sie bieten nach Avedon (ebd., 424) die Möglichkeit zur Objektbindung (object-ties), Übertragung (transference) und Identifikation. Insbesondere die Identifikation, die in ähnlicher Form schon in Caillois’ Kategorie der mimicry vorkam, stellt für diese Untersuchung insofern eine Schlüsselkategorie dar, weil sie in der Regel mit Effekten von Erzählungen in Zusammenhang gebracht wird. Da diese Effekte aber noch wenig erforscht und eine direkte Übertragung somit problematisch, zumindest aber missverständlich ausfallen dürfte, wird an gegebener Stelle nur insoweit darauf zurückgekommen, als es die verwendeten Theorien zulassen.

Sensomotorische Fähigkeiten schließlich sind bereits in einfacher Form für das Handhaben der Eingabegeräte erforderlich. Vor allem Actionspiele jedoch machen es notwendig, dass der Spieler diese Fertigkeiten kontinuierlich verbessert und spezielle Bewegungsabläufe einstudiert, um das Spiel erfolgreich spielen zu können. Dieser Aspekt unterscheidet Spiele von traditionellen Erzählmedien insofern, da der Rezipient hier eine weitaus größere Bandbreite spezifischer Fertigkeiten entwickeln und Operationen verschiedenster Art ausführen muss, um sich den Text zu erschließen. Damit wird sich das nächste Kapitel ausführlicher beschäftigen.

Werfen wir zuvor noch einen Blick auf die gesammelten Ergebnisse: Wie die Erzählung enthält auch die Kategorie des Spiels einen Text auf der einen und eine Aktivität auf der anderen Seite. Allerdings lassen sich diesbezüglich keine eindeutigen Analogien ziehen: Denn im Gegensatz zum Diskurs der Erzählung steht der Text eines Spiels nicht nur am Ende als Ergebnis des Erzählprozesses, sondern in Form des Regelwerkes auch an dessen Anfang. Selbst ein Vergleich zwischen der Aktivität des Spielens mit dem Akt des Erzählens bzw. Lesens kommt nicht über vage Metaphern hinaus.

Das Problem fußt bereits in der scheinbaren Unmöglichkeit, das Spiel von Phänomenen und Aktivitäten abzugrenzen, die umgangssprachlich mit dem Etikett „Spiel“ versehen werden, aber augenscheinlich mit dem hier untersuchten Gegenstand nicht viel oder nur symbolisch zu tun haben. Caillois’ Unterscheidung von Ludus und Paidia sowie eine Diskussion der verschiedenen Figurationen des play erwiesen sich für eine Präzisierung als wichtiger Fingerzeig. Dabei konnte festgestellt werden, dass sich das Spiel (game) anhand einer Struktur konstituiert: dem Regelwerk. Dieses ist für eine vollständige Beschreibung allerdings nicht ausreichend. Vielmehr setzen die Regeln stets ihre Anwendung durch einen Spieler voraus oder anders ausgedrückt: Ein Spiel muss gespielt werden – wie eine Geschichte immer auch erzählt werden muss. Das Spielen (play) stellt seinerseits eine Handlung dar, die durch das Regelwerk angeleitet ist und seine Bedingungen und Einschränkungen daraus bezieht. Dass das Spielen so häufig mit anderen Aktivitäten verglichen wird, ist mit den verschiedenen Erscheinungsformen begründet, die es annehmen kann: Caillois’ Kategorien agôn, alea, ilinx und mimicry erweisen sich hierfür als sinnvoll, um sowohl allgemeine als auch diejenigen ludischen Phänomene zu kategorisieren, welche für die hier betrachteten Computerspiele relevant sind.

