Das Bundesverfassungsgerichtsurteil zum Luftsicherheitsgesetz. Utilitaristische Ethiken im Spannungsfeld der Individualrechte


Trabajo de Seminario, 2015

16 Páginas, Calificación: 2,3


Extracto


1 Einleitung

2 Theoretische Grundlagen
2.1 Definition und Grundmerkmale des Utilitarismus
2.2 Mills Ethik
2.3 Hares Ethik

3 Das Bundesverfassungsgerichtsurteil zum Luftsicherheits-gesetz

4 Sind Utilitarismus und Individualrechte vereinbar?
4.1 Die Ausgangssituation
4.2 Die Anwendung der Theorie Mills auf den Fall der Flugzeugentführung
4.3 Die Anwendung der Theorie Hares auf den Fall der Flugzeugentführung

5 Kritische Würdigung der Anwendung beider Theorien auf den Flugzeugentführungsfall

6 Zusammenfassung und Ausblick

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Individualrechte sind fester Bestandteil unserer Gesellschaft und werden in Deutschland in den Artikeln 1 bis 19 des Grundgesetzes und durch zahlreiche weitere Regelungen gesetzlich garantiert. Praktisch gibt es aber immer wieder Fälle in denen verschiedene Individualrechte konfligieren oder ein Individualrecht zwischen zwei oder mehreren Personen konfligiert. Die praktische Philosophie hat es sich daher zur Aufgabe gemacht diese Problemfälle zu lösen.1 Ein besonders drastischer Fall, der in den letzten Jahren hierzulande in juristischen wie philosophischen Fachkreisen heftig diskutiert wurde, ist das Bundesverfassungsgerichtsurteil zum Luftsicherheitsgesetz, welches den Abschuss von entführten Passagierflugzeugen untersagt. Der Abschuss wurde verboten, da man letztlich der Ansicht war, dass dieser einem utilitaristischen Denken unterliege und das Recht auf Leben untergrabe.2

Daher soll im Rahmen dieser Arbeit am Beispiel des Bundesverfassungsgerichtsurteils zum Luftsicherheitsgesetz der Frage nachgegangen werden inwieweit sich Utilitarismus und Individualrechte vereinbaren lassen. Zunächst soll in Kapitel 2 „Theoretische Grundlagen“ die Basis für den weiteren Verlauf dieser Arbeit geschaffen werden. Dazu wird näher erläutert was Utilitarismus allgemein ist und was ihn als Moraltheorie charakterisiert. Anschließend wird dezidiert auf die Theorien von John Stuart Mill (1806 - 1873) und Richard Mervyn Hare (1919 - 2002) eingegangen. In Kapitel 3 wird dann zunächst das Bundesverfassungsgerichtsurteil samt Hintergründen erläutert. In einem evaluativen Teil wird anschließend versucht die utilitaristische Theorie von Mill und Hare auf den Fall des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz anzuwenden, wobei die Stärken und Schwächen beider Theorien zum Vorschein kommen. Abschließend wird die Anwendung der Theorien auf den konkreten Fall kritisch gewürdigt. Es wird sich herausstellen, dass während die utilitaristische Theorie von Mill Probleme mit der Kompatibilität mit Individualrechten hat, die Theorie Hares weitaus ausgereifter und schwieriger angreifbar ist.

