Kinder- und Jugendbücher über Afrika und Afrikaner. Interkulturelle Erziehungsaspekte

Eine literaturwissenschaftliche und -didaktische Analyse


Examination Thesis, 2004

114 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Interkulturelle Erziehung
2.1 Interkulturelle Erziehung - warum? Lebensrealität als Begründung
2.1.1 Das Afrikabild in der europäischen Gesellschaft
2.1.2 Zur Entwicklung des europäischen Afrikabildes
2.2 Grundlagen und Ziele Interkultureller Erziehung
2.3 Der Beitrag der Kinder- und Jugendliteratur und ihrer Didaktik zur Interkulturellen Erziehung

3 Analyse und Interpretation ausgewählter Kinder- und Jugendbücher über Afrika und Afrikaner im Hinblick auf interkulturelle Erziehungsaspekte
3.1 Begründung der Buchauswahl
3.2 Vorstellung und Begründung der Analysekriterien
3.3 Kinder- und Jugendbücher, die das Leben afrikanischer Menschen in Europa thematisieren
3.3.1 Kirsten Boie „Paule ist ein Glücksgriff“ (1985)
3.3.1.1 Autobiographische Einflussfaktoren
3.3.1.2 Produktionsästhetische Aspekte: Gestaltungsmittel und deren Funktion
3.3.1.2.1 Inhalt und Aufbau
3.3.1.2.2 Figurengestaltung
3.3.1.2.3 Darstellung der Lebensweise
3.3.1.2.4 Erzählhaltung/ Erzählweise/ Sprache
3.3.1.3 Didaktisches Wirkungspotenzial im Hinblick auf interkulturelle Erziehungsaspekte
3.3.2 Simi Bedford „Yoruba-Mädchen, tanzend“ (1998)
3.3.2.1 Autobiographische Einflussfaktoren
3.3.2.2 Produktionsästhetische Aspekte: Gestaltungsmittel und deren Funktion
3.3.2.2.1 Inhalt und Aufbau
3.3.2.2.2 Figurengestaltung
3.3.2.2.3 Darstellung der Lebensweise
3.3.2.2.4 Erzählhaltung/ Erzählweise/ Sprache
3.3.2.3 Didaktisches Wirkungspotenzial im Hinblick auf interkulturelle Erziehungsaspekte
3.4 Zwischenresümee I
3.5 Kinder- und Jugendbücher, die das Leben afrikanischer Menschen in Afrika beschreiben
3.5.1 Tahar BenJelloun „Die Schule der Armen“ (2002)
3.5.1.1 Autobiographische Bedingungsfaktoren
3.5.1.2 Produktionsästhetische Aspekte: Gestaltungsmittel und deren Funktion
3.5.1.2.1 Inhalt und Aufbau
3.5.1.2.2 Figurengestaltung
3.5.1.2.3 Darstellung der Lebensweise
3.5.1.2.4 Erzählhaltung/ Erzählweise/ Sprache
3.5.1.3 Didaktisches Wirkungspotenzial im Hinblick auf interkulturelle Erziehungsaspekte
3.5.2 Idrissa Keita „Djemas Traum vom großen Auftritt“ (2001)
3.5.2.1 Autobiographische Einflussfaktoren
3.5.2.2 Produktionsästhetische Aspekte: Gestaltungsmittel und deren Funktion
3.5.2.2.1 Inhalt und Aufbau
3.5.2.2.2 Figurengestaltung
3.5.2.2.3 Darstellung der Lebensweise
3.5.2.2.4 Erzählhaltung/ Erzählweise/ Sprache
3.5.2.3 Didaktisches Wirkungspotenzial im Hinblick auf interkulturelle Erziehungsaspekte
3.6 Zwischenresümee II
3.7 Kinder- und Jugendbücher, die von Reisen europäischer Menschen nach Afrika handeln
3.7.1 Annelies Schwarz „Meine Oma lebt in Afrika“ (1998)
3.7.1.1 Autobiographische Einflussfaktoren
3.7.1.2 Produktionsästhetische Aspekte: Gestaltungsmittel und deren Funktion
3.7.1.2.1 Inhalt und Aufbau
3.7.1.2.2 Figurengestaltung
3.7.1.2.3 Darstellung der Lebensweise
3.7.1.2.4 Erzählhaltung/ Erzählweise/ Sprache
3.7.1.3 Didaktisches Wirkungspotenzial im Hinblick auf interkulturelle Erziehungsaspekte
3.7.2 Evelyn Schmidt „Der Sandsturm“ (1993)
3.7.2.1 Autobiographische Einflussfaktoren
3.7.2.2 Produktionsästhetische Aspekte: Gestaltungsmittel und deren Funktion
3.7.2.2.1 Inhalt und Aufbau
3.7.2.2.2 Figurengestaltung
3.7.2.2.3 Darstellung der Lebensweise
3.7.2.2.4 Erzählhaltung/ Erzählweise/ Sprache
3.7.2.3 Didaktisches Wirkungspotential im Hinblick auf interkulturelle Erziehungsaspekte
3.8 Zwischenresümee III

4 Vergleichende Zusammenfassung der Analyse- und Interpretationsergebnisse im Hinblick auf interkulturelle Erziehungsaspekte
4.1 Der Umgang der Autoren mit dem Thema Afrika und Afrikaner
4.2 Der Beitrag der ausgewählten Kinder- und Jugendbücher zur Interkulturellen Erziehung

5 Schlusskapitel

6 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Gegenstand dieser literaturwissenschaftlichen und -didaktischen Untersu- chung sind ausgewählte Kinder- und Jugendbücher über Afrika und Afrikaner.1 Der Schwerpunkt liegt auf der literaturwissenschaftlichen Analyse der gewählten Bücher im Hinblick auf interkulturelle Erziehungsaspekte. Ziel ist herauszustellen, welchen Beitrag die Texte zur Interkulturellen Erziehung2 leisten können.

Im Anschluss an diese einleitenden Bemerkungen steht im zweiten Kapitel die Thematik Interkulturelle Erziehung im Mittelpunkt der Betrachtung, die als nötige Reaktion auf die gesellschaftliche Gegenwart und Zukunft von dauerhafter Relevanz sein sollte. Zunächst werden Merkmale und Probleme der heutigen gesellschaftlichen Wirklichkeit dargestellt, aus denen sich die Notwendigkeit interkultureller Konzepte ergeben hat.

Weiterführend soll hervorgehoben werden, wie wichtig es ist, Afrika und Afrikaner zum Thema Interkultureller Erziehung zu machen, die im Mittel- punkt der späteren literaturwissenschaftlichen Analyse der ausgewählten Kinder- und Jugendbücher stehen. Zunächst wird das Afrikabild vieler Euro- päer betrachtet. Anschließend soll in einem historischen Rückblick über die Entwicklung des europäischen Afrikabildes deutlich werden, wie Vorurteile gegenüber Afrikanern entstanden sind und zum Teil bis heute wirken.