Die bisherigen Ausführungen vermieden es, den verwendeten Spielbegriff zu eng zu fassen, ihn ausschließlich für Computerspiele zu reservieren oder gar auf ein bestimmtes Genre festzulegen. Auch hielten sie sich nicht mit dem Versuch auf, eine präzise Definition des Computerspiels und seiner Genres zu liefern. Dies sollte nicht als Nachlässigkeit ausgelegt werden, sondern hoffen lassen, dass die zu erwartenden Erkenntnisse auch auf andere Spiele übertragbar sind. Zu beachten ist allerdings, dass einige der von Avedon/Sutton-Smith genannten Merkmale von Spielen – etwa die Spielutensilien oder die Teilnehmerrollen – im Falle von Computerspielen in „entmaterialisierter“, medial vermittelter Form auftreten, was zum einen Verwechslungen mit narrativen Strukturmomenten begünstigt und zum anderen ein Interface erforderlich macht, das in die Struktur des Spiels eingebettet ist und von der Analyse berücksichtigt werden muss.

Für einen Vergleich zwischen Spiel und Erzählung könnte sich ferner die Beobachtung als nützlich erweisen, dass sich die Aktivität des Spielens (play) stets auf eine Struktur, das Regelwerk, ausrichtet. Insofern liegt die Frage nahe, ob sie sich nicht auch auf andere Strukturen, vor allem narrative, beziehen lässt. Da des weiteren festgestellt wurde, dass für das Spielen kognitive Fähigkeiten und Aktivitäten notwendig sind, die auch beim Rezipieren von Erzählungen wirken, scheinen sich an dieser Stelle Möglichkeiten zur strukturellen Kopplung zu eröffnen, die es noch näher zu betrachten gilt.

Während allerdings Erzählungen lediglich nach einer interpretierenden Interaktion mit dem Text verlangen, bildet für das Computerspiel eine aktive Einwirkung des Lesers auf den Text die Grundvoraussetzung, um diesen überhaupt erst entstehen zu lassen. Schenken wir daher diesem Aspekt im Folgenden gesteigerte Aufmerksamkeit.

2.2.2 Espen Aarseth: Der „ergodische“ Text

Bisherige Versuche, die traditionellen narratologischen Modelle auf das Computerspiel zu übertragen, waren zum Scheitern verurteilt, weil sie nicht in der Lage waren, die interaktiven Prozeduren der Spiele zu erfassen. Dieser Problemstellung nimmt sich Espen Aarseth in seiner für die Game Studies paradigmatischen Monographie „Cybertext. Perspectives of Ergodic Literature“ an, worin er ein Modell entwickelt, das in der Lage ist, Texte zu beschreiben, die sich erst im Prozess des Lesens zu einem linearen Diskurs manifestieren. In Anlehnung an Norbert Wiener verwendet er hierfür den Ausdruck „Cybertext“,[50] der auch Spiele, aber vor allem Hypertexte, MUDs (Multi-User-Dungeons) und eine Vielzahl gedruckter Texte, wie das chinesische „I-Ching“, umfasst. Jeder Cybertext wird als ein kybernetisches System aufgefasst, das den eigentlichen Text hervorbringt: „a machine (or a human) that operates as an information feedback loop, which will generate a different semiotic sequence each time it is engaged.“ (Aarseth 1999, 32-33)

Aarseth prägt für dieses Phänomen den Begriff des „ergodischen Textes“, ein Neologismus, der sich aus den griechischen Wörtern érgon (Arbeit) und ó dos (Weg) zusammensetzt. Kennzeichnend für eine solches ergodisches System ist, dass ein „nicht-trivialer“ Aufwand vom Nutzer erforderlich ist, um den Text zu „durchqueren“.[51] Zwar fordern auch traditionelle Textbegriffe, wie etwa in der reader-response -Theorie, eine Interaktivität zwischen Leser und Text ein, doch beschränkt sich diese auf das Auswählen, Verstehen und Interpretieren des Textes oder auf Aktivitäten, die Barthes als „Tmesis“ beschreibt.[52] Ein ergodischer Text hingegen entsteht als solcher erst als Produkt aus dem Dialog zwischen Leser und System. Leistet der Leser keine Arbeit, existiert erst gar kein Text.[53] Anders ausgedrückt: In traditioneller Kunst konstruiert der Leser Fabel und Bedeutung; in ergodischer Kunst auch das Sujet.

[...]


[1] In der Literatur wird häufig aufgrund verschiedener Hardwareplattformen zwischen den Begriffen „Computerspiel“ und „Videospiel“ differenziert. Diese Unterscheidung spielt allerdings für die vorliegende Untersuchung keine Rolle. Es wird einheitlich nur von „Computerspielen“ die Rede sein. Siehe dazu S. 22.