2 Theoretische Grundlagen

2.1 Definition und Grundmerkmale des Utilitarismus

Kaum eine normative Ethik ist dermaßen einflussreich und überzeugend in der Geschichte der Philosophie gewesen wie der Utilitarismus. Obwohl dieser zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch nicht vollständig ausgearbeitet gewesen ist, können doch sehr wohl einige utilitaristische Positionen aus dieser Zeit als Wegbereiter identifiziert werden. Zu den klassischen Utilitaristen und Begründern des Utilitarismus nach heutigem Verständnis zählen Jeremy Bentham und John Stuart Mill, die das Gute mit Freude in Verbindung brachten und somit in einer hedonistischen Tradition zu Epikur stehen.3 Hieran reiht sich Henry Sidgwick ein, der mit seinem Werk „Methoden der Ethik“ die wohl durchdachteste Version des klassischen Utilitarismus lieferte, wenngleich auch die historische Bedeutung seines Beitrags in Deutschland noch immer stark verkannt wird.4 Nichtsdestotrotz haben sich von dieser Ausgangslage aus über die Jahrhunderte hinweg viele verschiedene Unterpositionen des Utilitarismus herausdifferenziert. Am bekanntesten ist wohl die Unterscheidung in Handlungs- und Regelutilitarismus. Daneben wird aber auch der negative vom positiven Utilitarismus, der subjektive vom objektiven Utilitarismus sowie der hedonistische vom idealen Utilitarismus unterschieden.5 Festzuhalten ist jedenfalls, dass es nicht den einen Utilitarismus gibt. Vielmehr gibt es verschiedenste Spielarten des Utilitarismus. Allen gemeinsam ist jedoch der Konsequentialismus. Dieser besagt im Kern, ob eine Handlung als richtig oder falsch erachtet wird, ist einzig von den Folgen der Handlung abhängig. Weiterhin darf der Utilitarismus nicht mit dem Egoismus verwechselt werden. Denn dieser sieht lediglich das Wohl des Einzelnen als Maßstab, während der Utilitarismus das Wohl aller in Betracht zieht.6 Nachdem nun der Utilitarismus im Allgemeinem erklärt wurde, sollen im Anschluss zwei unterschiedliche utilitaristische Positionen als Basis für den späteren Teil dieser Arbeit dargelegt werden: Mill als klassischer Vertreter sowie Hare als moderner Vertreter des utilitaristischen Denkens.

2.2 Mills Ethik

Mills ethische Theorie ist am ausführlichsten in seinem Werk „Utilitarianism“ von 1861 dargelegt. Sein Ziel ist es das utilitaristische Prinzip oder auch „Greatest Happiness Principle“ genannt als Grundlage der Moral zu rechtfertigen. Im Kern besagt dieses Prinzip, dass eine Handlung richtig ist, wenn ihre Folgen die Wohlfahrt aller Menschen fördert. Somit ist Mill Konsequentialist. Erzogen und ausgebildet wurde Mill von seinem Vater James Mill, der ein enger Freund von Jeremy Bentham war. Mill kam also früh mit den utilitaristischen Gedanken in Kontakt und blieb dem Utilitarismus Zeit seines Lebens verbunden.7 Im Folgenden soll anhand des Kapitels 2 aus „Utilitarianism“ und des Kapitels 3 aus „On Liberty“ versucht werden Mills ethische Theorie möglichst prägnant darzustellen. Der folgende Abschnitt erhebt daher keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, sondern möchte vielmehr dem Leser das passende Fundament für den späteren Teil dieser Arbeit liefern.

In „Utilitarianism“ versucht Mill an vielen Stellen Benthams Sicht des Utilitarismus zu verteidigen und stellt sich gegen emporgebrachte Kritik. Beim Versuch diese Kritik zu entschärfen, geht Mill allerdings weit über die Theorie Benthams hinaus und entwickelt eine eigene ausgeklügelte Theorie des Utilitarismus.8 Im Zentrum steht das „Greatest Happiness Principle“, das besagt, dass eine Handlung richtig ist, solange sie Glück fördert und falsch ist, wenn sie zu Unglück führt. Im Original-Wortlaut schreibt Mill: „... [A]ctions are right in proportion as they tend to promote happiness, wrong as they tend to produce the reverse of happiness.“9 Unter Glück wird dabei Freude bzw. das Fernbleiben von Schmerz verstanden, unter Unglück wird Schmerz bzw. ein Fehlen von Freude verstanden. Freude und das Fernbleiben von Schmerz sind die einzigen erstrebenswerten Ziele. Alle anderen erstrebenswerten Dinge sind entweder auch inhärenter Bestandteil von Freude oder sind als Mittel zum Zweck für Freude zu sehen. Mill führt weiter aus, dass nicht jede Freude im selben Maße das Glück fördert. Es bleibt zudem unklar, ob für Mill Glück oder Freude das summum bonum darstellt.10