Im weiteren Verlauf werden Grundlagen und Ziele Interkultureller Erziehung herausgearbeitet, wofür zunächst Grundzüge aus der erziehungswissen- schaftlichen Diskussion vorgestellt werden. In der vorliegenden Arbeit sind Kinder und Jugendliche die Zielgruppe für interkulturelle Erziehungsarbeit, denen kulturelle Vielfalt tagtäglich in der Schule begegnet. Aus diesem Grund interessieren weiter die Forderungen aus Kultusministerempfeh- lungen, Richtlinien und Lehrplänen bezüglich Interkultureller Erziehung. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen stellt sich anschließend die Frage, welchen Beitrag die Kinder- und Jugendliteratur und ihre Didaktik zum Interkulturellen Lernen leisten kann und inwiefern die Literaturdidaktik auf die Forderung nach Interkultureller Erziehung reagiert. Dafür werden Positionen aus der aktuellen deutschdidaktischen Diskussion vorgestellt. Das dritte Kapitel bildet den Schwerpunkt der Arbeit. Es beginnt mit der Vor- stellung und Begründung der Buchauswahl und der Analysekriterien und setzt mit der Analyse der ausgewählten Kinder- und Jugendbücher über Afrika und Afrikaner fort.

Nachdem die einzelnen Kinder- und Jugendbücher im Hinblick auf interkulturelle Erziehungsaspekte untersucht worden sind, werden die wichtigsten Ergebnisse in Form einer vergleichenden Zusammenfassung im vierten Kapitel festgehalten.

2 Interkulturelle Erziehung

2.1 Interkulturelle Erziehung - warum? Lebensrealität als Begründung

Mehrere demographische Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, vor allem die unterschiedlich begründete Migrationsbewegung und das Asylbegehren vieler Menschen, haben dazu geführt, dass das Zusammenleben von Ange- hörigen unterschiedlichster Herkunftsländer und Kulturkreise zur Realität ge- worden ist.3 Unsere Gesellschaft zeichnet sich durch kulturelle Vielfalt aus, die auch die Lebenswirklichkeit der heutigen Kindheit bestimmt.

Kinder wachsen heute auf in einer Welt von immer größerer Vielfalt der Menschen, mit denen sie Kontakt haben, und von immer größerer Verschiedenheit der Lebensformen, die sie alltäglich erfahren, und sie kommen früher damit in Berührung. […] Heute erleben viele Kinder eine Vielfalt bei Menschen in Bezug auf Aussehen, Sprache, Kultur und Religion […], wenn auch nach Region und Lebenssituation unterschiedlich stark.

Durch die Nutzung moderner Medien und durch den Mobilitätsanstieg ist der internationale Austausch zu einer alltäglichen Größe geworden. Ereignisse aus entfernten Regionen werden von den Medien tagtäglich und unmittelbar präsentiert, moderne Kommunikations- und Verkehrsnetze ermöglichen welt- weite Kontakte und Verbindungen und durch berufliche Mobilität werden staatliche und kulturelle Grenzen überschritten. Einzelstaatliche Entschei- dungen und Interessen stehen zunehmend in einem globalen Kontext, da es zu einer weltweiten Annäherung ökonomischer, politischer, ökologischer und sozialer Systeme gekommen ist.

Auf der einen Seite wird das Miteinanderleben zur ’Normalität’, auf der anderen Seite vollzieht sich die Akzeptanz der Multikulturalität in Teilen der deutschen Gesellschaft, auch unter Heranwachsenden, nicht ohne Proble- me.

Viele Heranwachsende sehen sich der Schwierigkeit ausgesetzt, die eigenen, aus der vertrauten Kultur stammenden Erwartungen mit denen der weniger bekannten Kultur ’auszubalancieren’. Es tauchen Probleme im Umgang miteinander auf. Unkenntnis und Unsicherheit erzeugen Gefühle von Fremdheit und Angst, die wiederum die Grundlage für die Einstellung dem ’Fremden’ gegenüber bilden.7

Konflikte um die Verteilung von Gütern, Angst vor sozialer Konkurrenz und dem Verlust der eigenen kulturellen Identität, nationalistische Einstellungen und rassistische Vorurteile sind vor allem in Krisensituationen der Nährboden für of- fene und verdeckte Aggressionen gegen Minderheiten und rassistisch motivierte Anschläge.

Vorurteile entstehen, die meist auf fehlerhaften und starren Verallgemeine- rungen gründen. Der ’Fremde’ wird als schlecht, unberechenbar, gefährlich oder minderwertig abgetan, wodurch das eigene Selbstbewusstsein ge- steigert werden kann. Um selbst gut dazustehen, mit seiner Angst besser umzugehen, werden andere erniedrigt. Wannemacher-Zehnder beschreibt dies als den gleichen Mechanismus wie bei einer Wippschaukel: die Darstel- lung von ’dummen Schwarzen’ betont die eigene Intelligenz, der ’apathische Indio’ den eigenen Fleiß.9

Vorurteile stehen am Anfang einer Haltung, aus der leicht Ethnozentrismus, Sexismus, Rassismus oder Paternalismus entstehen kann. Mit dem Begriff des Ethnozentrismus wird eine Einstellung bezeichnet, „die das eigene Denken, Fühlen und Handeln, die eigene Lebensart und Kultur, auch die Religion, ins Zentrum der Welt stellt.“Ethnozentrismus ist ein Aus- druck für die Unfähigkeit, dem Unbekannten aufnahme- und lernbereit zu be- gegnen.

Ein rassistisch denkender Mensch leitet die soziale Stellung von Menschen oder Völkern nicht aus ihrer Geschichte oder Kultur, sondern von biolo- gischen Merkmalen (z. B. Hautfarbe) ab. „Die Herabsetzung von Menschen anderer Völker und Kulturkreise legitimiert Gewalt und Unterdrückung und damit die Beibehaltung von Macht und wirtschaftlicher Überlegenheit.“Sexismus ist die Diskriminierung eines Menschen aufgrund seines Ge- schlechts, weist ansonsten ähnliche Merkmale auf wie der Rassismus. Paternalismus meint die mitleidig- oder überheblich- herablassende Haltung der Angehörigen von Industriegesellschaften gegenüber Menschen in so ge- nannten Entwicklungsländern. Man spricht von ’Unterentwickelten’, denen die ’Entwickelten’ auf ihrem Weg zum Fortschritt helfen müssen.

2.1.1 Das Afrikabild in der europ Äischen Gesellschaft

Afrikaner sind eine der in Deutschland lebenden Minderheiten, die mit vorurteilsbelastetem Verhalten, mit Ethnozentrismus, Rassismus und Paternalismus konfrontiert werden.