[2] Aarseth (2004, 49) dazu: „At a recent game conference, it was stated that the difference between films and games was simply the ‘interactivity’ of the games.”

[3] Vor allem die Arbeiten von Buckles (1985), Laurel (1993) und Murray (2001) sind diesbezüglich als einflussreich hervorzuheben.

[4] Diese Perspektivierung ist vorherrschend insbesondere im Zusammenhang mit Hypertext-Literatur und der postmodernen Theorie, etwa bei Bolter (1991), Iser (1991), Landow (1992).

[5] Vgl. zu dieser Position Frasca (2003), Juul (1998), Juul (2001), Eskelinen (2001), Eskelinen (2004), Aarseth (2004).

[6] Crawford (2005, 69) gibt diesbezüglich an, dass viele Spieledesigner zuerst ein Spiel programmieren und es erst anschließend „storysieren“: „Games people see stories as desirable feature to add to their games [...] They design the game first, and then add a story the same way they add animation, sound effects, and music.“

[7] Der Einfachheit halber im Folgenden auch Gabriel Knight II genannt.

[8] Juul (1998): „[T]he narrative tends to be isolated from or even work against the computer-game-ness of the game.“

[9] Barthes (1988, 146): „Aristoteles ist schließlich der Vater der strukturalen Werkanalyse“.

[10] Aristoteles verwendet die Begriffe „Handlung“ (práxis) und „Geschehnisse“ (pragmata). Wie Fuhrmann (in Aristoteles 1982, 110) anmerkt, deutet der „Ausdruck ‚Geschehnisse’ [...] auf ein Geflecht, das aus den Handlungen [...] mehrerer entsteht“.

[11] Diese erste Kategorie mag mitunter verwirren, da Aristoteles zwar zwischen den Handlungen (praxis), der Handlung (im Sinne des englischen „Plot“) und der Handlungsführung unterscheidet, aber alle unter den gemeinsamen Begriff „Mythos“ fasst. Im nächsten Kapitel wird Genette dieses Knäuel entwirren.

[12] Selbstverständlich spricht Aristoteles nicht von „Erzählung“, sondern bezieht sich abwechselnd auf Tragödie, Epos und Komödie; letztere nur am Rande, da der entsprechende zweite Band bekanntermaßen verschollen ist. Diese Unterteilung kann hier jedoch vernachlässigt werden, da sie nicht strukturell, sondern rein formal getroffen wird. D.h. die wesentlichen qualitativen Teile Mythos, Charaktere und Erkenntnisfähigkeit (letzteres mit Einschränkung) sind allen drei gemeinsam, während sie sich auf den Darstellungsebenen Sprache, Melodik und Inszenierung unterscheiden.

[13] Vgl. Aristoteles 1982, 21ff.

[14] Aus diesem Grund wird das englische „character“ im Folgenden stets mit „Figur“ übersetzt. Der Begriff „Charakter“ dagegen betont Figuren, welche durch ein Bündel konstanter psychologischer Eigenschaften charakterisiert sind – vgl. dazu auch Forsters (1949, 77ff.) Unterscheidung von „runden“ und „flachen“ Charakteren. Die hier verwendete Nomenklatur orientiert sich an Taylor/Tröhler (1999). Demnach entspräche Aristoteles’ „Charakter“ (êthê) einer Mischung aus dem deutschen „Charakter“ und dem „Helden“. Bezieht er sich auf einen allgemeineren Begriff, so verwendet er den Ausdruck „Person“: Dieser ist mit dem deutschen „Figur“ zu vergleichen, mit einem Hang zum „Typen“.

[15] Murray (2001, 128) gibt zu verstehen, dass der Effekt der agency nicht auf interaktive Medien begrenzt ist, dort jedoch eine zentrale Stellung einnimmt. Auch ist er nicht mit Partizipation oder (Inter-)Aktivität am Text zu verwechseln. Vielmehr stellt er ein ästhetisches Vergnügen dar, „an experience to be savored for its own sake“.