Im weiteren Fortgang des Werks „Utilitarianism“ wehrt sich Mill gegen den Vorwurf der Utilitarismus sei nichts weiter als eine „doctrine worthy only of swine“11. Man hielt Bentham vor, dass wenn man nur nach Glück strebe, man sich kaum noch von den niederen Lebewesen unterscheide. Mill entgegnet hier, dass der Mensch als einziger fähig ist auch höhere Freuden wie die des Intellekts, der Gefühle oder der Vorstellungskraft zu verspüren. Neben der quantitativen Unterscheidung von Freuden führt Mill noch die qualitative Unterscheidung ein.12 Bezüglich der Unterscheidung in höhere und niedere Freuden wurde Mill häufig vorgeworfen, dass Qualität und Quantität inkommensurable, also nicht vergleichbare Merkmale seien. Mill allerdings sieht die Vergleichbarkeit als gegeben. Ihm zufolge müssen immer verschiedene Kombinationen von Quantität und Qualität verglichen werden. Beispielsweise kann eine kleine Menge eines alten hochwertigen Weines mehr Wert haben, als eine große Menge eines billigen Weines.13

Auch auf die Frage woher man weiß welche Freude die höhere ist, hat Mill eine Antwort parat:

„Of two pleasures, if there be one to which all or allmost all who have experience of both give a decided preference, irrespective of any feeling of moral obligation to prefer it, that is the more desirable pleasure.“14

Kompetente Richter, also Personen, die sowohl höhere als auch niedere Freuden erfahren haben, entscheiden darüber, welche Kombination aus Quantität und Qualität einer anderen überlegen ist. Ganz bewusst betont Mill hier, dass die kompetenten Richter auch dann diese Kombination wählen werden, wenn diese Unzufriedenheit oder Schmerz mit sich bringt. Das heißt im Umkehrschluss, dass es einen Punkt gibt, an dem eine Einheit an Glück, egal wie intensiv sie auch sein mag, durch die Quantität an Schmerz irgendwann aufgewogen sein wird.15 Mill führt weiterhin aus, dass die höheren Freuden von Menschen nur wahrnehmbar sind, da wir höhere Fähigkeiten besitzen. Wie wichtig es nach Mill ist sich seiner höheren Fähigkeiten zu bedienen, kommt in folgendem Zitat zum Ausdruck:

„It is better to be a human being dissatisfied than a pig satisfied; better to be Socrates dissatisfied than a fool satisfied. And if the fool, or the pig, is of a different opinion, it is because they only know their own side of the question. The other party to the comparison knows both sides.“16

Es ist also von größerer Bedeutung, dass man sich seiner höheren Fähigkeiten der höheren Freuden willen hingibt, als dass man sich nur den niederen Freuden hingibt. Aber nur wer beide Arten von Freude wirklich kennt, versteht dies. Gemäß Mill ist die Ausübung der höheren Fähigkeiten, die zu höheren Freuden führt, der beste Weg glücklich zu werden. Glück beinhaltet zudem verschiedene Komponenten wie Freiheit und Macht, ein Gefühl der Sicherheit, aber auch charakterliche Ausgewogenheit.17 Mill ist Realist genug, um zu wissen, dass ein permanenter Zustand von Glück nicht möglich ist. Daher hält er ein Leben in dem sich Freude und Schmerz abwechseln, erstere jedoch klar die Oberhand behält, für ideal. Gründe, warum viele Menschen oftmals dennoch nicht glücklich sind, sind vor allem eine mangelnde Erziehung sowie fehlende soziale Arrangements. Aber auch die Tatsache, dass viele Menschen sich nur um ihr eigenes Wohl kümmern, trägt ihr übriges dazu bei. Mill gibt weiterhin zu, dass es durchaus Menschen gibt, die bewusst auf ein glückliches Leben verzichten und hierfür honoriert werden. Gemäß Mill sollte sich nur derjenige für solch ein Leben entscheiden, der dadurch ein größeres Glück erwirkt als er selbst Opfer bringt.18

Neben Mills Hauptwerk „Utilitarianism“, gibt es noch einige weitere Werke von großer Bedeutung. Der Essay „On Liberty“ ist hier besonders zu erwähnen. In diesem wendet er den Utilitarismus auf die Frage an, in welcher Beziehung Staat und Individuum zueinander stehen sollten. Er vertritt dabei einen klassisch liberalen Standpunkt.