Einige Europäer sprechen über Afrika, als ob sie von einem einzelnen Land sprechen, innerhalb Europas wird hingegen zwischen Italien, Deutschland, Spanien etc. unterschieden. Es wird übersehen, dass Afrika ein großer Kontinent mit unterschiedlichen Klimazonen, mit vielen Staaten, Religionen, verschiedenen Kulturen und Sprachen, mit unzählig vielen Menschen ist.

Durch ihre dunkle Hautfarbe sind viele Afrikaner besonders irratonalen Vorurteilen ausgeliefert. „Schwarze sehen für uns alle gleich aus - wir glauben, wir könnten sie kaum unterscheiden.“ Mit solch unreflektierten Kategorien werden Wertsysteme vermittelt, die „uns differenzieren, damit auch erhöhen, andere pauschalisieren und damit diffamieren.“

Die Farbe Schwarz hat einen sehr negativen Symbolwert und ist in fast allen europäischen Sprachen durch eine negative Konnotation gekennzeichnet. Als Beispiele aus dem Deutschen finden sich Begriffe wie ’Schwarz sehen’, ’Schwarzmalerei’, ’Anschwärzen’, ’Schwarzhandel’, ’Schwarzmarkt’, ’Schwarze Schafe’, ’Schwarzfahrer’, ’Schwarzarbeiter’. In Spielen wie ’Schwarzer Peter’ und ’Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann’ sowie Kannibalensprüchen und einschlägig diskriminierenden Abzählversen spiegeln sich ebenfalls negative Assoziationen wider.

Interessant ist eine Untersuchung von Tröger zum Afrikabild deutscher Schüler in den Jahrgangsstufen fünf und acht. Tröger stuft die meisten Schüler als mittelstark vorurteilsgeprägt ein, weist aber auch darauf hin, dass jüngere Schüler noch weniger festgelegt sind in ihrem Bild von Afrika, die älteren Schüler dagegen sehr viel stärker zu einer ethnozentristischen, ja rassistischen Einstellung neigen.

Mehr als drei Viertel der Schüler beschreiben die afrikanische Schulbildung, im Vergleich zur europäischen, als unzureichend und minderwertig. Von einem sehr hohen Anteil der Schüler wird das Lachen ’armer’ Menschen als Ausdruck der Unkenntnis eines besseren Lebens oder als Ausdruck der Schicksalsergebenheit interpretiert. Weiter ist bei mehr als zwei Drittel der Schüler das Afrikabild durch das Problem Hunger bestimmt.

Es stellt sich die Frage, wie solche vorurteilsbelasteten Einstellungen gegenüber Afrikanern entstehen. Die weiteren Ausführungen sollen verdeutlichen, wie sich das europäische Afrikabild im Laufe der Zeit entwickelt hat und wie Vorurteile als Bestandteil des kulturellen Erbes fortleben und während der Sozialisation gelernt werden.

2.1.2 Zur Entwicklung des europ Äischen Afrikabildes

Eine kritische Reflexion der europäischen Kultur verrät, dass „wir […] eine lange Geschichte zur Abwertung von AfrikanerInnen [haben], die […] als Un- termenschen, primitiv, wild (auch als edle Wilde) oder als Kinder dargestellt wurden, die von den Europäern erst zu Erwachsenen erzogen werden müssen.“ Die Wahrnehmung des ’Fremden’ ist eng mit der eigenen Ge- schichte verbunden. Bewertungen sind unter anderem „das Resultat früherer Kontakte der eigenen sozialen Gruppe mit diesen Kulturen.“ Im 17. und 18. Jahrhundert rückten die Bewohner Afrikas zum ersten Mal in das materielle Interesse Europas - man benötigte sie als Arbeitssklaven. Da die Sklavenwirtschaft innerafrikanisch bereits seit längerem üblich ge- wesen ist, hatte man keine moralischen Skrupel, zumal Afrikanern eine ’na- türliche Minderwertigkeit’ zugesprochen wurde. Sie waren der Inbegriff des „Primitiven“, des „Unberechenbaren“, „Ausschweifenden“ und „Triebhaften“. Gestützt auf der von Darwin 1859 entwickelten Evolutionstheorie, wonach sich Menschen in unlinearen Entwicklungsstufen von der Wildheit über die Barbarei zur Zivilisation entwickeln, wurde in der Kolonialzeit „die Lösung der Bewohner Afrikas aus den Fesseln der Barbarei als koloniale Aufgabe de- finiert.“ Afrikaner erschienen als dem Europäer unterlegen und wurden wei- ter als Arbeitskraft ausgenutzt.

Im Prozess der Industrialisierung in Europa entstand das Idealbild des natur- verbundenen Afrikaners. Dieses Bild entwickelte sich in Folge der Klage vieler Europäer über die zunehmende Reglementierung des Lebens und der einseitig materiellen Ausrichtung der menschlichen Interessen. Die Afrikareisenden, die im 19. Jahrhundert immer weiter in den ’dunklen’ Kontinent vordrangen, beschrieben Afrikaner jetzt als ’Edle Wilde’. Ihre vor- her zugeschriebenen Eigenschaften der „Unberechenbarkeit“ und „Aus- schweifigkeit“ wurden nun durch die Eigenschaften „Emotionalität“ und „Spontaneität“ ersetzt. Aber auch das Interesse an dem Bewohner Afrikas als vermeintliche Verkörperung der „idealen menschlichen Existenz“ zielte nicht auf ein Verständnis des „Afrikanischen“. Afrikaner wurden vor dem Hintergrund der eigenen Interessen funktionalisiert und zu einem ’ganz anderen Menschen’ verklärt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg galt das europäische Interesse der durch kolonialen Eingriff ausgelösten Verarmung. Afrikaner wurden zum ersten Mal als ’Arme’ klassifiziert. Zu diesem Zeitpunkt erhielten sie wieder eine SubjektRolle, wurden dabei aber mehr als Ausführende und Nutznießer der von Europa propagierten Entwicklungsmaßnahmen gesehen.

Bis heute beeinflussen diese Bilder von Afrika und Afrikanern unser Be- wusstsein, was auch die Ergebnisse der Untersuchung von Tröger zum Afrikabild deutscher Schüler belegen. So schimmert beispielsweise in der Schülerinterpretation des Lachens als Ausdruck der Unkenntnis eines besseren Lebens oder als Ausdruck der Schicksalsergebenheit das Bild des unbeschwerten, durch die ’Zivilisation’ unbeeinflussten ’Wilden’ durch. In der Bewertung der afrikanischen Schulbildung lässt sich eine ethnozentristische Verallgemeinerung erkennen.

Unterstützt werden derartige Vorurteilsbildungen durch Medien, Werbung und Literatur.