[16] Es sei darauf hingewiesen, dass Mateas dadurch kategorisch Spiele ausklammert, in denen der Spieler nicht die Rolle eines Charakters einnimmt – beispielsweise eine Vielzahl von Strategiespielen. Dies ist von ihm selbstverständlich beabsichtigt, da er ja auf ein Erzählmuster nach Vorbild des aristotelischen Dramas zielt, das bekanntlich Charaktere voraussetzt.

[17] Aarseth (1997, 112): „In the determinate cybertext, then, the functions of plot (sjuzet) and story (fabula) appear to have traded places, somehow.“ (Herv.i.O.) Doch revidiert er diese Aussage sogleich wieder, da der Spieler den Plot nicht vollständig kontrolliert. Stattdessen ergibt sich dieser aus einem komplexen Wechselspiel zwischen Spieler und Programm, das noch zu untersuchen sein wird.

[18] Der Mythos stellt auch genau die zentrale Komponente des traditionellen Erzählbegriffes dar, die Grodal (siehe S. 7) in seinem phänomenologischen Ansatz (bewusst) unter den Tisch fallen lässt, um Spiel und Erzählung miteinander abzugleichen. In der vorliegenden Arbeit soll dies aber vermieden werden.

[19] Eine zusätzliche Schwierigkeit beim Versuch, die aristotelische Theorie für interaktive Medien produktiv zu machen, besteht darin, dass bei Aristoteles der Zuschauer noch viel mehr als in anderen Erzähltheorien als ein passiver konzipiert ist, der den affektiven Wirkungen des Stückes ausgeliefert ist. Denn die Funktion der Tragödie sei es, „Jammern und Schaudern“ hervorzurufen, um auf diese Weise eine „Reinigung“ von bestimmten seelischen Zuständen herbeizuführen. Eine zweite Funktion sieht er darin, als Lehrparabel zum sittlich guten Handeln anzuleiten. Vgl. dazu Aristoteles 1982, 37ff.

[20] Wie dieser Satz andeutet, schließt „Erzählung“ im hier verwendeten Sinne sowohl Diegesis wie auch Mimesis ein.

[21] Nach Šklovskij (1925, 32) ist die Erzählung daher weniger den erzählten Ereignissen und Handlungen selbst verpflichtet, sondern allgemeinen „Gesetzen des Handlungsaufbaus“.

[22] Vgl. dazu Šklovskij 1916.

[23] Dies hat auch zur Folge, dass die histoire nicht zwingend an ein bestimmtes Medium gekoppelt ist, sondern prinzipiell auch nicht-sprachlich erzählt werden kann – vgl. Todorov 1966, 127. Ein nicht-sprachlicher Diskurs ist bei Todorov noch nicht vorgesehen.

[24] In der Literatur wird häufig eine Identität der Begriffspaare Geschichte/ histoire /Fabel/Story und Erzählung/Diskurs/Sujet/Mythos/Plot behauptet. Bordwell beispielsweise verwendet häufig synonym zu seinen eigenen Begriffen „fabula“ und „syuzhet“ die Ausdrücke „Story“ und „Plot“, und selbst Genette (1998, 199) gibt der Gleichsetzung von „histoire“ und „discours“ mit „Fabel“ und „Sujet“ „[s]einen Segen“. Streng genommen ist dies aber nicht korrekt, da kleine, aber signifikante Unterschiede zwischen den Modellen und ihren Begriffen bestehen. Ich möchte daher im Folgenden entsprechende Begriffe nicht synonym setzen, sondern sie in ihrem jeweiligen Theoriekontext verankert wissen. Abhängig vom Gegenstand der Untersuchung erscheint mir mal der eine, mal der andere Begriff passender, weswegen es bisweilen zu einem etwas verqueren „Theorie-Hopping“ kommen kann. Selbst dann werden die verschiedenen Ansätze aber nicht als vereinheitlicht behandelt. Etwaige Ähnlichkeiten der Begriffe sind bestenfalls als Analogien zu verstehen, deren Verwendung die Spezifik der jeweiligen Theorie voll anerkennt.

[25] An diese Überlegung schließt Grodal an, der dafür plädiert, jede Wahrnehmung von realen Ereignissen als „Erzählung“ aufzufassen. Diese Annahme wurde für die vorliegende Untersuchung bereits abgelehnt – siehe S. 7-8.

