Peter Weiss löst mit seinem Drama Die Ermittlung vor der Uraufführung im Jahre 1965 bei der Kritik heftige Proteste aus. Viele der Rezensenten assoziieren mit dem Bühnenwerk unmittelbar den Ausspruch Adornos: „[N]ach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch [...].“ – Gemäß diesem vielzitierten Diktum des Frankfurter Philosophen, welches wohl auf alle literarischen Gattungen und ebenso auf andere Kunstformen übertragen werden kann und in aktuellen Diskussionen über das Gedenken an den Holocaust noch immer angeführt wird –, wäre eine Literatur nach Auschwitz und erst Recht ein Theaterstück über Auschwitz nicht denkbar.
Peter Weiss gibt Adorno Recht darin, daß Auschwitz als Ganzes nicht faßbar sei, sondern lediglich ein Ausschnitt aus dieser Thematik künstlerisch umgesetzt werden könne. Allerdings ist für Weiss, gerade wegen der Unfaßbarkeit des Holocausts, die künstlerische Darstellung solcher Ausschnitte nötig, da der Fakt, daß die Schoah stattgefunden hat, „Bestandteil unseres Lebens ist“.
Der Dramatiker Weiss ist sich der Problematik der literarischen Ästhetisierung des Holocausts spätestens bei Erscheinen des Hochhuth Dramas Der Stellvertreter aus dem Jahr 1963, in dem der letzte Akt im Lager Auschwitz spielt, vollkommen bewußt. Noch 1964 schreibt er: „Wir müssen etwas darüber sagen. Doch wir können es noch nicht.“ Im Gespräch mit Girnus / Mittenzwei bemerkt er ebenfalls dazu: „Das Lager Auschwitz oder welches Lager auch immer auf der Bühne darzustellen, ist eine Unmöglichkeit. Ja eine Vermessenheit, es überhaupt nur zu versuchen, man kann diesen Gedankenkomplex überhaupt nur von heute aus im Rückblick beobachten und versuchen zu analysieren, was da vorgegangen ist.“
Weiter notiert er in den Anmerkungen zur Ermittlung, daß die Rekonstruktion des Prozesses über die Auschwitz-Täter ihm anfänglich ebenso unmöglich erschien, „wie es die Darstellung des Lagers auf der Bühne wäre.“ (9) Doch bereits kurz nach Beginn des Frankfurter Prozesses revidiert Weiss seine Ansicht in dieser Beziehung und merkt an: „zuerst dachte ich, es ließe sich nicht beschreiben, doch da es Taten sind, von Menschen an Menschen begangen –“ So entschließt sich Weiss, Auschwitz als Chiffre für das Äußerste, was Menschen anderen Menschen antun können, in der Ermittlung indirekt über den Frankfurter Prozeß auf die Bühne zu holen. In der Wahl seiner Mittel, die, wie er oben einräumt, dem Thema Holocaust nur sehr schwer gerecht werden können, geht er einen anderen Weg als Hochhuth. Er reduziert ihren Einsatz auf ein Minimum – ein Versuch, dem er übrigens sehr kritisch gegenübersteht, denn er äußert die Befürchtung, die Darstellung der Schrecken könne dem Rezipienten eine „heile Welt“ vorgaukeln – was natürlich nicht Sinn der Ermittlung sein soll. So rechtfertigt Weiss in seiner Rede anläßlich der Entgegennahme des Lessingpreises der Freien Hansestadt Hamburg am 23. April 1965 die Form der Ermittlung und stellt fest: „daß die Verwendung dieser kaum mehr tauglichen Mittel besser ist als das Schweigen und die Fassungslosigkeit.“
Die Art und Weise wie Peter Weiss das ihm vorliegende Material verarbeitet, interpretiert und auf die Bühne bringt, soll Gegenstand dieser Arbeit sein. Daneben wird der Frage nachgegangen, welche Gestaltungsmittel der Autor benutzte und welche aufgrund des Themas Auschwitz versagen müssen. Abschließend soll Die Ermittlung im Kontext aktueller politischen Debatten um Vergangenheitsbewältigung und Erinnerung an den Holocaust in der Bundesrepublik betrachtet werden.
Im folgenden werden jedoch zunächst die biographischen Bezüge Weiss’ zur nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie und zum Ort Auschwitz aufgezeigt, dann in einem Exkurs das dokumentarische Theater als beliebtes Genre der sechziger Jahre vorgestellt und schließlich das Rohmaterial für Die Ermittlung, der Frankfurter Auschwitz-Prozeß, knapp skizziert.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Die Ermittlung – ein Theaterstück nach Auschwitz über Auschwitz?
- I. Peter Weiss und Auschwitz
- II. Exkurs: Das dokumentarische Theater der sechziger Jahre
- III. Das historische Material der Ermittlung: Die Strafsache gegen Mulka u. a.
- IV. Die Ermittlung als dokumentarisches Theaterstück
- V. „Ganz normale Männer“ – Die Täter im Frankfurter Prozeß und in der Ermittlung
- V.1 Der Angeklagte Mulka
- V.2 Der Angeklagte Broad
- V.3 Der Angeklagte Stark
- V.4 Der Angeklagte Dr. Lucas
- VI. Kritik an der Ermittlung und am Dokumentarischen der Ermittlung
- VII. Resümee
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Hausarbeit analysiert Peter Weiss' Theaterstück „Die Ermittlung“ und untersucht die sprachliche Ästhetisierung des Holocausts im Kontext des dokumentarischen Theaters der 1960er Jahre. Sie beschäftigt sich mit den Herausforderungen der künstlerischen Auseinandersetzung mit Auschwitz und analysiert die ästhetischen Mittel, die Weiss in seinem Werk einsetzt.
- Die sprachliche Ästhetisierung des Holocausts im dokumentarischen Theater
- Die Herausforderungen der Darstellung von Auschwitz in der Kunst
- Die Verwendung von historischen Dokumenten und Aussagen im Theaterstück
- Die Rolle der Täter im Frankfurter Auschwitz-Prozeß und in „Die Ermittlung“
- Die Kritik an der Ermittlung und am Dokumentarischen der Ermittlung
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung thematisiert die Kontroverse um die künstlerische Auseinandersetzung mit Auschwitz und stellt die Problematik der Ästhetisierung des Holocausts vor. Kapitel I beleuchtet die biographischen Bezüge von Peter Weiss zu Auschwitz und die prägenden Erfahrungen, die ihn zum Schreiben der Ermittlung führten. Kapitel II präsentiert das dokumentarische Theater als populäres Genre der 1960er Jahre, das sich auf historische Fakten und Dokumente stützte. Kapitel III skizziert den Frankfurter Auschwitz-Prozeß, der die Grundlage für das Theaterstück bildet. Kapitel IV untersucht die Ermittlung als dokumentarisches Theaterstück und analysiert die spezifischen ästhetischen Mittel, die Weiss in seinem Werk einsetzt. Kapitel V analysiert die Darstellung der Täter im Frankfurter Auschwitz-Prozeß und in der Ermittlung, wobei die vier Hauptangeklagten, Mulka, Broad, Stark und Dr. Lucas, im Fokus stehen.
Schlüsselwörter
Die Ermittlung, Peter Weiss, Auschwitz, dokumentarisches Theater, Holocaust, Frankfurter Auschwitz-Prozess, ästhetische Darstellung, Vergangenheitsbewältigung, Erinnerungskultur.
- Arbeit zitieren
- Jens Tanzmann (Autor:in), 2004, Die sprachliche Ästhetisierung des Holocaust in Peter Weiss' "Die Ermittlung", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/77190