Die Tatsache, dass so viele Schüler dieses ’Hungerbild’ Afrikas haben, kann als Hinweis auf den Einfluss der Katastrophenberichterstattung in den Medien gesehen werden. Afrika scheint ein Schauplatz natürlicher und politischer Katastrophen für die westliche Nachrichtenwelt zu sein. Der afrikanische Alltag und die afrikanische ’Normalität’ bleiben in der thematischen Schwerpunktsetzung der Medieninformation fast völlig unberücksichtigt. Naturkatastrophen, gesellschaftliche Revolutionen oder politische Korruptionen werden als Bestätigung gesehen, dass westliche Regierungen die notwendigen Dinge des Lebens zur Verfügung stellen müssen.

Die Werbebranche interessiert sich für dunkelhäutige Afrikaner, wenn es gilt, Kontraste zu schaffen. Je kindlicher, desto wirkungsvoller werben Afrikaner schon lange Zeit für Kaffee, Tabak oder weiße Unterwäsche. Die Werbung nutzt den Reiz der Exotik, des Fernen, des Südlichen als Etikettierung von Produkten.

So wirbt der italienische Bekleidungshersteller Benetton seit Jahren weltweit unter dem Motto ’United Colors of Benetton’ mit Mannequins der verschie- densten ’Rassen’. Hautkontraste werden als weitere Kleckse auf der ohnehin schon bunten Farbpalette der vereinigten Benetton-Colors verwendet. Einige Kampagnen Benettons, mit dem erklärten Ziel antirassistisch zu wirken, sind in den Verdacht geraten, rassistische Stereotype unsensibel erneut zu be- stätigen. Beispielsweise führte das Bildmotiv einer ’schwarzen’ Frau, die ein ’weißes’ Baby stillt, zu heftiger Kritik, da es Assoziationen mit einer versklav- ten Amme auslöste.

Ein anderes Beispiel aus der Werbebranche, das Klischees vermittelt, ist der ’Sarotti Mohr’, ein kleiner Diener auf bunter Verpackung. Er ist das Markenzeichen schlechthin für Naschereien. Auch der ’Negerkuss’ oder ’Mohrenkopf’ ist weithin berühmt. Trotz wiederholter Proteste sind die mit Schokolade überzogenen Leckereien unter den genannten Bezeichnungen in Deutschland erhältlich. Man stelle sich vor, in Afrika gäbe es umgekehrt ’Weißenköpfe’ zu kaufen. Wahrscheinlich würden die Zuckerbäcker für direkte Nachfahren von Menschenfressern gehalten werden.

Man sollte sich in diesem Zusammenhang der Bedeutung des Begriffs ’Mohr’ bewusst sein. Zugrunde liegt das griechische Wort moros mit der Bedeutung töricht, einf Ältig, dumm, gottlos beziehungsweise das lateinische Wort maurus, welches schwarz, dunkel, afrikanisch bedeutet. Der ’Neger’ ist also schon vom Wort her ein schwarzer, gottloser Einfaltspinsel.

In der Kinder- und Jugendliteratur spiegeln sich ebenfalls klischeehafte Afrikabilder wider. Bis gegen Ende der sechziger Jahre des letzten Jahr- hunderts sind Afrikaner in der Kinder- und Jugendliteratur fast nur in Bezug und im Zusammenhang mit ’Weißen’ und stets in untergeordneter Rolle auf- getreten. Untersuchungen von Becker u.a. haben über den Charakter des durchgängig zu konstatierenden Ethnozentrismus, Rassismus und Pa- ternalismus in der Kinder- und Jugendliteratur über Afrika und Afrikaner in der Vergangenheit berichtet. Die Bilder von ’nackten Wilden’, ’exotischen Schönheiten’ und ’niedlichen Heidenkindern’ tauchen auf. Es sind Bilder, die wenig über die Menschen in Afrika aussagen, dafür aber umso mehr über die allgemeine Haltung der Europäer gegenüber der ’Dritten Welt’: „.sie und ihre Bewohner wurden als ’unterentwickelt’ eingestuft, man konnte die dortigen Menschen gering schätzen, ausbeuten, bekämpfen oder aber ihnen helfen, damit sie möglichst bald so werden wie die Weißen.“

Bis heute finden sich in vielen Kinderzimmern so genannte Kinder- und Jugendbuch Klassiker. Mit „Onkel Tom`s Hütte“ von Beecher-Stowe`s und „Robinson Crusoe“ von Daniel Defoe sind nur zwei Beispiele genannt, die rassistische Tendenzen aufweisen. Die dem Leser vermittelten Vorstel- lungen über Afrika und Afrikaner bleiben nicht selten als Vorurteile haften. Auch in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur gibt es trotz positiver Entwicklungen noch immer ambivalent zu betrachtende Beiträge, „die das Fremde wählen um das Eigene fortzuschreiben.“ Etwa 80% der Jugendbü- cher über Afrika stammen von Autoren, „die kaum in der Lage sind, au- thentisch über das Leben vor Ort zu schreiben, weil sie es nur aus einer distanzierten Perspektive kennen.“

Man kann sich vorstellen, wie gefährlich es ist, wenn Kinder selbstverständ- lich und unreflektiert vereinfachten beziehungsweise verfälschten Darstel- lungen afrikanischer Menschen begegnen. Schon im Kindesalter wird ge- lernt, wie Afrikaner angeblich sind. Das ’Gift’ der Bilder der Vergangenheit wirkt weiter und die alltäglichen rassistischen Darstellungen sind nicht weniger geworden.

Es besteht enormer Handlungsbedarf, umfangreiche Stereotype abzubauen, um gesellschaftlichen Problemen wie Ausländerfeindlichkeit und Diskriminierung entgegenzuwirken und ein harmonisches Zusammenleben zu ermöglichen. Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen kann man die Aussage, die ’Dritte Welt’ liege fernab vom Erfahrungsbereich hiesiger Kinder und sei Inhalt von Erwachsenenwissen, nicht unterstützen. Bei solchen Gedanken wird die Tatsache außer Acht gelassen, dass uns die Migrationsbewegungen von Menschen aus der ’Dritten Welt’ nach Europa dazu zwingen, über die ’Dritte Welt’ im eigenen Land nachzudenken. Außerdem sollte sich Erziehung und Bildung in Europa auf die ’Eine Welt’ beziehen und nicht länger auf den eigenen Kontinent reduziert bleiben.

Hier setzen Ideen und Konzepte Interkulturelle Erziehung an, deren Grundlagen und Ziele im Folgenden vorgestellt werden.

2.2 Grundlagen und Ziele Interkultureller Erziehung

Der Begriff der Interkulturellen Erziehung wird in Deutschland seit Beginn der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts in Ansätzen formuliert und zur Diskussion gestellt. Hinter diesem Begriff verbergen sich, je nach Erkennt- nisinteresse und wissenschaftlichen Bezügen, unterschiedliche didaktische Konzeptionen und Themenfelder. Das Spektrum reicht von Ansätzen der Austauschforschung über die Didaktik europäischer Jugendarbeit bis hin zu entwicklungsdidaktischen Überlegungen, die interkulturelle Begegnungen zwischen ’Erster’ und so genannter ’Dritter Welt’ als einen möglichen Aus- gangspunkt für entwicklungspolitische Lernprozesse begreifen.