[26] Obwohl Kahrmann et al. ausschließlich ein Erzählmodell der sprachlichen Rede erstellen, ist die Medien­unabhängigkeit desselben gewährleistet.

[27] In ähnlicher Weise unterscheidet Genette (1998, 154ff.) zwischen „späterer“, „gleichzeitiger“ und „früherer Narration“.

[28] Die Anführungszeichen markieren hier wie in der folgenden Passage die problematische Verwendung bestimmter narratologischer Begriffe in artfremden Kontexten. Darauf ist insbesondere unter dem Gesichtspunkt hinzuweisen, da ja die Transkription bestimmter Termini und ihrer Verwendungsweisen hier generell auf dem Prüfstand steht. In den unvermeidbaren Fällen appelliert der Gebrauch vorläufig an einen bewusst unscharf gehaltenen, positivistisch aufzufassenden Sinn des Wortes. Ziel der aktuellen Diskussion ist es daher auch, schnellstmöglich eine gültige Terminologie zu liefern.

[29] Genette (1998, 283ff.) selbst lehnt den Begriff „implizierter Autor“ ab und akzeptiert ihn nur aus Gründen der Symmetrie. Seiner Auffassung nach besteht nur in Ausnahmefällen eine Veranlassung, zwischen einem realen Autor und einem implizierten zu unterscheiden.

[30] Im Gegensatz zur mündlichen Redesituation, wo realer und implizierter Leser in der Regel zusammenfallen.

[31] Entnommen bei Genette 1998, 285.

[32] Zwei Anmerkungen noch hierzu: Zunächst drängt sich die Frage auf, welche Bedingungen erfüllt sein müssten, damit der Nutzer nichtsdestotrotz zum „Autoren“ erklärt werden könnte. Als Möglichkeit käme in Betracht, dass er in der Lage sein muss, Ereignisse hervorzubringen, welche vom Entwickler des Programms so nicht vorgesehen waren. Dies führt uns in die Richtung von Simulationsprogrammen, wie sie von den Ludologen propagiert werden, bei denen jedoch die Beziehung zwischen Spiel und Erzählung noch strittiger ausfällt, als dies ohnehin der Fall ist. An gegebener Stelle wird darauf zurückzukommen sein. Beispiele der eindeutigeren Art lassen sich dagegen in der interaktiven Medienkunst finden, wo der Rezipient insofern zum Autor wird, als er dem Text selbst verfasste Passagen hinzufügt. Solche Projekte sollen hier allerdings nicht behandelt werden.

[33] Letzteres verleitet Rob Fullop (zitiert nach Neitzel 2004, 196) wiederum dazu, die Spielfigur nicht mit dem Helden der Geschichte gleichzusetzen, sondern mit dem Spieler selbst: „If you watch a movie, you become the hero – Gilgamesh, Indiana Jones, James Bond, whomever. […] In a game, Mario isn’t a hero. I don’t want to be him; he’s me. Mario is a cursor.”

[34] So ist etwa Eskelinen (2001), indem er Gerald Princes Unterscheidung von Mimesis und Diegesis her­anzieht, der Ansicht, dass Computerspiele nicht narrativ sein könnten, weil sie sich nicht dem Medium Sprache, dem telling, sondern dem showing verschrieben hätten. Dass er damit das Problem nicht löst, sondern lediglich verschiebt, scheint er nicht zu erkennen. Ebenso wenig, dass er auf diese Weise zwar Computerspiele von Erzählungen abgrenzt, sie aber implizit im selben Schritt dem Drama zuordnet – was vermutlich keineswegs seine Absicht gewesen sein dürfte. In dieser Arbeit werden sowohl Mimesis als auch Diegesis, telling und showing, als Modi des Narrativen aufgefasst. Branigan (1984, 190) bezeichnet dieses Konzept als „telling by showing“: „Thus drama – which is almost purely dialogue – approaches pure showing (as does pantomime) since there appears to be no author – events, seemingly, just happen, characters simply speak.”

[35] Oder anders ausgedrückt: einem Sender und einem Empfänger.