Gemäß Mills Ansicht sollte man dem Individuum große Freiheiten gewähren. Erst, wenn die Freiheit des einen einen anderen schädigt, sollte sie eingeschränkt werden. Dies ist als „NoHarm Principle“ bekannt. Generell hat die Freiheit des Individuums bei Mill einen großen Stellenwert, er ist ein Befürworter von nonkonformistischen Lebensweisen und verurteilt Mittelmäßigkeit bzw. ein übermäßig angepasstes Leben. Er warnt zudem auch vor der „Tyrannei der Mehrheit“, die den Einzelnen in seiner Individualität zu Lasten der akzeptierten Verhaltensweisen in einer Gesellschaft einschränkt. Mill zufolge gibt es eine Privatsphäre, in der die Gesellschaft keinen direkten Einfluss haben sollte. Diese Sphäre beinhaltet vor allem die Gedanken- und Meinungsfreiheit, die Freiheit den Lebensstil zu führen, den man führen möchte, aber auch die Versammlungsfreiheit.19 Mill sagt hierzu explizit:

„[T]hat portion of a person’s life and conduct which affects only himself, or if it also affects others, only through their free, voluntary, and undeceived consent and participation.“20

Eben nur wenn das „No Harm Principle“ missachtet wird, darf es Einschränkungen in der Freiheit des Individuums geben. In Mills vielleicht berühmtesten Zitat aus „On Liberty“, betont er wie wichtig es ist, die Meinung des Andersdenkenden zu akzeptieren:21

„If all mankind minus one were of one opinion, and only one person were of the contrary opinion, mankind would be no more justified in silencing that one person, than he if he had the power, would be justified in silencing mankind.“22

Er wird dabei nicht müde zu betonen, dass auch wenn die landläufige Meinung in einer Gesellschaft noch so einhellig sein mag, sie niemals absolut wahr sein kann und es daher wichtig bzw. fruchtbar sein kann andere Meinungen zu akzeptieren.23 Zu guter Letzt geht Mill der Frage nach, wie weit die Freiheit des einzelnen en detail gehen darf bzw. wie weit Gesellschaft und Rechtssprechung gegenüber einem einzelnen gehen dürfen. Die Gesellschaft sollte nach Mill keine paternalistische Beziehung zu seinen Bürgern haben. Individuen sollten ungestört ihren Interessen nachgehen können, da sie selbst für sich am besten wissen, was sie wirklich interessiert und dann auch dementsprechend motiviert sind. Andererseits tragen die Individuen auch selbst das Risiko und die Verantwortung für ihre entsprechenden Handlungen. Nur, wenn die Handlungen einer Person, eine andere Person negativ beeinträchtigt, ist der Staat bzw. die Rechtsprechung befähigt einzugreifen.24

2.3 Hares Ethik

Nachdem nun der klassische Ansatz von Mill behandelt wurde, wird im folgenden Abschnitt die Moralphilosophie Hares dargelegt. Hare gilt als einer der einflussreichsten Philosophen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Philosophisch wurde Hare stark vom zu seiner Zeit populären Emotivismus25 geprägt sowie von der Philosophie Kants. Besonders bekannt wurde Hare allerdings durch seine Verteidigung des Utilitarismus, die er erstmalig 1976 in seinem Werk „Ethical Theory and Utilitarianism“ präsentierte und vollständig dann in seinem Werk „Moral Thinking“ 1981 darlegte.26 Die Kerninhalte seiner utilitaristischen Theorie sollen im Folgenden dargestellt werden.

Vom Emotivismus seiner Zeit beeinflusst übernahm Hare die zentrale These, dass die moralische Sprache letztlich eine nondeskriptive Bedeutung hat und beschäftigte sich ausgiebig mit der Frage in welchem Zusammenhang moralische Urteile mit den dazugehörigen beabsichtigten Handlungen stehen und welche Gründe es dafür gibt. Die Antwort des Emotivismus war für Hare aber nicht zufriedenstellend. Er sah dessen Hauptfehler darin, dass die Bedeutung der moralischen Sprache perlokutionär (der Sprecher möchte beim Hörer eine Wirkung erzeugen) anstatt illokutionär (der Sprecher möchte mit dem Hörer in Kontakt treten) verstanden wurden, worauf Hare selbst eine adäquatere Sicht entwarf wie moralische Urteile mit deren Handlungen und Gründen in Verbindung stehen.

Er entwickelte den sogenannten universellen Präskriptivismus. Gemäß Hare sind moralische Urteile typischerweise präskriptiv. Präskriptivität impliziert bei Hare immer auch, dass sofern man den moralischen Urteilen zustimmt, diese einen imperativen Charakter haben.