Eine Gemeinsamkeit der verschiedenen interkulturellen Ansätze ist die deut- liche Ablehnung ausländerpädagogischer Lösungsstrategien für Probleme in einer multikulturellen Gesellschaft. Interkulturelle Erziehung entstand aus der Kritik an der so genannten Ausländerpädagogik Anfang der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts.

„Kritisiert wurde unter anderem:

- der sonderpädagogische Anspruch einer speziellen Pädagogik (nur) für Ausländer - beziehungsweise Migrantenkinder, die die Arbeit mit deut- schen Schülerinnen und Schülern nicht in ihre Konzepte einbezog, obwohl sich deren Lebenswelt in Schule und Nachbarschaft nach dem Zuzug ausländischer Familien ebenfalls maßgeblich verändert hatte;
- der einseitige kompensatorische Ansatz der Ausländerpädagogik, der ausländische Eltern und ihre Kinder als förderungsbedürftige Bevölke- rungsgruppe etikettierte;
- die Widersprüchlichkeit ausländerpädagogischer Zielsetzungen angesichts der der politisch vorgegebenen Doppelaufgabe, sowohl die Rück- kehrfähigkeit ausländischer Kinder und Jugendlicher in das Herkunftsland als auch ihre Integration in die bundesdeutsche Schul- und Arbeitswelt zu fördern.“

Was verbirgt sich nun hinter dem Begriff der Interkulturellen Erziehung?

Essinger bezeichnet mit Interkulturellem Lernen einen wechselseitigen Prozess der an interkulturellen Situationen Beteiligten. In diesem Sinne ist Interkulturelles Lernen keine einseitige Angelegenheit der Majorität oder von Minderheitengruppen, sondern betrifft beide Seiten gleichermaßen. Alle Mitglieder der Gesellschaft müssen Kompetenzen entwickeln, um sich in einer multikulturellen Gesellschaft zurechtzufinden.

Ähnlich formulieren Götze und Pommerin, dass ausländische Familien keine speziellen pädagogischen Maßnahmen brauchen, „sondern dass Ausländer wie Deutsche von der Existenz so vieler Menschen unterschiedlicher Natio- nalität, Sprache und Kultur betroffen sind und sich der Bewältigung der dar- aus resultierenden Lernchancen und Probleme stellen müssen, ja, weit dar- über hinaus, dass diese Situation eine gegenseitige Lernchance für alle Beteiligten impliziert.“

Den Bezugspunkt für Interkulturelle Erziehung bilden die allgemeinen Men- schenrechte und die daraus resultierenden Rechte der Kinder. Die gemein- same Erziehung von Menschen aus verschiedenen Kulturen setzt voraus, „dass Kulturen und die Menschen, die in ihnen leben, als grundsätzlich gleichwertig und gleichberechtigt anzusehen sind, dass Kulturen und Men- schen voneinander lernen und sich in diesem Lernen auch gegenseitig be- reichern können.“

Vereinfacht lassen sich in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion um die Ziele Interkultureller Erziehung zwei Akzentsetzungen unterscheiden: Zum einen sollte Interkulturelle Erziehung sowohl das Lernen von beziehungsweise über 'fremde' Kulturen fördern; zum anderen sollte sie eine kritische Reflexion der eigenen Kultur einschließen.

1. Lernen von 'fremden' Kulturen, sei es, dass Ausländer lernen, sich in der deutschen Kultur zurechtzufinden, sei es, dass sich Deutsche mit ’fremden’ Kulturen befassen, ist wichtig, wenn man davon ausgeht, dass Misstrauen und Angst gegenüber Angehörigen kultureller Minderheiten durch Unvertrautheit entsteht und durch Kontakt und Information abgebaut werden kann. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass das Individuelle des Anderen erfahrbar gemacht wird, ohne diesen auf „Stellvertretungs- Existenz für seine Kultur [zu] reduzieren.“ Ziel ist die Entwicklung eines weder nur idealisierenden noch nur von Ängsten getriebenen Umgangs mit dem ’Fremden’.

2. Um Vorurteile und Ethnozentrismus als Probleme der gesellschaftlichen Wirklichkeit abzubauen, bedarf es einer kritischen Reflexion von Stand- punkten. Kritische Selbstreflexion meint die „Bewusstmachung verinner- lichter kultureller Traditionen, abendländischer Höherwertigkeitsvorstel- lungen, [das] Aufspüren von Bildern und Assoziationen, die unsere Einstellungen und Verhaltensweisen leiten.“ Es bestehen „Zusammenhänge […] zwischen dem Prozess der Beherrschung, Abwertung und Ausgrenzung fremder Völker“, was in Kapitel 2.1.2 dieser Arbeit bereits an der historischen Entwicklung und Reflexion des europäischen Afrikabildes deutlich wurde. Selbstreflexion soll „die Begrenztheit unserer eigenen monokulturellen Perspektive sichtbar machen.“

Nieke formuliert in diesem Zusammenhang das „Erkennen des unvermeidlichen Ethnozentrismus“ als ein wichtiges Ziel Interkultureller Erziehung. Er hält die Eingebundenheit in die Denk- und Wertgrundlage der eigenen Lebenswelt als unvermeidlich, da sie zu einer raschen und routinierten Orientierung in der Welt und für die Aufrechterhaltung einer alltäglichen Handlungsfähigkeit nötig sei. Ziel sei ein „aufgeklärter Ethnozentrismus“, „ein Bewusstsein von der Unvermeidlichkeit dieses Eingebundenseins […] sowie davon, dass andere in ihrer Lebenswelt in ebensolcher Weise verankert sind.“ Ein solcherart aufgeklärter Ethnozentrismus entwerte keinen von vornherein als rückständig oder falsch denkend und erlaube weder die zweifelslose Gewissheit, dass die eigenen Positionen unbedingt die richtigen seien, noch könne er zu einer unbegrenzten relativistischen Anerkennung aller anderen Positionen führen.