[36] Vgl. dazu Lischka 2002, 69-71.

[37] Häufig wird beispielsweise darüber gestritten, ob das erste Computerspiel Tennis for Two überhaupt als solches bezeichnet werden dürfte, weil ihm weder ein Mikroprozessor noch eine digitale Datenverarbeitung zugrunde lag. Seine Hardware basierte auf einem neu verschalteten, rein analogen Messgerät, einem Oszilloskop – vgl. dazu Lischka 2002, 19-22 und Pias 2000, 13-16. Vor dem Hintergrund aktueller Konvergenzbewegungen im Medienbereich ist es noch schwieriger, den Begriff an eine bestimmte Hardware zu koppeln, wo doch auch Handys oder Armbanduhren als Plattform ausreichen.

[38] Während literarische Genres anhand „wiederkehrender Erzählmuster, Themen und Motive“ (Winter zitiert nach Hickethier 1996, 199) erkennbar sind, nehmen die von Spielern, Herstellern und Fachpresse verwendeten Genrebezeichnungen für Computerspiele fast ausschließlich Bezug auf die vom Spieler zum Spielen erforderlichen Handlungsmuster, wie z.B. Action, Shooter, Strategie etc. Jene vermischen sich aber häufig mit inhaltlichen (z.B. Space-Action) oder Darstellungsaspekten (z.B. Ego-Shooter). Bei einer empirischen Untersuchung der gebräuchlichsten Genrebezeichnungen populärer Publikationsorgane stellt Neitzel (2000, 205ff.) fest, dass es zwar keine einheitliche Terminologie und dafür zahlreiche unscharfe Kategorien gibt, dass sich aber auch „ungefähre Verbindlichkeiten“ entnehmen lassen. Ein erster grober Anhaltspunkt hierfür bietet die Einteilung in Denk- und Geschicklichkeitsspiele. Der bisher umfassendste und weitestgehend anerkannte Versuch einer Klassifikation findet sich bei Fritz (2003b, 5-6): Dieser verortet Computerspiele in einem Dreieck mit den Polen „Denken, Action und Geschichten“. Davon ausgehend können weitere Unterklassen gebildet werden. Das Modell ist auch für die folgende Untersuchung brauchbar, allerdings soll darauf hingewiesen werden, dass „Geschichten“ hier nicht unter Genre-, sondern strukturalen Gesichtspunkten gesehen werden.

[39] Diesen Unterschied (der einen Unterschied macht) zwischen Spiel und Welt nimmt Bo Kampmann Walther (2003) zum Anlass, das Spiel als geschlossenes System zu beschreiben, das sich anhand dieser Unterscheidung von seiner Umwelt ausdifferenziert und selbst reproduziert. Ein solcher systemtheoretischer Ansatz führt aber für die vorliegende Arbeit zu weit.

[40] Vgl. dazu Casti 1995. Die Forderung nach der fehlenden Ernsthaftigkeit bezieht sich offensichtlich auf Vorgänge des realen Lebens, die beispielsweise von der ökonomischen oder soziologischen Spieltheorie als Spiel modelliert werden, aber nicht der Vorstellung eines Spieles im engeren Sinne entsprechen, wie etwa das Kriegsspiel, Wettersimulationen etc. – vgl. dazu Pias’ „Computer Spiel Welten“. Das Kriterium besitzt allerdings äußerst fließende Grenzen. Es klammert beispielsweise das Pokerspiel kategorisch aus, sobald hier ein echter finanzieller Einsatz „auf dem Spiel steht“. Auch ist zu beachten, dass die meisten Spiele jederzeit „ernst werden“ können, etwa wenn sich ein Sportler beim Spielen Verletzungen zuzieht. Und natürlich hat prinzipiell jedes Spiel Auswirkungen auf das wirkliche Leben, weil es immer auch ein Teil davon ist; beispielsweise konsumiert jedes Spiel zumindest reale Zeit und Energie.

[41] Der Ausdruck „freie Handlung“ wird bei Huizinga ambivalent verwendet: Er verweist zum einen auf die Handlungsfreiheit, die der Spieler eines Spieles erfährt, zum anderen bedeutet er aber auch, dass sich der Spieler freiwillig dem Spiel anschließt.