Hares Erklärung für die Verbindung zwischen moralischen Urteilen und Gründen ist, dass in jeder Aussage über nichtmoralische Tatsachen, die als Grund für ein moralisches Urteil dient, wir ein universales moralisches Prinzip implizieren. Z. B. wenn es darum geht, warum X getan werden sollte, impliziert die Tatsache dass X die Erfüllung eines Versprechens ist, dass alle Handlungen die dieses Versprechen erfüllen ceteris paribus getan werden müssen. Ein „moralischer Grund“ ist bei Hare so zu verstehen, dass dieser keine Referenz zu einem speziellen Individuum haben muss. Das ist was Hare in Anlehnung an Kant unter Universalisierbarkeit versteht. Die Tatsache, dass ein bestimmtes Individuum Mary Smith ist, kann kein moralischer Grund sein, warum John Smith seiner Mutter helfen sollte. Jedoch die Tatsache, dass die Beziehung zwischen John Smith und seiner Mutter, die eines Agenten und einer Person ist, die ihn zur Welt gebracht und großgezogen hat, ist ein moralischer Grund. Will man also gemäß Hare moralisch handeln, muss man in Einklang mit Präskriptivität und Universalisierbarkeit handeln. Insofern Universalisierbarkeit dazu anhält alle betroffenen Parteien zu berücksichtigen und Präskriptivität dazu was ein jeder möchte, können wir sehen warum Hare behauptet seine Analyse des moralischen Denkens sei eine formale Grundlage des Utilitarismus.27

In seinem Werk „Moral Thinking“ unterscheidet Hare zunächst zwei Ebenen, auf denen moralische Urteile gefällt werden. Die erste nennt er die intuitive Ebene, die zweite die kritische Ebene. Die intuitive Ebene ist dabei die Ebene, auf der wir unsere moralischen Urteile zumeist fällen. Als ein Ergebnis unserer Erziehung haben fast alle von uns moralische Prinzipien internalisiert, die mit starken Gefühlen und Verhaltensdispositionen verbunden sind. Im Alltag verlassen wir uns zumeist auf diese einfachen, spezifischen und intuitiven moralischen Prinzipien. Die meisten Personen wehren sich dagegen diese Prinzipien nicht zu befolgen bzw. fühlen sich bei Nichtbeachtung schuldig. Diese Prinzipien sind allerdings nur prima facie und nicht absolut. Denn beinahe jedes moralische Prinzip kann manchmal durch andere Prinzipien übergangen werden.

Die kritische Ebene funktioniert anders. Auf dieser Ebene wird über die intuitiven Prinzipien reflektiert. Man geht einen Schritt zurück, urteilt kritisch, verbessert oder verwirft sie letztlich. Als Utilitarist glaubt Hare, dass es essentiell ist auf dieser Ebene wie ein übermenschlicher Utilitarist zu denken. Das heißt wie jemand, der alle Folgen der möglichen Alternativen genauestens vorhersehen kann und in der Lage ist diese abzuwägen und zu vergleichen. Für diesen idealisierten Zustand zieht Hare die Metapher eines Erzengels heran, der absolut objektiv und unvoreingenommen ist.

Hare glaubt streng genommen, dass das moralisch richtig ist, was der Erzengel empfehlen würde. Da wir Menschen aber weit vom Ideal des Erzengels entfernt sind, müssen wir in der Realität uns auf intuitive Prinzipien verlassen.28 Die intuitive Ebene ist für Hare „...in fact an indispensable help in coping the world.“29 Hare merkt zudem an, dass durch das Bekenntnis zu intuitiven Prinzipien Gefahren wie Wunschdenken, Rationalisierung und Sonderwünsche verringert werden, die demjenigen auflauern, der versucht das utilitaristische Prinzip direkt auf sein Verhalten anzuwenden. Sobald wir zwischen verschiedenen intuitiven Prinzipien auswählen müssen, operieren wir auf dem kritischen Level. Daher müssen wir uns manchmal auf dieses kritische Level begeben, um Konflikte zwischen diesen Prinzipien zu lösen. Dies ist vor allem in besonders ungewöhnlichen Fällen und immer dann, wenn sehr viel auf dem Spiel steht, notwendig.