Es geht folglich darum

- „über den anderen zu lernen (Informationen über sein Herkunftsland, über seine Situation in der deutschen [bzw. europäischen] Gesellschaft […] zu erhalten)
- von dem anderen zu lernen (Informationen über seine Sicht bezüglich des anderen, bezüglich seiner Lebensweise und seiner Art zu denken zu ge- winnen)

- mit anderen zu lernen (gemeinsam Handlungsmöglichkeiten für ein friedli- ches Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft zu entwickeln) und dabei
- über sich selbst zu lernen (durch die Auseinandersetzung mit diesem Un- bekannten die eigene Position in Frage zu stellen).“

Die Schule ist ein Ort, an dem sich Heranwachsende unterschiedlicher sozialer oder ethnischer Herkunft, verschiedener kultureller Orientierungen und religiöser Überzeugungen zum gemeinsamen Lernen treffen. Vor dem entwicklungspsychologischen Hintergrund, dass sich Problemwahrnehmungen oder Einstellungen schon im frühen Kindesalter entwickeln, können in der Schule Weichen gestellt werden. Neben der frühkindlichen Erziehung und der Elementarerziehung sollte auch die Schule Fähigkeiten und Fertigkeiten fördern, durch welche die Heranwachsenden in die Lage versetzt werden, sich mit den nur gemeinsam zu lösenden Problemlagen unserer Zeit kritisch wie konstruktiv auseinander zu setzen.

Als schulpolitisch wie schulpädagogisch besonders bedeutsam in Bezug auf die Frage nach Interkultureller Erziehung und Bildung in der Schule gelten die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz. Es wird ausdrücklich darauf verwiesen, dass Interkulturelle Erziehung Bestandteil des allgemeinen Erzie- hungsauftrags der Schule ist und sich auf alle Schüler bezieht. In dem Empfehlungsschreiben der Kultusministerkonferenz heißt es: Die Schüler sollen

- „sich ihrer jeweiligen kulturellen Sozialisation und Lebenszusammenhänge bewusst werden;
- über andere Kulturen Erkenntnisse erwerben;
- Neugier, Offenheit und Verständnis für andere kulturelle Prägungen entwi- ckeln;
- anderen kulturellen Lebensformen und -orientierungen begegnen, sich mit ihnen auseinandersetzen und dabei Ängste eingestehen und Spannungen aushalten;
- Vorurteile gegenüber Fremden und Fremdem wahr- und ernst nehmen;  das Anderssein der anderen respektieren;
- den eigenen Standpunkt reflektieren, kritisch prüfen und Verständnis für andere Standpunkte entwickeln;
- Konsens über gemeinsame Grundlagen für das Zusammenleben in einer Gesellschaft bzw. einem Staat finden;
- Konflikte, die aufgrund unterschiedlicher ethnischer, kultureller und religi- öser Zugehörigkeit entstehen, friedlich austragen und durch gemeinsam vereinbarte Regeln beilegen können.“

In Richtlinien und Lehrplänen wird das Lernen mit- und voneinander betont. Unterschiede bezüglich Sozialisation, Sprache, Kultur und Traditionen sollten als Chance gesehen und „durch eine umfassende und differenzierte Bildungs- und Erziehungsarbeit für das gemeinsame Lernen der Kinder [genutzt werden].“ Dies hat Auswirkungen auf die Auswahl und Konkretisierung von Themen, Inhalten und Formen des Unterrichts und Schullebens. Der Alltag der Schüler stellt den Bezugspunkt für pädagogische Bemühungen dar, die die Bedürfnisse aller berücksichtigen sollten.

Auffallend ist, dass in den aktuellen Richtlinien und Lehrplänen für Grund-, Haupt- und Gesamtschulen sowie für Gymnasien in NRW der Themenbe- reich Interkulturelle Erziehung sehr weit gefasst wird. Formulierungen kon- kreter Zielvorstellungen Interkultureller Erziehung bleiben aus. Im Gegensatz dazu wird Interkulturelles Lernen im Lehrplan für die Realschule in NRW als

Aufgabenfeld für fächerübergreifendes Lernen ausführlich beschrieben. Die formulierten Zielsetzungen sind mit denen aus der Kultusministerempfehlung vergleichbar.

Wenn Interkulturelles Lernen nachhaltig bilden und erziehen will, muss es als pädagogisches Prinzip verstanden werden. Interkulturelles Lernen als pädagogisches Prinzip meint, dass interkulturelle Fragestellungen und Probleme kontinuierlich und fächerübergreifend wirksam sein sollten.

Fächerübergreifendes Lernen ist eine Chance für interkulturelles Lernen […]. Gewiss leistet auch der Fachunterricht seinen Beitrag zur Erreichung d[er] päd- agogischen Ziele. Aber der Anspruch dieser Aufgabe sprengt doch in vielfäl- tiger Weise die Fächergrenzen. Interkulturelles Lernen zielt auf kognitives, emotionales und moralisches Lernen zugleich, es ist nicht abhängig von der Einhaltung eines Stundenplans und auch nicht von einem bestimmten Lernort, es zielt auf ganzheitliche Welterfahrungen und auf den ganzen Menschen.

Die Akzentuierung und Öffnung vorhandener Inhalte, hin zu interkulturellen Fragestellungen, stehen im Vordergrund. Es versteht sich daher von selbst, dass Interkulturelle Erziehung sich nicht in einem ’Multi-Kulti-Tag’ erschöpfen sollte, sondern Unterrichtsprinzip und Unterrichtsinhalt aller Fächer sein muss.

Im nächsten Abschnitt dieser Arbeit soll herausgestellt werden, wie In- terkulturelle Erziehung innerhalb der literaturdidaktischen Diskussion wahrgenommen und umgesetzt wird und welchen Beitrag die Kinder- und Jugendliteratur und ihre Didaktik zur Interkulturellen Erziehung leisten kann.

2.3 Der Beitrag der Kinder- und Jugendliteratur und ihrer Didaktik zur

Interkulturellen Erziehung

Interkulturelle Erziehung ist im Literaturunterricht im umfassenden Thema Fremdsein aufgegangen. Fremdverstehen, die Überwindung von Egozentrik, das Einüben in Empathie und die Fähigkeit, verschiedene Erfahrungsweisen miteinander in Beziehung zu setzen, gehören zu den grundlegenden Zielen des Literaturunterrichts.

In der Literaturdidaktik besteht weitestgehend Einigkeit darüber, dass die Beschäftigung mit Literatur förderlich für die Ausbildung des Fremdver- stehens ist.

Spinner spricht beispielsweise davon, dass Literatur als das wichtigste Medium betrachtet werden kann, das sich die Menschheit zur Ausbildung der Fähigkeit der Perspektivenübernahme geschaffen hat. Literatur lässt „uns fremde Erfahrungsperspektiven nachvollziehen“, sie setzt „verschiedene Perspektiven miteinander in Beziehung“ und regt dazu an, „über Gründe und Folgen verschiedener Sichtweisen nachzudenken.“

Anhand unterschiedlichster literarischer Texte können Schüler, nach Wach- witz, mit ganz verschiedenartigen Lebensvorstellungen, Lebensmustern- und -haltungen bekannt gemacht werden, die sie anregen und vielleicht auch ermutigen, eigene Vorstellungen zu relativieren und über 'fremde' Lebensformen und Sinnhorizonte nachzudenken.