[42] Er zieht daraus die Analogie, dass Ludus-Spiele einem Drei-Akt-Schema folgten, das dem aristotelischen Drama ähnele: Der erste Akt enthielte das Verstehen und Vereinbaren der Regeln; der zweite deren Ausführung; der dritte Akt zieht Bilanz und legt Gewinner und Verlierer fest. Wie Frasca (2003, 230) weiter ausführt, bildet eine solche Analogie zwar strukturell gesehen bestenfalls eine gefällige Metapher, aus ideologiekritischer Perspektive sei sie jedoch von großem Interesse, weil sich in ihr die – auch für Erzählschemata bedeutsame – manichäische Moral manifestiere.

[43] Zur Veranschaulichung zieht er den Gebrauch des Wortes heran, wenn wir sagen, dass ein Lenkrad ein gewisses „Spiel“ hat: „The free play is the amount of movement that the steering wheel can turn before it begins to affect the tires of the car.“ (Zimmerman 2004, 159)

[44] Insbesondere die zweite Kategorie ist als Definition insoweit unbrauchbar, als sie bereits ein apriorisches Verständnis davon voraussetzt, warum eine Aktivität als „ludisch“ gelten kann oder nicht. Der augenscheinliche Zweck von Zimmermans Klassifikationen – nämlich sämtliche Verwendungsweisen des Wortes „Spielen“ und damit verbundene Assoziationen abzudecken – wird auch dadurch hinfällig, dass die eingangs erwähnten Ausdrücke „ein Musikinstrument spielen“ oder das „Schauspielen“ nur schwerlich in dem Schema unterzubringen sind.

[45] An diese Überlegung schließt Kapitel 3.1 an.

[46] Siehe dazu Kapitel 4.1.

[47] Vgl. Grodal 2003, 148-150.

[48] Die Tabelle bei Caillois 2001, 54 veranschaulicht diesen Punkt schematisch.

[49] Wie in Kapitel 2.1.1 dargelegt wurde, bildet dieser Aspekt für Laurel den Anknüpfungspunkt, um Computerspiele als interaktive Form des Dramas und den Spieler als eine Art Schauspieler zu begreifen. Diese Parallelisierung stellte sich an derselben Stelle allerdings für die hier verfolgten Zwecke als problematisch heraus.

[50] Wiener gilt mit seinem Werk „Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine“ als Begründer der Kybernetik. Wie der Untertitel verrät, war diese Disziplin ursprünglich nicht nur als eine Computerwissenschaft vorgesehen, sondern hatte zum Ziel, jedwedes System zu modellieren, das über eine Feedbackschleife der Information verfügt.

[51] Vgl. Aarseth 1997, 1.

[52] Mit „Tmesis“ bezeichnet Barthes (1990, 18) ein dem Interaktiven verwandtes, diskontinuierliches Lesen, das dann auftritt, wenn der Leser bestimmte Passagen oder gar ganze Seiten überspringt oder sie überfliegt.

[53] Dies ist in letzter Konsequenz nicht vollständig korrekt. Simulationsspiele beispielsweise können auch ohne das Eingreifen eines Nutzers ablaufen. Allerdings wäre das nicht Sinn der Sache.

Fin de l'extrait de 145 pages

Résumé des informations

Titre
Computerspiel-Geschichten? Analyse narrativer Strategien zur strukturellen Kopplung von Spiel und Erzählung
Université
Ruhr-University of Bochum  (Medienwissenschaft)
Note
1,3
Auteur
Année
2006
Pages
145
N° de catalogue
V77178
ISBN (ebook)
9783638741538
ISBN (Livre)
9783638742504
Taille d'un fichier
1795 KB
Langue
allemand
Mots clés
Computerspiel, Geschichten, Computerspiele, Erzähltheorie, Neue Medien, Games, Narratologie, Ludologie, Medientheorie, Story-Telling
Citation du texte
Matthias Grimm (Auteur), 2006, Computerspiel-Geschichten? Analyse narrativer Strategien zur strukturellen Kopplung von Spiel und Erzählung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/77178

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