Hares Zwei-Ebenen-Utilitarismus ist somit eine kraftvolle Antwort auf die gängigsten Kritikpunkte gegen den Utilitarismus, z. B. der Utilitarismus könne nicht erklären, warum eine Person nicht für ein größeres Gut getötet werden darf. Denn eine Person die ein moralisches Prinzip wie „Du-sollst-nicht-töten“ internalisiert hat, wird nicht ohne Weiteres davon abweichen. Sogar, wenn sie oder er davon überzeugt wäre, dass die Tötung einer Person für sie bzw. ihn einen größeren Nutzen hätte, wäre diese Person nicht in der Lage ihr bzw. sein Gewissen zu ignorieren.30

Hares Zwei-Ebenen-Theorie trägt der Tatsache Rechnung, dass das Allgemeinwohl nicht dadurch maximiert wird, dass die Leute immer ihre Handlungen nach dem Nützlichkeitsprinzip ausführen. Wenn sie das nämlich tun, sind Fehler viel wahrscheinlicher, das Verhalten der Akteure wird weniger vorhersehbar und die Gesellschaft somit instabiler, als wenn ein jeder einfach bestimmten Regeln folgt. Daher ist es gut, dass die Verlässlichkeit auf intuitive moralische Prinzipien die Gelegenheit limitiert direkt das Nützlichkeitsprinzip anzuwenden. Hare betont, dass eine Person, die ein moralisches Prinzip verinnerlicht hat, niemals ohne weiteres dieses aufgeben wird. Nur, wenn mehrere Prinzipien konfligieren oder wirklich außergewöhnliche Umstände herrschen, kann dies der Fall sein. Aber die Person wird nicht danach Ausschau halten, wann sie denn das nächste Mal die Möglichkeit hat ein Prinzip zu brechen, genauso wenig wie sie gewillt sein wird ein Prinzip für ein wenig mehr Nutzen aufzugeben.31

[...]


1 Vgl. Wikipedia: „Individualrechte“.

2 Vgl. BVerfG 2006: S. 6.

3 Vgl. Driver 2014.

4 Vgl. Dufner 2012: S. 1 - 2.

5 ill , 59. 3571: ??? 339).hilosophy; thics"Vgl. Höffe 2008: S. 9 - 12.

6 Vgl. Driver 2014.

7 Vgl. Schefzyk 2015.

8 Vgl. Arrington 1998: S. 334.

9 Mill 1871: S. 15.

10 Vgl. Arrington 1998: S. 334 – 335.

11 Mill 1871: S. 10.

12 Vgl. Arrington 1998: S. 335 - 336.

13 Vgl. ebd.: S. 336 – 337.

14 Mill 1871: S. 12.

15 Vgl. Arrington 1998: S. 337.

16 Mill 1871: S. 14.

17 Vgl. Arrington 1998: S. 338.

18 Vgl. ebd.: S. 339.

19 Vgl. Arrington 1998: S. 356 - 357 .

20 Mill, S. 15.

21 ill , 59. 3571: ??? 339).hilosophy; thics" Vgl. Arrington 1998: S. 357.

22 Mill, S. 19 - 20.

23 Vgl. Arrington 1998: S. 358.

24 Vgl. Arrington 1998: S. 358 - 359.

25 Emotivisten denken, dass moralische Begriffe primär als grammatikalisch bestimmte Äußerungen funktionieren, um Emotionen auszudrücken und um ähnliche Emotionen bei anderen auszulösen. Weitere Informationen zum Emotivismus sind hier zu finden: http://plato.stanford.edu/entries/moral-cognitivism/#Emo

26 Vgl. Price 2014.

27 Vgl. Hudson 1988: S. 9 - 13.

28 Vgl. Shaw 1999: S. 159 - 160.

29 Hare 1981: S. 36.

30 Vgl. Shaw 1999: S. 160-161.

31 Vgl. ebd.: S. 163 - 164.

Final del extracto de 16 páginas

Detalles

Título
Das Bundesverfassungsgerichtsurteil zum Luftsicherheitsgesetz. Utilitaristische Ethiken im Spannungsfeld der Individualrechte
Universidad
University of Bayreuth
Calificación
2,3
Autor
Año
2015
Páginas
16
No. de catálogo
V775849
ISBN (Ebook)
9783346201560
ISBN (Libro)
9783346201577
Idioma
Alemán
Palabras clave
Individualrechte, Utilitarismus, Ethik, Mill, Hare, Konsequentialismus
Citar trabajo
Yves Mahler (Autor), 2015, Das Bundesverfassungsgerichtsurteil zum Luftsicherheitsgesetz. Utilitaristische Ethiken im Spannungsfeld der Individualrechte, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/775849

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