Die Bedeutung der Förderung des Fremdverstehens wird von weiteren Auto- ren unterstrichen. Das Hineinversetzen in die Lebenssituation eines Anderen sensibilisiere die individuelle Einstellung gegenüber dieser Person, ermögli- che das Erkennen von Unterschieden zum eigenen Leben, trage zur Erwei- terung des Selbstverständnisses bei und erteile die Fähigkeit, ein stabiles Selbstkonzept sowie eine eigene Identität aufzubauen. Außerdem könne durch die Übernahme ’fremder’ Denk- und Handlungsweisen ein Reflexions- prozess angeregt werden, der letztendlich eine Erweiterung der sozialen Kompetenzen zur Folge habe.

Im Hinblick auf die zunehmende Globalisierung und Pluralisierung der Lebenswelt, könnten mit Hilfe von Fremdverstehen unterschiedliche Ansichten und Lebensweisen besser verstanden und ein friedliches und verständnisvolles Zusammenleben von Menschen möglich werden.

Rösch betont, dass Fremdverstehen mehr bedeutet als das Hineinversetzen in die Situation eines Anderen und das Kennenlernen anderer Lebens- weisen. Die Beschäftigung mit dem Anderen sollte auch immer die kritische Beschäftigung mit dem Eigenen einschließen. Der Schüler muss angeregt werden, sich mit seiner „historischen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Rolle auseinander zu setzen.“ Es geht darum, „sich mit der eigenen Begrenztheit bezogen auf die sprachliche Kompetenz, die nationale, ethnische, soziale, religiöse und gegebenenfalls auch kulturelle Zugehörig- keit zu befassen.“ Das Kennenlernen anderer Lebensweisen ist demnach nur ein Schritt zu einer interkulturellen Annäherung und durch eine kulturelle Selbstreflexion zu ergänzen. Dies entspricht den beiden vereinfachten in Ka- pitel 2.2 vorgestellten Zielstellungen aus der erziehungswissenschaftlichen Diskussion um Interkulturelle Erziehung.

Sich mit dem ’Fremden’ auseinander zu setzen meint also in erster Linie, „nicht über den ’anderen’ zu reden, sondern sich mit sich selbst und den eigenen Widersprüchen auseinander zu setzen.“ Die gewaltsame oder subtile Ablehnung des ’Fremden’, aber auch die Faszination hat demnach mehr mit einem selbst als mit den anderen zu tun.

Auch Bredella verweist darauf, dass es wichtig ist, sich der oft tief sitzenden Stereotype bewusst zu werden, mit denen man dem ’Fremden’ begegnet. Es dürfe nicht nur um ein Kennenlernen ’fremder’ Kulturen gehen, sondern dar- um, dass man Begriffe, Konzepte und Schemata reflektiert, mit denen man versuche, das ’Fremde’ zu verstehen. Interkulturelles Verstehen komme nur dann zustande, wenn „wir unsere Sichtweise beim Verstehen des Anderen ins Spiel bringen und damit aufs Spiel setzen.“

Die Autoren Büker und Kammler sehen in dem Begriff des Fremdverstehens die Gefahr der verkürzten Annahme, „dass Fremdes ohne einen Rest von Unbegreifbarem „verstanden“ werden könnte.“ Sie kritisieren, dass eine solche Annahme zur vorschnellen Einverleibung des ’Fremden’ führen kann, so dass das ’Fremde’ „an eigenen Maßstäben gemessen und dadurch ein Stück weit seiner Eigenart beraubt wird.“

Den Begriff des Fremdverstehens würden sie lieber mit Begriffen wie „Reflektierter Umgang mit Fremdem und Eigenem“ oder „Umgang mit Differenz“ ersetzen, weil diese „weniger auf das Ziel eines 'besseren' Verstehens ab[heben] als auf den (anstrengenden) Prozess der Entwicklung einer differenzierten Wahrnehmung von Eigenem und Fremden, in dessen Verlauf die Erfahrung von bleibender Differenz den ’Normalfall’ bildet.“

Ein Unterricht mit interkulturellem Auftrag sollte demnach nicht darauf ab- zielen „den jeweils Fremden durch vollständiges und abgeschlossenes Wissen um ihn aufzuschließen, sondern ihm bei allen Verstehensbemü- hungen jene Möglichkeiten von Entwicklung, Widersprüchlichkeit und Rätsel- haftigkeit zu belassen, auf die das Fremde ebenso Recht hat wie das Eigene.“ Das ’Fremde’ sollte als ’Fremdes’ bestehen gelassen werden, in- dem die subjektiv gefärbte Brille angenommen und Anderssein akzeptiert wird.

Es lässt sich bei weitem nicht jede Facette der ’Fremdheit’ erklären, da vieles selbst nach eingehender Beschäftigung ’fremd’ bleibt. Die Akzeptanz des ’Fremden’ ist allerdings auch wichtig für die Ich-Identität. Ich-Identität braucht den Anderen, den ’Fremden’, um identifizierbar, unterscheidbar, um Ich zu sein und sich in der Auseinandersetzung mit einem Gegenüber „als unverwechselbares Individuum, aber auch als Teil eines größeren Zusammenhangs“ zu erfahren.

In diesem Sinne postuliert Rösch, Kulturunterschiede nicht in Gemeinsamkeiten aufzulösen, sondern Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu erkennen, zuzulassen und in die Vorstellungswelt der Schüler zu integrieren. Die Frage nach der kulturellen Eingebundenheit dürfe in einem interkulturellen Unterricht nicht ausgeklammert werden.

Kulturelle Unterschiede, die bei den Schülern befremdlich wirken und nicht selten Vorurteile auslösen, sollten Lehrkräfte ernst nehmen. Rösch geht es um die Reflexion vorhandener Fremdbilder und Vorurteile. Man sollte sich der Vorläufigkeit, Veränderbarkeit und der historischen, aber auch kulturellen und politischen Eingebundenheit eines jeden solchen Bildes bewusst werden. Abweichungen von der Norm, Missverständnisse und Widersprüchlichkeiten sollten nicht als Blockade, sondern als Hilfe des Lehrvorgangs begriffen werden, weil sie die Aufmerksamkeit auf die Relativität jedes einsinnigen Verständnisses von 'Normalität' richten.

Ähnlich stellt Grunt fest, dass negative Gefühle, die sich bei der Auseinandersetzung mit dem ’Fremden’ ergeben, ernst genommen werden müssen. Eine Unterdrückung von Gefühlen, wie Angst, Ekel und Verwirrung, führe ebenso wenig zu einem harmonisch alltäglichen Zusammenleben wie eine übertriebene Faszination und Idealisierung des ’Fremden’.

Die Ausführungen verdeutlichen, dass sich die interkulturelle Literaturdidaktik in einem Spannungsfeld zwischen Universalismus und Kulturalismus be- findet. Kritisiert wird die einseitige Konzentration auf universalistische An- sätze, die kulturelle Aspekte vor dem Hintergrund der allgemein menschli- chen kulturübergreifenden Bedeutung ignorieren. Eine solche Herangehens- weise läuft Gefahr, in Gleichgültigkeit gegenüber anderen Kulturen über- zugehen. Vielfalt wird schnell in Einfalt übergeführt werden, ohne eine Be- ziehung herzustellen oder Interpendenzen zu reflektieren. Ebenso einseitig ist die Konzentration auf kulturalisierende Ansätze, die den ’Fremden’ schnell auf eine Kultur festlegen und ihn darauf reduzieren. Die Verzahnung universalistischer und kulturalisierender Ansätze erscheint sinnvoll.

Es stellt sich die Frage, welche Literatur für Interkulturelle Erziehung beson- ders geeignet ist. Chancen zum Interkulturellen Lernen bieten insbesondere ästhetisch gelungene Texte, die „Fremdheit weder bagatellisieren noch als exotisches Spektakel oder als Mitleid erregende Mangelsituation eines Fremdlings aufbereiten, dem gönnerhaft geholfen werden muss.“

Will man das ’Fremde’ in seiner Eigenart kennen lernen, sollten die Publikationen von ausländischen beziehungsweise außereuropäischen Autoren zunehmend an Bedeutung erlangen. Anzumerken ist, „dass viel stärker als bei der Erwachsenenliteratur […] übersetzte Kinder- und Jugendbücher Eingang in den Unterricht gefunden haben und so eine Öffnung zu internationalen Themen und Perspektiven stattgefunden hat.“

Die Beschäftigung mit außereuropäischer Literatur ermöglicht „eine intensive Auseinandersetzung mit deren unmittelbaren Lebensbezügen, Lebenspro- blemen, Ambivalenzen und traditionellen Werten.“ Publikationen von auße- europäischen Autoren dürften als materielle Garanten unserem Authentizi- tätsanspruch am besten entsprechen, denn das „authentische Fremde [muss] ja zweifellos am besten von Menschen vermittelt werden können, die in der darzustellenden Kultur beheimatet sind und auch in der Darstellungsund Sichtweise deren Eigenart zum Ausdruck zu bringen vermögen.“

Grunt merkt kritisch an, ob man überhaupt von dem Repräsentanten einer Kultur sprechen kann, entspreche doch jedes Buch den individuellen Ge- danken und Erfahrungen einer Person mit ihrer Vielzahl an Lebenswelten und Identitäten. Auch in afrikanischen Gesellschaften gibt es unterschiedli- che Identitäten mit unterschiedlichen Perspektiven, bestimmt durch unter- schiedliche Klassen, Geschlechter, regionale Herkunft, Alter etc..

Durch die Betonung der Herkunft der Bücher bestehe die Gefahr einer künst- lichen Gegenüberstellung zwischen Eigenem und ’Fremdem’, die schon ein bestimmtes Konstrukt des Anderen implizieren könnte. Wenn es einer demo- kratisch humanistischen Bildung darum ginge, „Eigenes verständlich und zu- gleich das Fremde, Unvertraute, Irritierende denkbar zu machen, können Texte mit interkulturellem Inhalt ohne weiteren Hinweis auf die angeblich besondere Fremdheit fremder Kulturen in den Unterricht […] integriert werden.“

Rösch kritisiert, dass die Literatur aus dem Süden häufig nicht wirklich als Literatur gelesen, sondern in erster Linie als authentische Wiedergabe einer Kultur rezipiert wird, in dem der Landeskundeaspekt überwiegt. Eine solche Vorgehensweise laufe Gefahr, den interkulturellen Gehalt der Bücher auszublenden und sie auf die Funktion eines Kulturdokuments zu reduzieren. Darin komme eine Ungleichbehandlung von Literatur zum Ausdruck, die „der Literatur aus als unterentwickelt geltenden Ländern die poetische Dimension abspricht.“ Sie plädiert für eine Gleichbehandlung von Texten aus allen Teilen der Welt, so dass deutlich werden kann, dass Texte aus Afrika mehr leisten können, als authentisch über das Leben dort zu berichten.

Große-Oetringhaus warnt davor, aus der Forderung nach jeweils einheimischer Literatur ein Dogma zu machen:

Literatur aus dem Süden - für eine Zielgruppe im Süden geschrieben - ist für Zielgruppen bei uns manchmal nur schwer zugänglich, unverständlich und knüpft an Erfahrungen, Denkmuster und Emotionen an, die junge Leserinnen und Leser hier bei uns oft nur schwer nachvollziehen können. […] Literatur aus dem Norden - für eine Zielgruppe aus dem Norden geschrieben - kann sie an ihrem Bewusstseins- und Informationsstand abholen und sie zu neuen Erfah- rungen hinführen. Ihr fehlt natürlich die Kraft der Authentizität. Beides aber kann sich sinnvoll ergänzen.

Auch Martini thematisiert, dass die Schwierigkeiten beim Umgang mit Litera- tur von Autoren aus anderen Ländern oder Kontinenten nicht unterschätzt werden dürfe. Dies sollte allerdings kein Grund sein, afrikanische Texte aus- zuklammern. Martini plädiert für die Beschäftigung mit authentischer Litera- tur, um Lesern in Deutschland eine Alternative zum deutsch zentrierten Afrikabild zu vermitteln und warnt vor „eurozentrischen, rassistischen Litera- turbeispielen […], die das Fremde wählen, um das Eigene fortzuschreiben und universell gültig zu machen.“

Bogdal warnt vor der allzu empathischen Vorstellung, Literatur als „Paradigma des Fremden“ habe per se eine besondere „Fähigkeit […], über Fremdverhältnisse aufzuklären“, indem sie das „Befremdende“ in uns und um uns zur Sprache bringt und solcherart kommunizierbar macht. Vielmehr sind „nur wenige literarische Texte von außergewöhnlicher ästhetischer Qualität“ in der Lage, das ’Fremde’ differenziert darzustellen, und gerade die Kinder- und Jugendliteratur habe seit dem 19. Jahrhundert Bilder des Anderen konstruiert, „die alles andere als vorbildlich für den Umgang mit dem Fremden sind.“

[...]

Excerpt out of 114 pages

Details

Title
Kinder- und Jugendbücher über Afrika und Afrikaner. Interkulturelle Erziehungsaspekte
Subtitle
Eine literaturwissenschaftliche und -didaktische Analyse
College
University of Paderborn
Grade
1,0
Author
Year
2004
Pages
114
Catalog Number
V77465
ISBN (eBook)
9783638829274
ISBN (Book)
9783638831468
File size
1043 KB
Language
German
Keywords
Kinder-, Jugendbücher, Afrika, Afrikaner, Analyse, Hinblick, Erziehungsaspekte
Quote paper
Inga Pohlmeier (Author), 2004, Kinder- und Jugendbücher über Afrika und Afrikaner. Interkulturelle Erziehungsaspekte, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/77465

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